Nilbar Güreş ist eine der interessantesten zeitgenössischen Künstlerinnen der Türkei. Jetzt zeigt die Galerie Tanja Wagner ihre erste Einzelausstellung in Berlin.
Eine Gestalt mit übergroßen Füßen, die einen Brautschleier trägt, halb Mann, halb Frau. Schwer zu sagen, warum das Bild „Frozen Zebra“ heißt. Vielleicht weil die Streifen des verloren am unteren Bildende stehenden Tieres sich wie ein Gefängnisgitter über das ganze Bild gelegt haben?
Wie immer man die Textil-Collage auch deuten mag. Wie in einem Nukleus schießen darin alle Motive der Kunst von Nilbar Güreş zusammen: Das Chaos der Geschlechter, das Verlangen nach Freiheit.
Die 1977 in Istanbul geborene Künstlerin ist eine der markantesten Frauengestalten der zeitgenössischen Kunstszene in der Türkei. Wie kaum eine andere Künstlerin beschäftigt sich die Frau, die seit ihrem Studium in Wien auch in Österreich lebt, mit der Frage nach der weiblichen Identität, der Rolle von Frauen in der Türkei, im öffentlichen Raum und in ihren Beziehungen zueinander.
„Jumping Bed“ ist eine der ersten größeren Einzelpräsentationen der in Deutschland noch nicht so bekannten Künstlerin bevor im Juni das Lentos Kunstmuseum in Linz ihre erste One-Woman-Show eröffnet.
Zuvor wird Güreş noch zwei kleinere Auftritte in Berlin haben. Nachdem im vergangenen Jahr Istanbuls nobelste Blue-Chip-Galerie Rampa völlig überraschend ihre Pforten schloss, arbeitet die Künstlerin jetzt mit der Berliner Galerie Tanja Wagner.
Angesichts dieser begrenzten Rezeption ist es schade, dass diese nun keine der wichtigen Foto- oder Videopositionen von Güreş in die Schau mit aufgenommen hat, in dem ihre kritischen Interventionen zu Rollenbildern und Geschlechter-Klischees noch klarer zu erkennen sind.
Geradezu ikonischen Status, nicht nur in der türkischen Kunstszene, hat etwa Güreş 2006 entstandene Arbeit „Undressing“. In der gut sechsminütigen Videoperformance wickelt sich die Künstlerin ein schleierartiges Textil ums andere vom Kopf, murmelt bei jedem einen anderen Frauennamen, bis sie am Ende mit weißer Bluse und offenem Haar selbst zu sehen ist.
Die Arbeit entstand als Reaktion auf den antiislamischen Populismus im Gefolge von 9/11, insbesondere auf das rassistische Klima im öffentlichen Raum, speziell in Österreich. In „Undressing“ verhandelte sie die, spätestens seit dieser Zeit aufgekommenen Identitätspolitiken.
Die „orientalischen“ Textilien, die in Güreş‘ Oeuvre eine zentrale Rolle spielen, dienen dabei als Medium und Metapher für die Zuschreibungen der nichtmuslimischen Bevölkerung an ihre migrantischen Nachbarn. Die Figur der verschleierten Frau diente damals wie heute als Rechtfertigung der rassistischen Politik.
Tanja Wagner hat die Ausstellung auf Güreş‘ Mixed-Media-Collagen konzentriert. In der Galerie sieht man etwa das „Lovers“-Paar aus dem Jahr 2006. Zwei Rumpfpuppen aus zusammengenähten Textilien, bei denen die geschlechtliche Zuordnung vertauscht wird.
Die weibliche Figur aus Blümchenstoff trägt schwarzes Brusthaar über ihren Brüsten. Die männliche Figur aus türkisfarbener Seide eine Halskette aus Perlen. Oder es liegt eine Arbeit wie „Snake: Violet“ auf dem Boden am Eingang der Galerie.
Die Skulptur einer Schlange, zusammengesetzt aus regenbogenfarbener Spitze, einem züngelnden Doppelkopf aus einer Gürtelschnalle und einem violetten, zickzackartig auf den Boden gelegten Strick-Corpus ruft zwar das LGTB-Motiv auf.
„Queer desire is wild“ hieß eine Variante des Werks aus dem Jahr 2015. Die heteronormativen Gesellschaftscodes aufzubrechen, zieht sich als weiterer roter Faden durch Güreş‘ Werk.
Für einen unbefangenen Betrachter muss durch die selektive Auswahl der gezeigten Werkgruppen, aller sexuellen Devianz zum Trotz, der unzutreffende Eindruck eines etwas dekorhaften Oeuvres entstehen.
Immerhin auf der Website der Galerie können Besucher „Self-Defloration“ finden, ein für das Selbstverständnis der Künstlerin zentrales Werk aus dem Jahr 2006: Mit der als Einladungskarte gestalteten Collage proklamierte die Künstlerin das Recht auf den eigenen Körper, indem sie sich selbst entjungfert.
Zumindest der Witz, den Güreş Arbeiten trotz aller konfliktreichen Themen atmen, ist erkennbar. Obwohl sich die Installation „Spider Woman, Mother“ von 2006 leicht übersehen lässt: Eine winzige schwarze Spinne ist wie eine Überwachungskamera in einer Ecke der Galeriedecke platziert. Little Mother, so könnte man Güreş‘ ironische Beschäftigung mit der Mutterrolle wohl übersetzen, is watching you.
Ingo Arend
AUSSTELLUNG
Nilbar Güreş: Jumping Bed and Female Lovers.
Galerie Tanja Wagner, Pohlstraße 64, 10785 Berlin
noch bis zum 13.04.2018
Bild ganz oben: Nilbar Güreş: Frozen Zebra. 2017. Foto: Galerie Tanja Wagner
- Zwischen Schmerz und Begehren: Semiha Berksoy, der Kunst- und Operndiva und ersten „Staatskünstlerin“ in der Türkei, die 2004 mit 94 Jahren verstarb, gilt eine Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin - 18. Dezember 2024
- Alltag mit Corona: Berlin - 23. Dezember 2020
- Streit um neuen documenta – Aufsichtsrat in Kassel - 12. Dezember 2020
Schreibe einen Kommentar