Claude Chabrols nonchalanter Ekel
Die Kamera geleitet uns durch dieses Haus. Durch die Vorhalle, die Treppe hinauf, einen Gang entlang, eine Tür hindurch. Da sitzt eine junge Frau, im nächsten Zimmer liegt ein toter Mann. Dieses Haus scheint dunkel, seine Wege verworren, doch die Kamera bewegt sich mit der Sicherheit eines Fremdenführers, der seinen Gästen mit Noblesse zum wiederholten male die ihm vertrauten Stätten zeigt, sie die verwinkelten Gassen entlanglaufen lässt, ehe er ihnen, freundlich seine Langeweile verbergend, den ihm längst geläufigen Plan des Labyrinths enthüllt.
Der 73-jährige Claude Chabrol debütierte 1958 mit „Die Enttäuschten“ und seither hat er etwa 50 Filme inszeniert. Und die Mehrheit von ihnen erzählt Geschichten von der Lebenslüge der französischen Bourgeoisie, von Schuld und Verdrängung. Wenn über Woody Allen gesagt wird, er erzähle den im Grunde immer gleichen Film, so gilt dies in gewisser Weise auch von Claude Chabrol. Vielleicht rührt es daher, dass „Die Blume des Bösen“ beinahe ein wenig milde erscheint: Ihr Regisseur hat sie schon so oft erzählt, dass sie ihn nicht mehr wirklich erregt.
Francois Vasseur kehrt nach vier Jahren aus den USA zurück. Die Begrüßung durch seinen Vater Gerard ist oberflächlich und beiläufig. Seine Stiefschwester Michelle hingegen hat die Jahre auf ihn gewartet, sie fahren sogleich in das Landhaus der Familie, um endlich ein Paar zu werden. Michelle ist die Tochter von Anne, die gerade für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Anne und Gerard hatten geheiratet, nachdem ihre jeweiligen Partner, Gerard Bruder war Annes Mann, bei einem Autounfall ums Leben kamen. Und Annes Großvater wurde von seiner Tochter erschossen, weil er für die Nazis Deportationslisten erstellte und seinen eigenen Sohn an die Gestapo auslieferte. Den Bruder, den seine Schwester liebte, so wie Michelle Francois liebt. Die Mörderin ist Tante Line, der gute Geist des Hauses. Und jetzt wiederholt sich die Geschichte, wieder wird eine junge Frau, mit Gründen, ihren (Stief)-vater töten. Und Tante Line, die für ihren Mord nicht belangt wurde, wird jetzt eine fremde Schuld auf sich nehmen. Eine Art von Sühne. So wiederholt sich in dieser Familie über die Generationen hinweg das Motiv von Schuld und Sühne. Die Widergeburt der antiken Atriden in den Farben des französischen Mittelstandes.
„Die Zeit existiert nicht“ sagt Tante Line (Suzanne Flon in der konzentriertesten Schauspielerleistung) einmal. Sie sagt es mit der Erfahrung des Alters und der der sich wiederholenden Schuld, doch gilt das in gewisser Weise auch für diesen Film. Denn Claude Chabrol inszeniert meisterlich, ein gediegenes Interieur, komponierte Bilder und Perspektiven, die Leichtigkeit des Seins an der schönen Oberfläche – doch könnte dieser Film, in seiner Ästhetik wie in seiner erzählerischen Grundhaltung, auch dreißig Jahre älter sein. Er wirkt merkwürdig gedämpft, als fehle ihm der Furor des Erzählers, der seinen Ekel nicht mehr wirklich durchlebt, ihn nur noch mit nonchalanter Eleganz zelebriert, so fehlt auch den Schauspielern die letzte Intensität. Und der Titel ist mehr ein gut zitiertes Traditionsgut, als das er den Ekel Baudelaires wirklich atmete. Allerdings, all diese Einschränkungen gelten einem Niveau, von dem ein beträchtlicher Teil jüngerer Filmemacher träumt. Und: Sie gelten einer Inszenierung, die ihrer konventionellen Filmkultur eine ästhetische Wohltat ist.
Der zweite Mord ist begangen, die zweite Schuld, da hat Anne die Wahl gewonnen. „Komm“, sagt Francoise zu Michelle, „lass uns eine gute Figur machen“. Dann gehen sie zur Wahlparty. Hier könnte ein neuer Film von Claude Chabrol beginnen. Die Zeit existiert nicht.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben August 2003
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
Bilder: Concorde Film
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