Oder: Onkel Bräsig und der Frosch mit der Maske. Ein Familien- und Kriminaldrama vom Tisch des Alten Mädchens.
So sitzen sie also wieder beieinander, am Tisch des Alten Mädchens, zanken ein wenig, suchen Auswege oder schieben dies und jenes vor sich her, finden für anderes etwas, das sie Kompromisse oder Sachzwänge oder Vereinbarungen oder sonstwie nennen. Einerseits hat man sich aneinander gewöhnt, sieht man einmal von der bäuerischen Verwandtschaft aus dem Süden ab, so eine große Runde hat auch ihre Vorteile.
Andererseits ist klar, dass früher oder später die Einladungskarten neu verschickt werden. Das Erbe reicht nicht für alle.
Obschon, die Stimmung ist nicht so gut. Und das liegt unter anderem an der Gegenwart von Onkel Bräsig. Onkel Bräsig macht dauernd Anstalten, aufzustehen und zu gehen. Man glaubt schon, das erleichterte Aufatmen zu hören. Wenn er weg wäre, könnte man ganz anders miteinander reden. Endlich zur Sache kommen. Aber er bleibt sitzen, Onkel Bräsig geht nicht heim.
Statt heimzugehen beklagt er sich vielmehr, er schimpft auf eine »Meute«, die ihm den Platz am Tisch des Alten Mädchens in der Hauptstadt streitig macht und ihn als Provinzonkel verlacht. Alle wollen ihn entweder überhaupt nicht oder dauernd falsch verstehen, und dann sagt er beleidigt: »Die Schickimicki- und Champagnergesellschaft ist nicht so meine Welt.« Als wäre er von ihr je eingeladen gewesen. Am Tisch des Alten Mädchens dagegen ist Provinzialität ganz und gar kein Hindernis. War sie nicht selbst die politische Tochter des dicken Provinzkönigs? Aber Onkel Bräsig muss sich doch wehren, und weil er es nicht gegen seine wahren Feinde tun kann, die direkt neben ihm sitzen, muss er sich eben gegen imaginäre Gegner wehren. Und das macht ihn nun auch wieder kein bisschen liebenswerter.
»Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich meine pfälzische Heimat liebe, und sehe keinerlei Grund, meine Herkunft zu verleugnen«, sagt er. Wenn man so etwas sagt, dann hat man es ja schon getan. Aus einer schlichten Tatsache hat man ein Problem gemacht, das vordem gar niemand haben wollte. Onkel Bräsig schafft es schon wieder, sich einen Vorwurf erst richtig einzuhandeln, indem er sich gegen ihn verteidigt. Das nervt.
Niemand kann Onkel Bräsig leiden. Rechts wird gehöhnt, links wird gestöhnt, und in der Mitte verdreht man die Augen. Warum das denn? Er sieht doch weder besonders gefährlich noch besonders unsympathisch aus (ich meine, verglichen mit dem Rest der Gäste). Und so richtig daneben benehmen tut er sich eigentlich auch nicht häufiger als die anderen. Ein bisschen nervös ist er, okay, immer unglücklich, das steht ihm nicht. Onkel Bräsig gehört zu den Gästen, die am angenehmsten sind, wenn man gar nicht merkt, dass sie da sind. Und sobald er sich bemerkbar macht, wird es auch schon peinlich.
Aber genau das ist vielleicht die Schwierigkeit: Onkel Bräsig möchte unbedingt geliebt werden, aber er hat eigentlich nichts Liebenswertes an sich. Was ja an sich gar kein Problem ist; einige meiner besten Freunde sind absolut unliebenswert, manche davon nicht einmal liebenswürdig. Sie haben eben andere Qualitäten. Zum Beispiel ist ein arrogantes, aber brillantes Arschloch bei einem angeregten Mahl durchaus nicht zu verachten, selbst Angeber, Besserwisser, Spinner, Intriganten und Egomanen können zur Unterhaltung beitragen. Aber keine Langweiler, die unbedingt Aufmerksamkeit haben wollen und sich zugleich vor ihr fürchten, keine narzisstisch gekränkten Provinzler, die sich dauernd beklagen, dass ihnen die Unterhaltung der anderen zu gemein und geistreich sei, keine Spaßbremsen, die, egal zu welchem Thema sie sich ins Gespräch mischen, am Ende immer bei der eigenen Angst vor der Zurückweisung landen.
Hinzu kommt: Der Familienrat sitzt hier ja nicht zum Spaß beieinander. Es geht um Macht, um Geld, um Richtungen. Dass Onkel Bräsig da nicht mehr mitreden soll, ist mehr oder weniger beschlossene Sache. Mittlerweile könnte er etwas durch und durch Vernünftiges sagen (ich meine: mal angenommen, er könnte es), und trotzdem würden alle Familienmitglieder, links und rechts, in gleicher Weise aufstöhnen: Was für ein Idiot!
Der Idiot der Familie – das ist eine allgemeine Rollenzuweisung, bei der in aller Regel nur eine intensive Therapie oder ein radikaler Bruch helfen. Ein Therapeut ist am Tisch des Alten Mädchens nicht zugelassen. So lastet über dem ganzen Gastmahl eine drückende Stimmung. Würde Onkel Bräsig endlich nach Hause gehen, dann könnte man genauer und offener miteinander reden. Zwei, drei große Projekte warten auf die Familienrunde: Eines davon ist die Beerdigung der alten Tante Sozialdemokratie. Der Idiot der Familie stört hier.
Die Sache ist einfach die: Onkel Bräsig glaubt, er sei der Tante Sozialdemokratie noch etwas schuldig, und er kann nicht sagen, ob er sich dafür schämen oder stolz darauf sein soll. Ein Sozialdemokrat ist übrigens ein Mensch, der nicht genau weiß, woher seine Magenschmerzen kommen, ob davon, dass er seine Ideen und Ideale ständig verraten muss, ob davon, dass ihm Milieu und Klientel verloren gehen, oder ob davon, dass er die Früchte von Populismus und Korruption nicht so genießen darf wie seine Kollegen. Deswegen ist ein Sozialdemokrat schon gekränkt, bevor überhaupt irgendwer etwas gesagt hat. Ein Sozialdemokrat spricht aus der Kränkung heraus, die er sich selbst angetan hat. Eine Zukunft hat er nicht, die Vergangenheit ist nur gefährlich, und die Gegenwart ist genau deswegen unerträglich, weil sie keine Geschichte und keine Erzählung mehr haben darf. Der Trick der »erfolgreichen« Sozialdemokraten in den vergangenen Jahrzehnten war es, außerhalb der Sozialdemokratie von sich zu erzählen, als »Staatsmann«, als »Macher«, als »Reformer«, als »Persönlichkeit«. Der Nachteil dieses Tricks ist: Mit jedem Sieg eines solchen Trans-Sozialdemokraten geht ein weiteres Stück der großen sozialdemokratischen Legende verloren. Und von einem solchen Märchen kann man ja halten, was man will, es gibt jedenfalls etwas zu erzählen, bei Tisch und auf der Straße. Die alte Tante Sozialdemokratie jedenfalls ging schon lange nicht mehr aus dem Haus, aber sie blieb als Gerücht, als Erinnerung noch ein wenig gegenwärtig. Ihre Beerdigung sollte daher im engsten Familienkreis stattfinden.
Und eben deshalb ist Onkel Bräsig, neben seiner persönlichen und seiner strukturellen Neurose, so unbeliebt: Dauernd will er etwas zur Tante Sozialdemokratie und zu ihrem Vermächtnis sagen, und weil er weiß, dass er es eigentlich nicht darf, drehen sich die Worte in seinem Mund herum. Was er erzählt, erklingt als ängstliches Stottern, immer hat er schon wieder zu viel gesagt. Das Falsche ohnehin. Da will nicht nur einer geliebt werden, obwohl doch nichts Liebenswertes an ihm ist, da will auch einer etwas zur allgemeinen Erzählung beisteuern, obwohl er ganz und gar nichts sagen darf. Es ist der Idiot der Familie, der die Tante Sozialdemokratie nicht ganz vergessen will, aber auch nicht das Zeug zu einem Rebellen hat. So kann er nur eines tun: Er geht nicht heim.
Onkel Bräsig also hält aus. Er hält aus, weil er weiß, dass, kaum wäre er aus der Tür hinaus, sein Musterknaben-Rivale das Wort ergreifen oder ergreifen lassen würde: der Frosch. Der Frosch mit der Maske des kultivierten Diplomaten. Er nämlich könnte ohne weiteres etwas erzählen. Wie er in der Welt herumgekommen ist, wie man da und dort das Schlimmste verhindert, Geiseln befreit und Diktatoren besänftigt hat, und was so sein muss, wenn man die Welt nur kennt. Der Frosch kennt sich aus. Er weiß, dass in der großen weiten Welt – übrigens auch beim Glas Champagner, warum denn nicht – kein Mensch über das Ableben der Tante Sozialdemokratie redet. Dieser Frog (Friend of Gerd) hat mit der Sozialdemokratie nun wirklich nichts mehr zu tun. Irgendwelche alten Geschichten von sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung, Solidarität und dem anderen Blablabla sind von ihm nicht zu erwarten. Und weil der Frosch zu Tisch nicht allzu verräterisch quaken darf, lässt er die Frosch-Neffen umso forscher tönen. »Onkel Bräsig ist ein Geisterfahrer«, gellt es giftig aus den Reihen der Brandenburger Nachwuchsfrösche. Onkel Bräsig sei einer, der »den Falschfahrern von der Linkspartei hinterherlenkt«. »Aussetzer« habe er. Kurz gesagt, der Idiot der Familie verhindere das reibungslose Ende des Familienprojektes. Ihr wisst schon: das Beerdigungsding.
Und allmählich dämmert es uns. Es ist schon richtig, dass niemand Onkel Bräsig mag. Einerseits tut er auch alles, um sich unbeliebt zu machen, und andererseits kann er auch machen, was er will, und wird doch die Rolle des Ungeliebten in der Runde nicht los. Aber während er den meisten am Tisch allenfalls lästig ist, sind es die SPD-Frösche, die ihn unbedingt loswerden wollen. Damit sie endlich den Blödsinn mit der Tante Sozialdemokratie und der Gerechtigkeit und der Verteilung und dem Blablabla vergessen können. Mordlust ist zu spüren. Und da ist jemand am Tisch, der gar nicht wirklich da und doch viel stärker ist als Onkel Bräsig: der Gazprom-Gerd. Der hat auch immer so schöne Geschichten erzählt, wie er alles moderner macht und der Wirtschaft hilft und auf den Tisch haut, wenn es nicht nach seiner Agenda geht.
Am Tisch des Alten Mädchens wünschen sich alle, dass Onkel Bräsig endlich heimgeht, damit man das Erbe verteilen kann. Endlich soll vor dem Speisesaal das Schild angebracht werden: Eintritt für Arbeitslose, Populisten und Sozialdemokraten verboten.
Und so wird es kommen: Onkel Bräsig kann nicht gewinnen. Und der Frosch kann nicht verlieren. Wenn Onkel Bräsig den Tisch verlässt, ist über das Grab der Tante Sozialdemokratie das Gras gewachsen. Und so wollen wir uns, für einen Augenblick, Onkel Bräsig als tapferen Menschen vorstellen.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 30, 07/2008
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