Man rät nur zweimal
Die Frau atmet aus. Sichtbar. Kalt muss es im Keller sein, wo sie Wein holen will, mit dem Gatten auf die Ehrentafel anzustoßen, die die Stadt ihm verliehen. Der Gatte, Malcolm Crowe (Bruce Willis), ist Kinderpsychologe, hat vielen kleinen Patienten geholfen. Einem nicht, Vincent, der steht später in Crowes Bad, zehn Jahre größer, nackt. Er weiß, wie das ist, in Angst zu leben, sagt Vincent. Dann schießt er. Zweimal. Crowe liegt auf dem Bett, hält sich seine Wunde.
Einige Zeit ist vergangen, als wir Crowe wieder sehen. Er hat einen neuen Patienten, den neunjährigen Cole (Haley Joel Osment), ein Scheidungskind, das keine Freunde hat und von den anderen Psycho gerufen wird. Cole hat ein Geheimnis, das er dem Arzt Crowe anvertrauen wird, seinen sechsten Sinn: Er kann Tote sehen. Immer, in der Schule, zu Hause, immer, wenn es kalt wird.
Die Kälte ist ein Leitmotiv, um das „Der sechste Sinn“ des jungen indisch stämmigen Regisseurs und Drehbuchautors M. Night Shyamalan beständig kreist. Sparsam die Ausstattung, zurückgenommen das Spiel der Darsteller, selbst das des sonst so lauthalsen Willis, gemäßigt das Tempo – und doch leitet sich daraus kein Vorwurf ab. Eher das Gegenteil. Denn mit beachtenswerter Stringenz wird die Geschichte ausgebreitet, deren Einfachheit zudem das Grauen stärker haften lässt, wenn es von Zeit zu Zeit hinüberhuscht. Der Grusel kommt auf leisen Sohlen. Geschlossen präsentiert sich die Inszenierung und uns am Ende, wenn es sentimental werden soll, einen ordentlichen Clou.
Crowe indes begreift seine zweite Chance, er sieht die Parallelen zu Vincent, und er will schaffen, was einst misslang: dem Jungen die Angst nehmen. Um jeden Preis, auch einen privaten, nämlich dass er sich von seiner Frau entfernt, sehr weit.
Und Crowe weiß Rat. Er hat Cole verstanden, wie sonst keiner, und weil es andersrum auch so ist, geht Crowe nach Haus‘, dem Rat des Jungen zu folgen und zu seiner schlafenden Frau zu sprechen, wenn sie ihm zuhören muss. Und wie er ihr von seiner Liebe redet, da atmet die Frau aus. Sichtbar.
Text: Henryk Goldberg
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