Blick in den Himmel
In Susanne Biers „In einer besseren Welt“ sieht man einem großen Film beim Kleinerwerden zu
Das happy ending ist für Kinofiguren, zumal wenn es zu früh, zu schnell und zu umfassend kommt, häufig ein vergiftetes Geschenk. Und süßes Gift kann das happy ending auch für uns im Zuschauerraum sein. Susanne Biers Film Haevnen, der bei uns In einer besseren Welt heißt und in diesem Jahr den Auslandsoscar gewann, wartet gleich mit einer Mehrzahl ineinander geschachtelter happy endings auf. Vielleicht weil er sich ein Märchen als Grundierung gewählt hat. Das Märchen von der Nachtigall, das Hans Christian Andersen schrieb, ist eine ziemlich vertrackte Etüde über das Echte und das Künstliche, die Schönheit und den Tod, die Regierung und das Volk. Der junge Christian trägt diese Geschichte, die seine Mutter ihm immer vorgelesen hat, an ihrem Sarg vor. Vor dieser Begräbnisszene haben wir eine andere Auseinandersetzung mit dem Tod gesehen: nämlich die von Anton, der für die Ärzte ohne Grenzen in einem Camp »irgendwo in Afrika« um das Leben einer Frau kämpft. Der barbarische Warlord »Big Man« hat ihr das Kind aus dem Bauch geschnitten, nur um mit seinen Kumpanen darum zu wetten, welches Geschlecht es gehabt hätte.
Die beiden Geschichten von der Begegnung mit dem Tod werden nun nicht nur nach den Gesetzen der Kino-Dramaturgie miteinander verbunden, sie verhalten sich auch in der moralischen Komposition der Fabel zueinander spiegelverkehrt. Die erste persönliche Erfahrung mit dem Tod, der unbarmherzige Angriff auf den Familienroman, dessen Folgen in die Gesellschaft und die Geschichte reichen werden, und die Erfahrung des Todes als Ausdruck der globalisierten Unordnung, deren gesellschaftliche und geschichtliche Dimensionen bis in den Familienroman reichen. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, davon will der Film erzählen.
Die erste Hälfte von In einer besseren Welt hält dieser Aufgabe stand. Christian soll nach dem Tod der Mutter bei seiner Großmutter leben. In der Schule an seinem neuen Wohnort trifft er auf Elias, Antons Sohn. Der wurde von seinen Mitschülern als Opfer auserkoren, als »schwule Sau«, »Ausländer« und »Rattengesicht« (wegen seiner Zahnspange) verspottet und gedemütigt. Christian ist entschlossen, nachdem er auch selbst einen Angriff des Anführers der Mobbing-Clique erlebte, kein Opfer zu sein. Als dieser Anführer Elias wieder bedrängt, schlägt ihn Christian in einem wahren Gewaltrausch mit der Fahrradpumpe zusammen und bedroht ihn dann mit dem Messer. Christian ist nicht nur Beschützer, sondern wird auch Verführer für Elias, auch weil der ganz das Gegenteil der pazifistischen Einstellung des Vaters vertritt.
So wie Christian seine Mutter verloren hat und der Vater keinen Zugang zu ihm findet, so ist Elias an den idealisierten Vater gebunden, der immer wieder für Wochen drüben in Afrika ist. Christian verleitet Elias zu einem Rachefeldzug, der absehbar in eine Katastrophe führt. Und ebenso absehbar muss drüben in Afrika Anton noch einmal mit dem Big Man zusammentreffen, der mit einem verwundeten Bein ins Camp kommt. Darf oder muss man gar einen solchen Teufel in Menschengestalt heilen?
Zu diesem Zeitpunkt freilich hat die Komposition von psychologischem Familiendrama und moralischer Fabel schon ihre Balance verloren. Da sind die anfänglich sanften Verknüpfungen der afrikanischen und der dänischen Handlungsteile: zuerst der Himmel, der dem dänischen Film ja auch den Originaltitel Hævnen gab und in den immer wieder geblickt wird, wenn in den irdischen Konflikten so gar kein Ausweg mehr scheint. Dann der Klang des Fingerklaviers, der Momente der Einsamkeit und Einkehr in Afrika und Dänemark verknüpft. Doch dann kommen die immer derberen Symbolbilder: eine Spinne in ihrem Netz, Tierskelette in der Savanne, nach den Missetaten des Warlords, Krähen über der nächtlichen Stadt, dahinziehende Wildgänse. Wie schnell doch die Grenze zwischen Bildmächtigkeit und Kunsthandwerk überschritten wird. Susanne Biers Gespür für die »offenen« Charaktere bleibt davon aber unangetastet: In jedem der Gesichter offenbart sich eine Frage, etwas Ungelöstes und Unerlöstes. Das macht in der Tat die Verknüpfung von Moral-Fabel und Psychodrama ausgesprochen sinnlich.
Dann aber setzt die Drehbuchmaschine unbarmherzig zur Produktion der Auflösung an, nicht nur der Lebens- und Ideenfallen, sondern auch der Widersprüche zwischen Fabel und Melodram, Gleichnis und Beobachtung, Autorenanspruch und Mainstream-Kino. Einige der letzten Szenen sehen aus, als stammten sie schon aus dem Hollywood-Remake des Films. Natürlich ist das interessanter, als einem Film zuzusehen, der gar nichts erst versucht. Und doch macht traurig, dass ein Film mit einem so gewaltigen Thema am Ende so kleinmütig verschwindet, als würde man den letzten Akt einer Tragödie mit den Mitteln der Seifenoper erzählen.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Die Zeit
In einer besseren Welt OT: Hævnen Dänemark/Schweden 2010 – 113 min. Regie: Susanne Bier – Drehbuch: Susanne Bier, Thomas Anders Jensen – Produktion: Sisse Graum Jørgensen – Kamera: Morten Søborg – Schnitt: Pernille Bech Christensen – Verleih: Universum – FSK: ab 12 Jahre – Besetzung: Mikael Persbrandt, William Jøhnk Nielsen, Markus Rygaard, Trine Dyrholm, Ulrich Thomsen
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