Mythos in Türkis
Das Künstlerkollektiv nüans greift in der Ausstellung „The Beloved Companion“ die Geschichte des Hayy aus der islamischen Aufklärung auf.
Avatar mit Kinderwagen. In Prenzlauer Berg bekommen offenbar selbst diese virtuellen Geschöpfe Nachwuchs. Man könnte die lebensgroße Figur im Showroom des Kunstbuchvertriebs Vice Versa für eine Parodie auf ein beliebtes Berlin-Klischee halten. Eine geschlechtslose Figur in türkisfarbenem Lycra schiebt einen schwarzen Kinderwagen vor sich her. Doch was wie postmoderner Trash daher kommt, entpuppt sich als Wiedergänger eines vormodernen Mythos. Wie man in dem Video sehen kann, das direkt daneben über eine große Leinwand flimmert. „The Beloved Companion“, der Titel der kleinen Ausstellung, bezieht sich auf eine Episode des Streifens.
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Zufall oder nicht. Zu Zeiten, wo der Islam nur noch mit blutigem Terror und dämlichen Gotteskriegern gleichgesetzt zu werden droht, ruft „Hayy“ – die jüngste Arbeit des Künstlerkollektivs „nüans“, eines der glänzendsten Beispiel der islamischen Aufklärung auf.
Die Arbeit ist dem gleichnamigen Werk Hayy ibn Yaqzan von Ibn Tufail nachempfunden. Was so viel heißt wie „Der Lebendige, Sohn des Erwachten“.
Das Werk des arabisch-andalusischen Philosophen, der von 1110 bis 1185 in Andalusien lebte, gilt als eines der wichtigsten Werke der arabischen Philosophie und Literatur. Selbst den Philosophen Ernst Bloch hatte das Buch einst beeindruckt. Kein Wunder: Die Geschichte des Knaben Hayy, der auf einer einsamen Insel, nur zwischen Pflanzen und Tieren, aufwächst und der von einer Gazelle erzogen wird, ist eine faszinierende Allegorie.
Der philosophische Inselroman aus dem 12. Jahrhundert führt den Philosophen nämlich als Autodidakten vor. Als der erwachsene Hayy Kontakt mit den Bewohnern einer Nachbarinsel aufnimmt, stellt er fest, dass diese die Geheimnisse der Wissenschaft und des Lebens und die Erkenntnis der Existenz Gottes genau so sehen wie er. Mit dem Unterschied, dass die Inselbewohner sie von einem Propheten übernommen haben, während er sie durch Experimente und Nachdenken selbst herausgefunden hat. Tufails Buch gilt als Schlüsselwerk, das die Philosophie gegen die islamische Orthodoxie verteidigt.
Nur einfach brav nacherzählen wollte „nüans“ die Geschichte natürlich nicht. Maki Umehara, Elmar Hermann und Anna Heidenhain, die die Künstlerinitiative 2006 in Düsseldorf gründeten, haben ihre Low-Budget-Produktion an verschiedenen Schauplätzen in Szene gesetzt: Auf einer Dachterrasse in Istanbul, in einem religiösen Schrein in Tokio und auf der Raketenstation Hombroich. Den hayyschen Lebensweg haben sie in eine turbulente, gut einstündige, 5-Stationen-Collage aus Liedern, Videos und Objekten umgearbeitet. Und sie haben Tufails Protagonisten – abweichend vom Original – mit dem Spezialisten und der Allwissenheit zwei Figuren an die Seite gestellt, die den Gleichnischarakter des Werks erhöhen.
Ein Sufi-Mythos als türkisener Avatar: Mit ihrer freien Interpretation und wunderbar spontanen Machart entgehen „nüans“ sowohl der Gefahr, in die Esoterik-Falle zu tappen. Oder das romantische Lied vom „edlen Wilden“ wieder aufzuwärmen. Die interdisziplinäre Gruppe thematisiert mit „Hayy“ vor allem auch ihre eigene Existenz und Arbeit. Auch der Künstler vollzieht einen Balanceakt zwischen Isolation und Kooperation, Rückzug und Austausch. Bei jedem Werk ist er neu gezwungen, sich als Autodidakt die Welt anzueignen. Und darin zu überleben.
Ingo Arend, taz
AUSSTELLUNG
nüans
The Beloved Companion
Showroom Vice Versa Distribution
Immanuelkirchstraße 12, 10405 Berlin
Noch bis zum 17. Februar
Das Künstlerbuch „Hayy. A Self – Taught Musical“ ist im Verlag Revolver Publishing, Berlin erschienen, enthält einen USB-Stick mit dem Video und kostet 30 Euro.
Blick ins Buch via issuu.com
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