Als am 16. September 2008 die New Yorker Investment-Bank Lehman-Brothers zusammenbrach, fühlten sich nicht wenige an die Weltwirtschaftskrise am Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in den USA erinnert. Ist der Kapitalismus jetzt am Ende? Das fragten sich damals viele. Gut zwei Jahre später ist die brisante Systemkrise fast vergessen. Das Ergebnis der jüngsten Wahlen zum amerikanischen Kongress, bei denen Sozialhilfeempfänger dafür gestimmt haben, den Wohlfahrtsstaat zu beschneiden und der Industrie Steuern zu erlassen, ließe sich mit dem Slogan übersetzen: Wir wollen unseren guten alten Kapitalismus wieder haben.
Die Wahlen sind ein Beweis für die erstaunliche Überlebensfähigkeit eines nicht zum ersten Mal in Verruf geratenen Systems. Dem es aber immer wieder gelingt, kulturelle, sprich: ideologische Ressourcen zur Selbsterhaltung zu mobilisieren. Ob die Künstler Konrad Lueg, Gerhard Richter und Sigmar Polke ihm heute wieder eine Aktion widmen würden wie zu Beginn der sechziger Jahre? „Kapitalistischer Realismus“ nannten sie im Oktober 1963 ein legendär gewordenes Happening im Düsseldorfer Möbelhaus Berges. Damit wollten sie sich vom „Sozialistischen Realismus“ abgrenzen. Irgendwie konnte man aus der Performance zwischen Nierentischen, Fernsehgeräten und Kleidern von Joseph Beuys aber auch eine ironische Distanzierung von der Konsumkultur des Kapitalismus herauslesen. Doch immerhin warben sie für, wie es damals hieß, ein „Leben mit Pop“.
Das Motto der in die Kunstgeschichte eingegangenen Aktion stand im Sommer des vergangenen Jahres über einer Ringvorlesung an der Wiener Universität, die das ehrgeizige Ziel hatte, „Ethik, Ästhetik und Ökonomie in der Gesellschaft der Gegenwart“ einer umfassenden Analyse zu unterziehen. Nachgelassene Reader solcher Vorlesungen sind oft mehr eine Steilvorlage für das Archiv, als dass sie für‘s reale Leben taugen. Doch der von dem Initiator der Reihe, dem Soziologen Sighart Neckel, herausgegebene Band, macht eine Ausnahme von dieser Regel. Denn er beschreibt die Veränderungen an der Benutzeroberfläche des realexistierenden Wirtschaftssystems ebenso hervorragend, wie er sie theoretisch gut auf den Punkt bringt. Man schaut nach der Lektüre von „Kapitalistischer Realismus“ genauer in die kolonisierten Lebenswelten von heute. Und hält die These von dem „kulturellen Kapitalismus“, zu dem er sich gewandelt haben soll, für absolut plausibel. Und zwar, weil das abgedroschene Schlagwort von der „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ in vielen Beiträgen so plastisch wird.
Der Jenaer Soziologe Jörn Lamla etwa weist seine Wirksamkeit am Beispiel der Social Networks nach. Lamla zeigt, wie die symbolische Logik wechselseitiger Anerkennung, die als Motor des Mitmachens bei Facebook, MySpace und anderen Plattformen wie StudiVZ wirkt, unterschwellig von der ökonomischen Logik des Profits durchdrungen ist. Die Selbstpräsentation im Netz folgt nämlich immer auch dem Imperativ der (Selbst-)Vermarktung. Die Wiener Philosophin Andrea Roedig liest aus der Dingwelt der Drogerieketten und Heimwerkermärkte eine Art Kapitulation vor dem Verlust der Utopie. Badesalz, Kajalstift und Schraubenzieher fungierten als Seelentröster und symbolische Selbstergänzung von Menschen, die ihre uneingestandenen Ängste abwehren wollen. Und dem Wiener Soziologen Michael Parzner gelingt am Beispiel der popmusikalischen Vorlieben des Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg der Beweis, wie es den Protagonisten des nicht mehr ganz taufrischen Bürgertums mit der Ausbildung eines – wie es Parzner nennt – „grenzüberschreitenden Geschmacks“, gelingt, einerseits beim Volk beliebt zu werden, sich anderseits aber wieder neu als distinktionsbereite Klasse zu etablieren.
Dem einhelligen Befund fast aller Beiträger, dass sich der real existierende Kapitalismus heute noch den widerständigsten Rest von Subversion einzuverleiben vermag, ist kaum zu widersprechen. Wenn der Künstler, lange Zeit der Rebell gegen das System schlechthin, heute das role model für den Unternehmer, neudeutsch: den Entrepreneur abgibt, weil beide eine Art „schöpferische Zerstörung“ im Sinne des österreichischen Ökonomen Josef Schumpeter anstreben. Wenn Autonomie, Kreativität und Selbstverwirklichung zur conditio sine qua non der kapitalischen Ökonomie geworden sind, dann ist die Frage mehr als berechtigt, von wem dann eigentlich noch Opposition gegen eine Wirtschaftsform ausgehen soll, die uns auch als Lebensform, bis in die tiefsten Verästelungen unseres Alltags, prägt.
Nur an dieser heiklen Stelle scheint die Perspektive des lesenswerten Bandes kulturalistisch getrübt. Denn leider klammert sie das, was immer noch organisierte Interessenvertretung heißt, aus ihrer Analyse aus. Einzig der Frankfurter Pädagoge Frank-Olaf Radtke streift das Stichwort transnationale Protestbewegungen wie attac in seinem Ausblick auf die Zeit nach dem Neoliberalismus. Arbeit und Natur aus diesem alles unterwerfenden Prinzip wieder herauszulösen, wie es die Berliner Ökonomin Birgit Mahnkopf fordert oder die außer Kontrolle geratene Finanzbranche zu zivilisieren, wie es der Chefredakteur der Zeitschrift Leviathan, Reinard Blomert, anmahnt, mag zwar auch eine Kulturleistung sein. Diese Jahrhundertaufgabe wird aber nur gegen materielle Widerstände durchzusetzen sein.
Was die Lebensstile der Postmoderne anbetrifft, wirft der „Konformismus des Andersseins“, den der Hallenser Soziologe Ulrich Bröckling konstatiert, ein echtes Dilemma auf. Doch das Problem, keine systemkritische Haltung mehr einnehmen zu können, weil sie der Kapitalistische Realismus ja doch wieder umgehend in eine lukrative Marktchance verwandelt, könnte die scheinbar unpolitischen Tugenden der Indifferenz und des Abwartens zu neuer Blüte kommen lassen, wie sie Bröckling aus Jacques Derridas Konzept der differànce destilliert. Oder die Strategie der paradoxen Interventionen. Fundamentalisten mag eine Aktion wie die der „prekären Superhelden“, die im April 2006 Luxuslebensmittel aus einem Hamburger Feinkostladen an Bedürftige verteilten, wie eine Kapitulation vor der großen Schlacht gegen „das System“ vorkommen. Zumindest stört sie die fraglose Ordnung der Dinge mehr als die Kunstaktion von Richter & Co. 1963. Ihr Motto: Irritiert den Kapitalistischen Realismus, wo ihr ihn trefft!
Text: Ingo Arend
Sighart Neckel: Kapitalistischer Realismus.
Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik.
Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2010,
308 S., 29,90 EUR
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