Peter Sloterdijks „Was geschah im 20. Jahrhundert?“ ist eine Sammlung bereits publizierter Aufsätze, die ihn als funkelnden Analytiker der Globalisierung zeigt. Er geißelt die Plünderung des Planeten als „energetischen Faschismus“ und sieht die Raumfahrt als Weg zum „Weltgewissen“.
„Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt“. Als der Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich mit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels abrechnete, war ihm ein Aufschrei der Empörung sicher. Wegen Sätzen wie „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben“, warf ihm sein Kollege Richard David Precht „Nazi-Jargon“ vor.
Dass der 1947 geborene Wissenschaftler, lange Jahre Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, etwas voreilig in die Garde Ressentiment geladener alter Männer um Botho Strauß und Rüdiger Safranski einsortiert wurde, zeigt Sloterdijks neues Buch. Formuliert er darin doch die besseren Einsichten, die er bei seinen publizistischen Eruptionen offenbar vergisst.
In zwei brillanten Analysen der Globalisierung beschreibt Sloterdijk etwa die Erwartung eines Weltalters, „in dem
schwache Grenzen und durchlässige Außenhäute das prägende Merkmal von sozialen Systemen werden“. Und erinnert die Europäer, einst Herren des Globus, daran, dass sie jetzt eben mit dem „Gegenverkehr der Anderen“ rechnen müssen.
„Energetischer Faschismus“
In dem Aufsatz „Das Anthropozän“ räumt er mit der Idee auf, die Natur und der Planet seien ein „grenzenlos belastbares Außen“, geißelt den „energetischen Faschismus“ und fordert ein neues „Erdenbürgertum“. Gegen die funkelnde Stringenz solcher Analysen lesen sich die Traktate der amerikanischen Globalisierungskritikerin Naomi Klein wie staubige Argumentationsübungen.
Auf Sloterdijks latenten Populismus stößt man erst wieder, wenn er aus einer luziden Entschlüsselung der Figur des Odysseus als paradigmatischem „Heimkehrer“ glaubt, schlussfolgern zu können, die Europäer seien ein „Volk von Lotusessern“, die „bereit sind, sich von ihrer eigenen Überlieferung loszusagen“.
Der Buchtitel „Was geschah im 20. Jahrhundert?“ ist etwas irreführend. Zwar nimmt sich Sloterdijk von der Öko-Krise bis zum Grundgesetz so ziemlich alle Weltprobleme vor. Der Band ist aber keine aktuelle Generalanalyse, sondern eine überarbeitete Neuauflage bereits publizierter Aufsätze und Reden. Ihrer Qualität tut das keinen Abbruch.
Bilanz gescheiterter Utopien
In dem titelgebenden Aufsatz bilanziert der Philosoph die blutig gescheiterten Utopien des vergangenen Saeculums. Weil es dennoch notwendig sei, eine Überlebensvision für die Menschheit zu entwickeln, kommt er zu dem nachvollziehbaren Paradox eines „Messianismus ohne Messianismus“. Und prophezeit eine „hybride Synthese aus technischem Avantgardismus und ökokonservativer Mäßigung“.
Als „exzentrische Beobachtung“, die zum „Weltgewissen“ befähige, versteht Sloterdijk die bemannte Raumfahrt in einem gerade mal achtseitigen Aufsatz zur „Philosophie der Raumstation“. In Miszellen wie dieser demonstriert der Mann die Stärke seiner ironischen Vernunft gegen die extremistische, die er die technisch-industrielle Zivilisation entfesseln sah.
Es hat also doch seine Vorteile, Grenzen hinter sich zu lassen.
Ingo Arend
Peter Sloterdijk:
Was geschah im 20. Jahrhundert?
Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft
Suhrkamp Berlin 2016
248 Seiten
26,95 Euro
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