Tom, der Kater, und Jerry, die Maus, gehören zu den heftigen, materiellen Gestalten des amerikanischen Zeichentrickfilms. Als ihre Schöpfer werden gemeinhin Joseph Hanna und William Barbera bezeichnet, was nicht ganz richtig und nicht ganz falsch ist. 1934 begannen Hugh Harman und Rudolf Ising mit ihrer Trickfilmarbeit für MGM, die seit 1929 eine eigene Animationsabteilung unter der Leitung von Fred Quimby unterhielt. 1940 begannen sie die Arbeit an der Tom-&-Jerry Serie mit PUSS GETS THE BOOT (wo Katze und Maus freilich noch keine Namen tragen), und zwischen 1941 und 1956 entstanden pro Jahr zwischen fünf und fünfzehn kurze Trickfilme, die nun von Hanna und Barbera betreut wurden. Aber auch Tex Avery, der „Walt Disney, der Kafka gelesen hat“. hinterließ seine Spuren in den Filmen.
Die ewige Jagd der Katze nach der Maus und die Racheakte der Maus an ihrem Peiniger wurden zu einem wilden, gelegentlich mit recht gewalttätigen Szenen durchsetzten Ritual, das jedoch nie die kalte Mechanik etwa der absurden „Roadrunner“-Cartoons ausstrahlte. Es gab eine innere Beziehung zwischen Tom und Jerry, sie waren, in all ihrer Grausamkeit, voneinander abhängig wie ein Ehepaar, und wenn es schien, als wäre der Sieg des einen endgültig, geriet der andere sofort in Panik und tat alles, um den Gegner wieder zurückzuholen. Ein vielleicht sogar friedliches Zusammenleben erschien in vielen ihrer Filme als immer verfehlte Utopie. Nach der Auflösung der MGM-Trickfilmabteilung 1957 kamen noch regelmäßig Zusammenfassungen der Kurzfilme als „Tom & Jerry Festivals“ in die Kinos. Seit Mitte der sechziger Jahre wurden wieder neue Cartoons für das Fernsehen produziert, die auch in Deutschland im Vorabendprogramm ausgestrahlt wurden. Die Welt von Tom und Jerry war in diesen Filmen kleiner geworden; sie verließen kaum noch ihr Zuhause, und weit waren sie entfernt von jener abgedrehten Phantasie der Filme wie CAT CONCERTO (1947), in dem sich Tom und Jerry einen gnadenlosen Kampf auf einem Flügel liefern und ihre Attacken so oder so in das Musikstück integriert wurden. Chuck Jones, der Erfinder von „Bugs Bunny“, schuf dann drei Kinofilme mit Tom & Jerry. Dem selbst in den USA erhobenen Vorwurf der Gewaltverherrlichung in der Serie wurde schließlich mit der Kreation der „Tom & Jerry Kids“ begegnet, die eine weitere Verniedlichung und Entsophistication brachte. Der Film, der nun in unsere Kinos gekommen ist, ist so etwas wie ein vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung zur Domestizierung der Gestalten.
„Ich war künstlerischer Berater, tat selbst nichts und sagte den anderen nur ständig, was sie falsch machten“, erklärte Joseph Barbera, der sich mit seinem Projekt eines langen Films mit dem klassischen Paar an den Produzenten und Regisseur Phil Roman gewandt hatte, der zuvor CHARLIE BROWN, GARFIELD und LORD OF THE RINGS gemacht hatte. An die Fortsetzung eines bestimmten Stils war also von vornherein kaum zu denken, und offensichtlich hörte niemand darauf, wenn Barbera erklärte, was alles falsch gemacht wurde.
Tom und Jerry sind nicht mehr die alten, und das nicht nur, weil sie für diesmal ihre Feindschaft begraben, um der kleinen Robyn Starling auf der Flucht vor ihrer bösen Stieftante beizustehen, die hinter dem Geld ihres totgesagten Vaters her ist, der natürlich am Ende mit der Hilfe von Kater und Maus gefunden wird. 1937 hatte Disneys SCHNEEWITTCHEN eine neue Form des spielfilmlangen Zeichentrickfilms begonnen, der sich so sehr vom freien kurzen Cartoon wie vom Realfilm unterschied, eine dramaturgische und ästhetische Mischform, die etwa von Siegfried Kracauer heftig kritisiert wurde. Tatsächlich verzichtet diese neue Form freiwillig auf viele Möglichkeiten des Genres. Die Unterwerfung der Cartoons unter die Gesetze des Spielfilms macht die Zeichentrickwesen in der Regel zu unvollkommenen Menschen, die befreiende Phantasie rückt vom Zentrum an die Peripherie, von den Haupt- auf die Nebenfiguren.
Die sieben Todsünden des „großen“ Zeichentrickfilms: 1. Die Länge, die eine am Spielfilm und seinen Genres orientierte Dramaturgie notwenig macht und die Protagonisten in den Rang von positiven Helden erheben muß, während der kurze Zeichentrickfilm allerlei Zerstörungs- und Rebellionswerk zulässt. 2. Die Streckung der Handlung mit Musik- und Tanzeinlagen (im Gegensatz zur Fähigkeit des Cartoons, Musik fachgerecht zu zerlegen). 3. Die Einführung „menschlicher“ Figuren in den autonomen Kosmos der wilden Geschöpfe, die sich, wenn zwar gelegentlich als Karikatur, auch so menschlich verhalten müssen, dass ihre „reale“ Erfahrung von Zeit und Raum, von der Stabilität der Objekte, notgedrungen auch von ihren fabelhaften Sidekicks übernommen wird. Durch das Auftauchen von Menschen in ihren Filmen verlieren die Zeichentrickgeschöpfe ihre Fähigkeit, Verstümmelungen, Zerstückelungen und Deformationen jeder Art zu überstehen; mit dem Menschen kommt auch die Möglichkeit des Todes in die Welt der Fabelwesen (und erst wenn die Menschen so real werden wie in ROGER RABBIT, können sich die Zeichentrickgeschöpfe auf ihre ursprünglichen Lebensqualitäten besinnen). 4. Die Ausstattung der Animationsfiguren mit „menschlichen“ Sprachbegabungen (ein Umstand, der Tom und Jerry in diesem Film erbarmungslos trifft, denn gerade die Stummheit ihrer Aggressionen und ihrer Leiden macht sie so fundamental). 5. Die Pädagogisierung und Harmonisierung. 6. Die Verniedlichung der Zeichentrickwesen. Achten Sie auf das Verhältnis von Kopf und Körper, von Beinen zu Rumpf und von Augen- zu Kopfgröße (unheilvoller Einfluss der japanischen Billig-Animation, unter anderem)! Damit verlieren die Figuren entscheidend an Charakter, an mimischer Flexibilität. 7. Die Unterwerfung der fundamentalen Impulse unter das Diktat des Kindchen-Schemas; die so domestizierten Cartoon-Wesen können weder Gier noch Tragödie mehr ausdrücken, nur Unreife.
Zwei oder drei dieser Todsünden kann man sich leisten, wenn man auf der anderen Seite etwas zu bieten hat. Aber hier sind alle sieben beieinander, und das ist ein bisschen viel. Die Kids meinen, sie hätten schon Besseres, aber auch schon Schlechteres gesehen. Und ob wir jetzt endlich ins Schwimmbad können.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film 11/92
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