Simon Froehlings literarisches Debüt spielt zwar sehr explizit in der Homosexuellenszene – ist dabei jedoch eindeutig mehr als ein „Szeneroman“, da es mit feiner Symbolik von universellen seelischen und sexuellen Traumata erzählt.
„Achtung! Blank macht krank. Sex ohne Kondom ist gefährlich. Besucher des Chatforums für Schwule, Homo.de, bekommen es seit einiger Zeit mit Sexualpädagogen zu tun. Denn in dem virtuellen Chatroom werden schon mal Sexualpraktiken angeboten, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eher nicht so gern sieht. Wer dort seiner sexuellen Fantasie allzu freien Lauf lässt, muss damit rechnen, dass ihm beim Gebrauch bestimmter Synonyma für den „ungeschützten Verkehr“ ein Algorithmus einen Strich durch die Rechnung macht. Dann durchschießt nämlich der zitierte Warnhinweis den gerade begonnenen Satz. Raucher wissen um die Durchschlagskraft solcher Parolen. Eines zeigt die Maßnahme allerdings: Die Angst sitzt tief.
Vor diesem Hintergrund ließe sich Simon Froehlings Debüt-Roman Lange Nächte Tag als Versuch über die Liebe in den Zeiten der Angst lesen, was meint: in den Zeiten von AIDS. Denn der Roman handelt wesentlich von der Angst um die Ansteckung mit dem Virus. Der junge Journalist Patrick Troesch, gerade 30 Jahre alt geworden, lernt beim Yoga den hübschen, ungefähr gleichaltrigen Jirka kennen, der sich später mit Aids infiziert. Ich habe Angst! – Jirkas Warnhinweis, den Patrick bei einer ihrer Begegnungen überhört, und sein schließliches Bekenntnis: Ich habe mich angesteckt! – das sind die zwei Seiten des Damoklesschwerts, das heute über jeder Liebe, nicht nur über der von Homosexuellen schwebt. Jetzt müssen die beiden frisch Verliebten zeigen, ob und wie sie mit dieser Bedrohung, dem Schatten des Todes, der sich über ihre kurze Beziehung legt, umgehen.
Eine Generation, für die der schnelle Sex im Pornokino so selbstverständlich ist wie der Besuch im Spielsalon. Manche Protagonisten tragen einen Cockring, die meisten schnupfen weißes Königspulver in Klokabinen. Auch die berühmten Blauen Seiten der Internetplattform Gayromeo haben in diesem Roman – leicht verfremdet als Blauer Salon – eine Zentralfunktion. Das klingt nach „Szeneliteratur“. Doch es macht die Qualität dieses Romans aus, dass er mehr bietet als äußerste Zeitgenossenschaft.
Mehr als ein Szeneroman
Denn Jiri und Patricks Nähe-Distanz-Problem ist nicht die übliche Kalamität derjenigen, die sich angesichts eines Überangebots an sexuellen Möglichkeiten wählerisch alles so lange wie möglich offen halten wollen. Patrick Beziehungsangst rührt aus seiner Familiengeschichte her, dass sich seine Liebe zu Jiri oft jäh in sexuelle Aggression verkehrt, aus einem lange zurückliegenden Erlebnis mit zwei Mitschülern. Zwanghaft agiert er dieses erotische Trauma immer wieder aus. Der Protagonist in Froehlings Roman ist nicht nur einfach schwul. Er ist ein Mensch, bei dem die Tradition der vorhergehenden Geschlechter, so schrieb es Karl Marx, „wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden“ lastet.
Wie die meisten Debütanten geht auch Froehling bei seinem Erstling nach der Maxime vor, „seine eigene Geschichte als die Geschichte eines anderen Menschen zu erzählen“. So hat der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk einmal die Funktion des ersten Romans beschrieben. Wie der junge Patrick ist auch Simon Froehling, Jahrgang 1978, geboren in Brugg, im Schweizer Kanton Aargau, einmal Wirtschaftsjournalist gewesen. Und wie der Protagonist seines Romans, hat der Autor, der heute in Zürich und Berlin lebt, einen angelsächsischen (Familien-)Hintergrund.
Von solchen Ähnlichkeiten sollten sich Leser so wenig beirren lassen wie durch Konventionelles. Lange Nächte Tag ist ein Coming-of-Age-Roman, wenn sich Patrick an den weißen Schleim erinnert, als er zum ersten Mal onaniert. Und ein Coming-Out-Roman, wenn er nach dem plötzlichen Unfalltod der großen Schwester seinen damaligen Freund Urs zur Beerdigung mitnimmt, um seine Mutter zu provozieren. Doch Froehling setzt immer wieder feine Symbolik ein: den Gayromeo-Nickname OpenHouse parallelisiert er über den semantischen Umweg des Höllenhauses mit Auguste Rodins Skulptur Höllentor, die Rainer Maria Rilke als das „Gewühl der Wollüstigen“ bezeichnet hat. Und mit den Namen seiner Protagonisten – Georg und Patrick – ruft er das Bild zweier unheiliger Heiliger auf, in dem sich auch heterosexuelle Leser wiedererkennen können.
Eher dramatische Versuchsanordnung denn Roman
Besonders gut hat Froehling das „Vorgestellte“, von dem Pamuk spricht, da in eine kohärente Form gegossen, wo sich Vergangenheit und Gegenwart in Rückblenden durchdringen. Trotzdem gleicht sein Buch mehr einer dramatischen Versuchsanordnung als dem Roman, als der er sich ausgibt. Lange Nächte Tag ist ein existenzialistisches Kammerspiel für zwei, grenzt an eine Parabel. Nicht zufällig hat Froehling den schönen Satz Herein, ich habe mich aufgehängt aus Albert Camus‘ Die Pest seinem Buch als Widmung vorangestellt. Das szenische Schreiben beherrscht dieser Debütant, der eigentlich gar keiner mehr ist. Schon 2006 hat ihn die Zeitschrift Theater heute zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt.
Bei einigen Stellen könnte sanfteren Gemütern vielleicht wirklich „der Atem stocken“, wie es der Klappentext reißerisch behauptet. Doch Lange Nächte Tag ist nicht der erste schwule Roman, in dem es heiß hergeht. 1956 löste Gilgamesh, der Roman von Froehlings schwulem Landsmann Guido Bachmann, einen Literaturskandal in der Schweiz aus. Darin wirft der Tod seines Geliebten den künstlerisch begabten Gymnasiasten Roland aus der Bahn. Und Alan Hollinghursts 2005 erschienenes Meisterwerk, Die Schönheitslinie, ein Sittenpanorama des Londons der 80er Jahre, ist durchzogen von einer Spur aus Sex und Drogen.
Wie bei Hollinghurst, wo Schönheit und Verderbtheit spiegelbildlich nebeneinander stehen, macht der Kontrast von Zärtlichkeit und Brutalität die Anziehungskraft von Lange Nächte Tag aus. Und Froehlings suggestive Sprache treibt den spannenden Plot voran. Die Lust, mit der dabei diverseste Tabubrüche aufgerufen werden, sollten Sexualpädagogen nicht überbewerten. Wer ein Buch liest, in dem ungeschützter Verkehr vorkommt, sündigt ja noch nicht, sondern er liest. Und dessen literarische Beschwörung ließe sich auch als symbolische Grenzüberschreitung gegen die Domestizierung des Sex im Gefolge von Aids lesen, samt der moral correctness in ihrem Schlepptau.
Sieht man von dem manchmal etwas pathetischen Ton des Ich-Erzählers ab, übt sich Froehling in einem vergleichsweise unaufgeregten Umgang mit einer Jahrhundertkrankheit. Weder dämonisiert er sie als Strafe Gottes für die Sünder auf Erden, noch verfällt er in die martialische Sprache, gegen die Susan Sontag in ihren Essays Krankheit als Metapher und Aids und seine Metaphern polemisierte. Wenn sich Patrick Jiris Krankheit als „fiesen kleinen Leuchtballen“ vorstellt, klingt das eher ironisch als nach der Identifikation eines „viralen Feinds“. Doch so, wie Froehling Sontags „Krankheit ohne Bedeutung“ wieder in die Nähe eines magischen Rituals rückt, beschwert er sein gelungenes Debüt am Ende unnötig mit einem sexualpädagogischen Unterton.
In einer schizoiden Verschmelzungsfantasie lässt er auch Patrick sich in genau dem „Höllenhaus“ infizieren, in das Jiri geflüchtet war, als Patrick ihn nach der ersten gemeinsamen Nacht grußlos verließ: „Jetzt sind wir uns gleich“ durchzuckt es ihn nach dem orgiastischen Delirium. Ob das drastische Bild der Abschreckung dienen soll oder zur Nachahmung einlädt, bleibt zum Glück einigermaßen offen. Die Literatur lädt zwar zum imaginären Rollenspiel ein. Als Ratgeber, gar als Warnhinweis taugt sie aber nicht.
Text: Ingo Arend
Simon Froehling: Lange Nächte Tag
Bilgerverlag, Zürich 2010
190 Seiten, 21,90 Euro
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