Die Ausgangssituation ist so einfach wie historisch: Am 24. August 1944 – die Alliierten stehen vor den Toren der Stadt – scheint die Zerstörung von Paris besiegelt. General Dietrich von Choltitz, der deutsche Stadtkommandant, soll Hitlers Befehl ausführen: Die Stadt vor den einrückenden alliierten und französischen Truppen zu sprengen, Seinebrücken, den Eiffel-Turm, alle historischen Bauten vernichten.
Der schwedische Diplomat Raoul Nordling versucht alles, von Choltitz davon zu überzeugen, den wahnsinnigen Befehl zu verweigern. Ein verzweifeltes Spiel hinter den Kulissen der Besatzungsmaschinerie verdichtet der Film zu einem alles entscheidenden Gespräch zwischen von Choltitz und Nordling. Ein Psychoduell zwischen zwei sehr unterschiedlichen und in manchem auch wieder nahen Menschen, ein Befehlsempfänger und Banause und ein Idealist und Rhetorik-Genie, die sich freilich im Verlauf des Gesprächs einander auch auf unerwartete Weise offenbaren. Und ein Versteckspiel: Ist von Choltitz wirklich nur deshalb zur Ausführung des verbrecherischen Befehls bereit, weil seine Familie im Sinne der faschistischen »Sippenhaft« in Lebensgefahr ist? Und hat Nordling wirklich die Rettung von Frau und Kindern anzubieten? Ein großer Theaterstoff, eine große Bühne für zwei Schauspieler wie Nils Aretrup als deutscher Stadtkommandant und Henri Dussollier als schwedischer Diplomat. Aber ist das auch ein großer Filmstoff?
Volker Schlöndorffs neuer Film »Diplomatie« geht auf ein Theaterstück zurück – der Autor Cyril Gély hat zusammen mit Schlöndorff auch das Drehbuch geschrieben – und will seinen Kammerspiel-Charakter gar nicht verbergen. Die innere Spannung dieses fiktiven historischen Duells der Worten und Gesten entsteht vor allem durch die Intensität der Schauspieler. Der große Coup dieses Films besteht darin, die Darsteller der erfolgreichen Bühnenproduktion zu übernehmen, anstatt die Rollen mit den üblichen Verdächtigen des europäischen Kinos zu besetzen. Vielleicht weil er einen französischen Schauspieler einsetzt, vermeidet der Regisseur die Gefahren von Karikatur und Dämonisierung. Vielleicht aber gerät dadurch dieser Choltitz menschlicher und verständiger, als er unserem historischen Wissen nach war.
Nur selten verlässt der Film den Raum der deutschen Kommandantur, in dem der deutsche General und der schwedische Diplomat um den Fortbestand von Paris ringen, in Worten, die immer Literatur bleiben, Reflexion, Verdichtung, Dramaturgie. Eine kleine Parallelhandlung erzählt von einem französischen Architekten, der sich als Kollaborateur in dieser Aktion schuldig macht und der am Ende doch das Schlimmste zu verhindern hat, als sich nämlich der verantwortliche Offizier dem Befehl des Kommandanten widersetzt, die Sprengungsvorbereitungen einzustellen. Man kann darüber streiten, ob diese filmische Zutat zum Kammerspiel wirklich notwendig ist. Ansonsten kann man zwei sehr guten Schauspielern bei der Arbeit zusehen – und einem Regisseur, der sich meistens ganz in ihren und den Dienst des Stoffes stellt. Trotzdem bleibt eine gewisse Distanz; cineastische Gegenwärtigkeit ist so wenig zu haben wie analytische Schärfe. Spuren werden nicht verfolgt. Nur zum Beispiel: Was hat es mit Himmlers Gier nach den Bildern auf sich? Was treiben seine Leute (da sind sie wieder, die bösen Karikaturen) im Paris kurz vor der Befreiung? Der Bühnenstoff ist cineastisch konserviert, die Schauspieler großartig geführt (und »gelassen«); einmal mehr sieht man, dass Schlöndorff seine Schauspieler wirklich liebt, und das ist wahrlich kein schlechter Grund, ins Kino zu gehen. Aber wirklich »Film« geworden ist »Diplomatie« auch nicht.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Strandgut 9/2014
Diplomatie, von Volker Schlöndorff (Deutschland/Frankreich 2014)
Bilder: Koch Media
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