13 1/2 Anmerkungen zur wichtigsten Fernsehserie unseres Landes
#1
Der deutsche Sonntagabend beginnt mit einer Leiche. Es ist eine schöne Leiche; sie erzählt mehr als die meisten Lebenden. Sie ist sorgfältig drapiert an pittoresken Orten oder doch eher Un-Orten in Städten wie Duisburg, München, Berlin, Frankfurt, Münster, oder auch in tiefer Provinz. Der Anblick der Leiche ist gerade noch zumutbar für Oma und ihren Enkel, der eigentlich schon im Bett sein sollte. Es ist etwas zwischen Schock-Fotografie und Kunstgeschichte. Sie ist eine große Frage, die nun in 80 Minuten beantwortet werden soll: Die schöne Leiche am Anfang des „Tatort“ heute Abend.
#2
Dann wird sehr viel geredet in einem Tatort. Genug, um nebenbei Sauerbraten und Kartoffelpüree zu essen oder darüber nachzudenken, was man morgen anzieht. Sehr verlässlich überlässt ein „Tatort“ seine Zuschauer ab und zu ein bisschen sich selber und holt sie dann genau so verlässlich wieder ab. Man muss auch nicht dauernd hinsehen, um zu verstehen was los ist. Aber wenn man hinsieht, dann ist bei den besseren „Tatort“-Folgen auch in den Bildern immer irgendwas los. Manchmal ahnt man etwas von der Magie und vom Grauen bestimmter Räume, das andere mal gibt es eine merkwürdige Schönheit an den ödesten Orten der Republik zu entdecken. Und wenn es wieder ernst wird, dann sagt einem das schon die Musik.
#3
Der „Tatort“ ist nicht Kult. Auch nicht, wenn er mit einem Kerl wie Schimanski einem ganzen Jahrzehnt ein männliches Rollenmodell verpassen kann, gegen das nur Fundamentalisten, Sauertöpfe und Kulturkritiker etwas einzuwenden hatten. Der „Tatort“ ist eine Institution. Die größte Konsens-Institution des deutschen Fernsehens. Über alles im deutschen Fernsehen darf man, kann man, ja muss man schimpfen. Nur nicht über den „Tatort“. Es sei denn, ein „Tatort“ ist nicht so wie ein „Tatort“ sein soll.
# 4
Alle wissen, was so toll am Tatort ist. Die Serie spiegelt den föderalistischen Geist unserer Republik. Jeder ARD-Sender hat seinen Tatort, jede Region, jeder Ballungsraum, jede Großstadt. Aber auch jede Kultur, jede Partei, jeder Lebensstil, jede Klasse, jedes Temperament, jedes Geschlecht und jedes Alter hat seine Tatort-Repräsentanten. Und alle großen Bewegungen der deutschen Nachkriegsgeschichte kommen vor: Mal weht ein melancholischer Hauch von Alt-68 durch den Plot; mal wird ein Kerl mit schlechten Manieren und zu wenig gewaschenen Klamotten unser Mann aus dem Kiez; mal kämpft eine Kommissarin als alleinerziehende Mutter darum, Arbeit und Haushalt zu bewältigen, eine andere rennt sich in jeder Folge die Seele aus dem Leib, um ihre Fitness zu beweisen; mal gibt einer den sympathischen Spießer, ein anderer den guten Deutschen mit migrantischem Hintergrund. Alle sind hin- und hergerissen zwischen den Zwängen ihres Berufes und der persönlichen Moral. Alle sind irgendwie in Kompetenz- und Autoritätskonflikte verwickelt. Richtig Autoritär ist keiner der „Tatort“-Kommissarinnen und Kommissare, für so etwas ist eher die Konkurrenz beim ZDF zuständig. Je autoritäter einer auftritt, desto deutlicher wird, dass er einen seelischen Knacks hat und eigentlich Freundschaft und Zuneigung braucht. Der Tatort ist ein Werbemittel für flache Hierarchien und Team-Arbeit. Wer hier den Chef raushängen lässt ist entweder ein Arschloch oder eine komische Figur.
# 5
Eine politische Psychoanalyse unserer „Tatort“-Kommissarinnen und –Kommissare unterlassen wir aus Gründen der kritischen Sozialverträglichkeit. Immerhin klar ist wohl, dass sie alle ein erhebliches Generationenproblem mit sich herumschleppen. Die meisten von ihnen wollen auf gar keinen Fall so werden wie ihre Eltern waren, oder bei manchen noch sind. Im Privatleben gehen ihnen dann nicht nur dauernd alle Beziehungen in die Brüche, sondern sie müssen sich auch noch mit klammernden, durchgedrehten oder besserwisserischen Vätern und Müttern herumschlagen. Deswegen sind sie zur Polizei gegangen, um ohne die Hilfe der Eltern erwachsen zu werden. Doch bei der Polizei werden unsere Helden zwar alt, aber nicht erwachsen.
# 6
Die Polizisten am „Tatort“ sind mit einem Teil ihrer Seele alt und verbittert; sie haben einfach zu viel gesehen, das geht sehr schnell, bei manchen von ihnen passiert es gleich am ersten Einsatz-Tag. Aber mit dem anderen Teil ihrer Seele sind sie auch ewige Kinder, zornig, gekränkt, neugierig und ein bisschen verspielt. Die Söhne und Töchter der vaterlosen Gesellschaft vielleicht. Spürhunde im post-ödipalen Trümmerhaufen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Vom verborgenen Grauen des Wirtschaftswunders über sämtliche Krisen, Ölschocks, sexuelle Revolution, neue soziale Bewegungen, Globalisierung, Wiedervereinigung, Parallelgesellschaften bis hin zur Hartz 4 – und Managerbonus-Gesellschaft. Keine große Idee mehr, kein politischer Aufbruch, höchstens die kleine Hoffnung, Sonntag für Sonntag, wenigstens einen Verbrecher aus dem Verkehr zu ziehen, ein unschuldiges Opfer zu retten, eine Spur von sozialer Gerechtigkeit zulassen, wenn es sein muss auch gegen Behörden und sogar gegen die eigene. Das muss genügen. Im „Tatort“ lernen wir politische Bescheidenheit. Sie erwächst aus dem schönen Paradoxon des Rebel Hero im Staatsdienst. Eines Menschen, der seinen Aufgaben nicht trotz seiner Neurosen, sondern gerade wegen ihnen gewachsen ist. Aber he! – wir wollten es ja nicht übertreiben, mit der politischen Psychoanalyse von „Tatort“-Kommissarinnen und -Kommissaren.
# 7
Die Reihe „Tatort“ trägt ihren Titel nicht nur so. Es geht wirklich immer auch um Orte. Mal mehr, mal weniger sieht man hinter dem Fall und seiner Aufklärung ein bisschen verschmutzte, ein bisschen schöne, ein bisschen vergessene Lebensräume. Hier ahnt man etwas von dem, worin wir sind ohne es zu wissen, worin man lebt ohne es zu sehen, wovon man träumt, ohne es zu haben: Heimat. Vielleicht ist deshalb die „Tatort“-Leiche so schön. Weil sie genau dorthin den Blick lenkt. Und weil das nicht mehr geht, ohne den Schmerz und den Tod und den Verlust und all diese Dinge, über die wir nicht mehr so frivol hinweg gehen können wie in einem Agatha-Christie-Krimi-Rätsel.
# 8
Toll ist der „Tatort“ aber auch, weil es eine so offene Erzählmaschine ist. Es gibt ein paar „Tatort“-Filme, denen könnte man ohne weiteres einen Platz in der Geschichte der filmischen Erzählkunst zuweisen. Ein paar der besten Autoren und Regisseure, die wir haben, waren beim „Tatort“ zu Gast, und es gab auch ein paar Begegnungen der sonderbareren Art. Nur ein paar Kenner erinnern sich an die Spuren, die zum Beispiel der Schriftsteller Martin Walser oder der Regisseur Sam Fuller am Tatort hinterlassen haben. Und es gibt ein paar „Tatort“-Filme, die so genau einen Konflikt und eine Stimmung wiedergegeben haben, dass sie als kulturgeschichtliche Leitfossilien gelten können. Wisst ihr noch, damals, als zum ersten Mal von Leihmutterschaft, Menschenschmuggel, Organhandel, Kinderprostitution die Rede war? Ein soziales und ethisches Problem ist in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen, wenn es zum „Tatort“-Thema geworden ist. Es gibt sogar ein paar Tatorte, die sehr gekonnt alle Erwartungen und Bequemlichkeiten unterlaufen und uns mehr oder weniger sarkastisch darauf hinweisen, dass die Formeln vielleicht gar nicht aufgehen. Im Krimi nicht, und im richtigen Leben auch nicht. Einmal zum Beispiel, wurde sogar ein möglicher Kindsmord nicht restlos aufgeklärt, und statt des üblichen Verhaftungs- und Geständnisses gab es einen Ausblick: Das Leben gehr weiter, auch wenn es eigentlich die Hölle ist. Ja, es gibt Tatorte, die uns ratlos, zornig oder traurig zurücklassen. Aber es ist wohl wie in der Werbung: Ein allzu guter „Tatort“ ist beinahe so schlecht wie ein allzu schlechter „Tatort“. Denn auf den „Tatort“-Sonntag folgt ein Montag.
# 9
Die kritische Haltung des gewöhnlichen „Tatorts“ kann man in einem Satz zusammenfassen: Es gibt viele Sauereien in unserem Land, in der Politik und in der Wirtschaft, es gibt Korruption, Gewalt und Lüge, aber das Verbrechen ist am Ende dann doch immer noch Privatsache. Die Beziehung zwischen Täter, Opfer und Polizisten wird einerseits nach den Regeln des psychologischen Realismus und nach den Regeln der klassischen Whodunit-Krimi-Logik ausgehandelt, aber andrerseits auch nach den Regeln der political correctness und der Konsensfähigkeit. Natürlich muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass niemand diskriminiert wird, dass keine rassistischen, homophoben oder nationalistischen Vorurteile bestätigt werden, dass man keine Täter- und Opfer-Stereotypen zulässt, aber gleichzeitig sind freilich auch Sozialneid, Klassenkampf, Politikverdrossenheit und Aufwiegelung tabu. Gleichzeitig aber soll der „Tatort“ auch ein realistisches Bild der Gesellschaft, ihrer Konflikte, ihrer Brüche, ihrer Versäumnisse zeigen. Da wiederholt die Serie einfach das Wesen ihrer Helden im Polizeidienst, indem sie versucht, kritisch und staatstragend zugleich zu sein. Reibungslos funktioniert das nicht.
# 10
Jeder Tatort hat unter anderem die Aufgabe, den erschütterten Glauben an Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die moralischen Selbstheilungskräfte der freien Marktwirtschaft zu stützen. Natürlich nicht so direkt, dass man Propaganda darin vermuten müsste, oder, noch schlimmer, Sozialkitsch. Sondern eher aus einer Geste der trotzigen Hoffnung, des tapferen Weitermachens. Nur in der „Lindenstraße“ bringt man einen dem „Tatort“ vergleichbaren absurden moralischen Überlebensmut auf und zieht sich ähnlich beständig am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Vielleicht ist es ihnen schon aufgefallen: So gut wie niemand unter unseren „Tatort“- Kommissarinnen und -Kommissaren hat das Zeug zu einem Genießer, keiner hat eine ästhetische Leidenschaft, keiner kann, wie man so schön sagt, aus seiner Haut. Am „Tatort“ ist das Bekenntnis zur Currywurst ein klares soziales Statement.
# 11
Die meisten „Tatorte“ sind mehr als Krimis mit ein bisschen Lokalkolorit und zeitgeschichtlichem Hintergrund. In ihnen behandelt die deutsche Gesellschaft ihre aktuellen Konflikte, und sie behandelt sie, vergleicht man den Tatort einmal mit Krimis aus den skandinavischen Ländern, politisch vorsichtig und gesellschaftlich dezent. Wenn ein Tatort trotzdem einmal in ein Fettnäpfchen tritt oder irgendjemanden beleidigt oder entrüstet, der es sich leisten kann, in die Öffentlichkeit zu gehen, dann geschah das meistens zufällig oder allenfalls aus Unachtsamkeit. Denn in Wahrheit geht es im „Tatort“ nicht um Aufklärung sondern um Versöhnung. Und es geht nicht darum, dass wir uns aufregen über die Verhältnisse in unserem Lande, sondern darum, dass wir uns beruhigen dürfen. Die Kommissarinnen und Kommissare haben für uns einen Blick in den Abgrund getan. Man sieht es ihnen an: Das kann einen schon ganz schön mitnehmen. Aber am Ende wird auch darüber, wie über die schöne Leiche vom Anfang – schon vergessen? – ein gnädiges Tuch gedeckt.
# 12
Aber seien wir nicht ungerecht. Ohne den „Tatort“ wüssten wir ja rein gar nichts von unserer eigenen Gesellschaft. All das, was wir in den Nachrichten schon längst nicht mehr erfahren, und was wir im richtigen Leben tunlichst anzuschauen vermeiden. Unsere Tatort-Kommissarinnen und Kommissare wagen sich stellvertretend für uns in die No Go-Areas für uns Mittelbürger. In die Etagen der Manager und Finanzhaie mit ihren guten Beziehungen zum organisierten Verbrechen oder in die geschlossenen Milieus von Junkies, Neonazis oder Menschenschmugglern, kurz der gefährlichen Gewinner wie der gefährlichen Verlierer des Neoliberalismus. Da können wir nur staunen, dass die Menschen dort tatsächlich so aussehen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Oder haben wir sie uns so vorgestellt, weil wir sie schon aus einem anderen „Tatort“ kennen? Egal. Denn auch unsereins hat Geheimnisse, Verbrechen und Tragödien zu liefern. Der überzeugendste Tatort von allen ist immer noch die deutsche Durchschnittsfamilie mit ihren Bankschulden-Sorgen, den Eifersuchtsdramen und den Leichen im Keller. Papamörder, Mamamörder, Kindmörder, und der böse Onkel sowieso.
# 13
Der „Tatort“ also ist ein Krimi, ein Heimatfilm und ein Problemfilm, alles zugleich und ein bisschen auch gegeneinander. Und ein Tatort ist noch mehr: Ein Buddie Movie, ein Problemfilm, eine Komödie, ein Thriller, ein Sozialdrama, eine Soap Opera, ein Autorenfilm, ein Feelgood Movie, ein Gaststar-Ensemble-Film, ein Reisefilm, ein Reklamefilm für Automarken, ein Unternehmen der Regionalförderung, eine Talentschmiede und ein Talentgrab, ein nachhaltiges Produkt auf dem Bewegtbildermarkt, das durch nahezu unendliche Wiederholbarkeit überzeugt, ein Mittel zur Strukturierung des medialisierten Alltags, eine Agentur für Rollenmodelle, ein Treffpunkt für Fernsehmuffel und Serienjunkies, eine Sightseeingtour, ein Experimentierfeld für Schnittgeschwindigkeiten und Erzählrhythmen, ein Schwamm, der beständig neue Motive, Formen und Bilder aufsaugt, ein Exportschlager, eine Schule des audiovisuellen Erzählens, die Sendung, bei der man Sauerbraten mit Kartoffelpüree essen kann, die Sendung, bei der die ganze Familie zugucken kann, eine Erzählmaschine, die manchmal ein paar Wartungsfehler zeigt, eine Tradition, ein Phänomen, eine schlechte Angewohnheit, ein Suchtmittel…
#
Und das beste am „Tatort“: Am nächsten Sonntag gibt es wieder einen. Der könnte so sein, wie andere „Tatorte“ auch. Oder vielleicht auch ein bisschen anders.
http://www.wdr.de/tv/westart/dienstag/sendungsbeitraege/2010/1012/tatort.jsp
Text: Georg Seeßlen
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