Schule des Sehens: Peter Betthausen hat eine aufschlussreiche Biografie des Kunsthistorikers Ludwig Justis und der Berliner Nationalgalerie geschrieben
Kathedrale der Gegenwart. Dieses Stichwort fällt mit schöner Regelmäßigkeit, wenn es um das Kunstmuseum in der Massenkultur von heute geht. So wie die profane Andacht des sonntäglichen Museumsbesuchs den Gang in die Kirche oder das Fußballstadion zu ersetzen beginnt, taugt diese Charakterisierung. Doch trotz seines Siegeszugs ist der Status des Kunstmuseums prekärer denn je. Denn hinter dem Drang zum spektakulären Event oder seinem Umfunktionieren zum formalen und inhaltlichen Workshop droht sein historischer und reflexiver Auftrag verloren zu gehen.
Und was wäre eigentlich die Rolle dieser Bilderbewahranstalt in einer Gesellschaft, die fast nur noch über Bilder kommuniziert?
Ganz abwegig ist der Gedanke nicht, bei der Suche nach einer Strategie für das Museum des 21. Jahrhunderts bei einem Mann nachzuforschen, der kaum als Mann des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Und der seit mehr als 50 Jahren tot ist. Denn Ludwig Justi, der legendäre Direktor der Berliner Nationalgalerie, hat wie kaum ein anderer deutscher Museumsmann Museums- und Nationalgeschichte geschrieben. Schließlich stand er einer Institution vor, die wie kaum eine andere die kollektiven Fantasien der Deutschen kanalisierte und prägte. Und damals auch noch nicht mit den Agenten von Multimedia konkurrieren musste.
Der 1867 in Marburg als Sohn des Orientalisten Ferdinand Justi Geborene war – mit einer Unterbrechung – über vierzig Jahre Chef der Nationalgalerie. Nicht umsonst spricht sein Biograf Peter Betthausen, in der Umbruchphase von 1985-1990 selbst Chef dieses Hauses, von der „überragenden historischen Bedeutung“ Justis. Hugo von Tschudi, sein direkter Vorgänger, war sehr viel kürzer im Amt, aber bekannter. Seit Kaiser Wilhelm II. den Abgang des Schweizer Edelmannes erzwang, weil er die Impressionisten in das als Preußischen Ruhmestempel erbaute Hause eingeführt hatte, strahlt Tschudi als Held der französischen Avantgarde in Deutschland. Im Lichte von Betthausens fundierter Biografie wird man aber wohl sagen müssen, dass Justi die Nationalgalerie der Moderne womöglich weit nachhaltiger geöffnet hat.
Kurz nach Amtsantritt im November 1909 reduzierte Justi die Sammlung des Berliner Kaufmanns Wagener, aus der die Nationalgalerie entstanden war, auf die qualitätsvollen Stücke. Er beförderte die preußisch-deutschen Historienporträts und die Schlachtenbilder der Kriege 1864 bis 1870 von der Nationalgalerie in die Bauakademie. Unter seiner Ägide kamen die Expressionisten in das Haus, das „Der Deutschen Kunst“ gewidmet war. Franz Marcs (heute verschollenes) Bild Turm der blauen Pferde machte den Anfang. Und Justi gelang der Coup, das Kronprinzenpalais nach der Revolution von 1918/19 zu einem vielbesuchten „Museum der Gegenwartskunst“ umzuwidmen.
Der Fortschrittsfront, bestehend aus Max Liebermann, seit 1920 Präsident der Akademie der Künste und dem Kunsthändler Bruno Cassirer, war das alles viel zu wenig. Auch der linksliberale Kunstkritiker Karl Scheffler schonte den ungeliebten Justi nicht. Die Frontlinie des damaligen Streits mutet heute bizarr an. Denn diese Fortschrittler meinten mit Moderne ausschließlich die Impressionisten. Für die Expressionisten hatte Liebermann dagegen nur das Wort von der „unreifen Kunst“ übrig. Während Justi seinerseits die Impressionisten als „Dekadenzphänomen“ abtat.
Seine „Modernisierungserfolge“ sind einigermaßen verwunderlich. Denn kunsthistorisch war Justi in der Renaissance zu Hause. Er hatte über Albrecht Dürer promoviert und habilitiert. Als Professor in Halle und kurzzeitiger Direktor des Frankfurter Städels forschte er über den Renaissance-Maler Giorgione. Eine Arbeit, in die er sich wieder während der von den Nazis erzwungenen Auszeit von 1933 bis 1946 vertiefte. Nach der Arbeit in der Nationalgalerie tagsüber zog er sich nachts oft zu Arbeiten über diese Periode zurück. Programmatisch hielt der Mann sich auffällig zurück. Betthausen vermerkt erstaunt, dass Justi in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit keinen kunsthistorischen Grundlagentext publiziert habe.
Das war womöglich Berechnung. Bot er doch so weder dem Hof noch der preußischen Kulturbürokratie Angriffspunkte. Hätte er es getan, wäre sein Zickzackkurs offenbar geworden. Von dem „neuen geistigen, antimaterialistischen Weltalter“, das er 1920 in einem Aufsatz über El Greco beschwor bis zu dem Leitsatz aus dem DDR-Jahr 1952: „Kunstwerke entstehen auf der Grundlage gesellschaftlicher Voraussetzungen“ reicht die Spanne seiner Haltungen, die Justi stets den Vorwurf eintrugen, ein aalglatter Karrierist zu sein. Bis heute befremdlich mutet sein Versuch an, Vincent van Gogh dem „nordischen Stil“ zuzuschlagen. Auch seine Räsonnements über den „germanischen Geist“ in der Kunst vermochten nicht, ihn den Nazis genehmer machen.
In dieser merkwürdigen Mischung aus Opportunismus und Elitismus kann Justi für Museumsleute heute also kein Vorbild mehr sein. Schon gar nicht in seinem Konservatismus, der auch schon den Rezensenten seiner, vor gut zehn Jahren erschienenen, Lebenserinnerungen aufgefallen war. Auch Betthausen erkennt resigniert, dass die Alten Meister „sein liebster Umgang“ waren. Die heraufdämmernde Abstraktion blieb ihm fremd. Bis zu seinem Tod 1957 „verlor er auch nie den Glauben an die Abbildfunktion der Kunst“, resümiert Betthausen. Und mit Justis formalistischem Credo von der „formklaren Gestaltung ernster Gedanken“ wäre in der Postmoderne nun überhaupt kein Blumentopf zu gewinnen. Wenn Udo Kittelmann, experimentierfreudiger Chef der Nationalgalerie heute, etwas von Justi lernen könnte, dann –neben dem geschickten Umgang mit Sammlern, die nicht erst seit Friedrich Christian Flick die Museumspolitik maßgeblich prägten – die historische Gelassenheit, mit der er Stile kommen und gehen sah. Betthausen lobt an ihm, dass er auch die Moderne als „ein kunsthistorisches Kapitel mit Anfang und Ende, wie es viele gegeben hat“ ansah.
Schule des Sehens hat Betthausen seinen Band nicht umsonst genannt. Den Titel hat er der Ausstellung entlehnt, die Justi als Generaldirektor der Staatlichen Museen Ost-Berlin 1950 in den Räumen der wieder hergestellten Nationalgalerie ausrichtete. Die DDR versicherte sich mit der Wiedereinsetzung der Symbolwirkung eines Opfers des NS-Regimes. Ersparte ihm aber nicht die Schmach, 1953, auf dem Höhepunkt des Formalismus-Streits, Teile der (expressionistischen) Moderne aus einer seiner Ausstellungen entfernen zu lassen.
Auch wer Justis Erbe nach Verwertbarem für Strategien der visuellen Kompetenz in der Bildergesellschaft von heute durchforstet, dürfte Betthausens flüssig geschriebenen Band, der Institutionsgeschichte und Biografie überzeugend verbindet, enttäuscht zur Seite legen. Schon seinen Nationalgalerie-Führer aus dem Jahr 1920 hatte der „Augenmensch“ Justi als „Anleitung zum Sehen“ verstanden wissen wollen. Den damit intendierten Elementarunterricht im Betrachten aber auf so schwammige Begriffe wie „Aufbau“, „Sachlichkeit“ und „gute Malerei“ gestützt. 27 Jahre später fordert er Besucher einer Ausstellung im Berliner Zeughaus auf, nicht zu fragen, „sondern schauen, geruhsam und hingebend schauen“. Die Idee einer Sehschule ist angesichts der Übermacht der Bilder dringlicher denn ja. Doch mit diesem Vokabular käme heutzutage kein Bachelor oder Master in ein Doktorandenkolleg der Visual Studies.
Die zeitgenössische Kunstgeschichte versucht sich mit dem Label „Kunstwissenschaft“ an der Quadratur des Kreises. Insofern, als sie Mechanismen der Geschmacksbildung und Bildfindung zu objektivieren sucht, die sich aus höchst subjektiven Energien speisen. Betthausen lobt an Justi den Primat des „sinnlichen Erfassens“. Zu Zeiten der digitalen Revolution wäre auch dies ein Desideratum von höchster Aktualität. Doch mit den naiven Begriffen, in denen Ludwig Justi es seinerzeit ausdrückte, dürfte sich das Kunstmuseum der Zukunft kaum behaupten können.
Text: Ingo Arend
Peter Betthausen: Schule des Sehens.
Ludwig Justi und die Nationalgalerie.
Matthes und Seitz, Berlin 2010, 400 S., 29, 90 EUR
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