Sehen, was man nicht sieht
Repräsentationskritik – Drei Berliner Kunstinstitutionen zeigen eine große Retrospektive des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar
Picassos „Guernica“, Franz Kafkas „Schloß“ und die Tempelanlagen von Angkor Wat. Die Spur der Kunst zieht sich wie ein roter Faden durch Peter Weiss‘ legendäre „Ästhetik des Widerstands“. Den namenlosen Arbeiter, der sich durch diesen voluminösen Entwicklungsroman bewegt, quält stets dieselbe Frage: Welche Potentiale bietet die Kunst für Emanzipation und Widerstand?
Den Titel mit dem Referenzwerk der politischen Ästhetik hat die große Retrospektive nicht zufällig gemein, die derzeit in drei Berliner Kunstinstitutionen zu sehen ist. Denn Alfredo Jaar, dessen Oeuvre die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), die Alte Nationalgalerie und die stadteigene Berlinische Galerie ausrollen, schätzte Peter Weiss. Doch statt auf eine Welt hinter der Welt wird man bei dem 1956 geborenen Chilenen immer wieder auf die real existierende Realität verwiesen, auf deren Schattenseiten, versteht sich.
Denn was sagen die goldenen Rahmen, die in der Alten Nationalgalerie vor Gemälden Max Liebermanns und des bayerischen Realisten Wilhelm Leibl ausliegen? In Jaar’s Werkgruppen „1+1+1“, die schon 1987 auf der Documenta 8 zu sehen gewesen war, stehen hinter den akanthusgeschmückten Sinnbildern für das Kunstsystem drei auf den Kopf gestellte Aufnahmen des Foto-Journalisten Steve Cagan. Auf ihnen sind, sepiagetönt, die Beine in Armut lebender Straßenkinder zu sehen.
Das Triptychon hat die minimalistische Präzision, die alle Arbeiten Jaars auszeichnet. Und für die achtziger Jahre mag diese Art der Repräsentationskritik ihre Bedeutung gehabt haben. Heute wirkt das einengend. Denn der dritte, mit einem Spiegel gefüllte Rahmen, in dem das Foto plötzlich richtig herum auftaucht, soll ja wohl besagen, dass Kunst die Realität abbilden, einbeziehen soll. Wer die Ausstellung des Moralisten und Interventionisten auf der Suche nach brauchbaren Ansätzen politischer Kunst durchstreift, die mehr zu bieten haben, als die Fusion von Occupy Now und Museum, die diesen Kunst-Sommer dominierte, sieht sich ebenfalls enttäuscht.
Immerhin zeigt die von Frank Wagner hervorragend kuratierte Ausstellung, dass Jaar schon mal weiter war. Wie eine seiner öffentlichen Interventionen zu Beginn der achtziger Jahren zeigt, die in der NGBK zu sehen sind. Gegen die Brutalität der damals in seinem Heimatland herrschenden Diktatur wirkt Jaars überall im Lande plakatierte Frage „Es Usted feliz? – Sind sie glücklich?“ geradezu unverhältnismäßig subtil: Kunst als kollektive Gesprächstherapie in einem Land des verordneten Schweigens.
Pinochets Putsch samt seinen Folgen hat den jungen Künstler stark geprägt. Jaar war siebzehn Jahre alt, als Salvador Allende am 11. September 1973 beim Sturm auf den Präsidentenpalast La Moneda ums Leben kam. „September 11, 1973“ nannte er eine Arbeit ein Jahr später. Auf einem Jahreskalender des Jahres 1973 tragen plötzlich alle Tage, die dem 11. September folgen, die Zahl elf. Die 1000 kleinen Nationalflaggen, die er 1982 in den Strand steckte, sollen an die Ermordeten erinnern, die die Junta von Flugzeugen ins Meer werfen ließ. „Chile 1981, before leaving“ hieß die Arbeit nicht umsonst. Kurz darauf siedelt Jaar als Architekt nach New York um, wo er heute noch lebt.
Das Grundstürzende dieser politischen Erfahrung mag das Plakative befördert haben, das man in seinen Arbeiten auch findet. Ob er nun in der Arbeit „Searching for K“ von 1984 auf einer Serie politischer Fotografien den Kopf von Henry Kissinger mit einem roten Kreis markiert – Pinochets wohlwollendem Unterstützer im Zentrum des amerikanischen Imperiums. Oder ob er 1994 im norwegischen Malmö 400 Photolithograpien in Werbeständern aufhängen ließ, um mit den Mitteln der kommerziellen Werbeästhetik den (unbestreitbaren) Skandal anzuprangern, wie die westliche Staatengemeinschaft den Völkermord im afrikanischen Ruanda verdrängt hatte.
Immer geht es Jaar darum, Mechanismen, Lenker und Leerstellen des globalen Bilderregimes offen zu legen. Das mag man als Ästhetik des Widerstands bezeichnen. Sehr viel mehr als Betroffenheit stellt sich nicht ein, wenn man in der Video-Installation „Sound of Silence“ von 2006 mit Lichtblitzen an die Geschichte des südafrikanischen Fotojournalisten Kevin Carter erinnert wird, der mit dem Bild eines halb verhungerten Kindes im Sudan, hinter dem ein Geier lauert, den Pulitzer-Preis gewann.
Das Licht der Aufklärung, das an Jaars Arbeiten gerühmt wird, leuchtet oft genug als Blendscheinwerfer. Und die Weiss’sche „Ästhetik des Widerstands“ gibt bei ihm nicht viel mehr als eine Kulisse her. So wie er den Berliner Pergamon-Altar, der am Beginn des Weiss-Romans steht, an der Jahreswende 1993/94 schon einmal für eine Installation gegen die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland nutzte.
Ganz anders ist das bei einer seiner besten Arbeiten. Drei Wochen nach dem Genozid an den Tutsi in Ruanda 1994 reiste der Künstler in das afrikanische Land, fotografierte die Überlebenden und schrieb ihre Geschichten nieder. Doch „Real Pictures“, die Arbeit, die ein Jahr später daraus hervorging, zeigt keines dieser Bilder. Sie sind in 372 schwarzen Archiv-Boxen verschwunden, die, im Dunkeln aufeinandergestapelt, an Skulpturen des Minimal oder Grabsteine erinnern. Auf jeder Box steht eine kurze Geschichte zu jedem der Fotos. Bildverweigerung als Widerstand aus dem mehr als das Sichtbare erwächst: Jeder soll sich sein eigenes Bild machen.
Ingo Arend
Alfredo Jaar – The Way it is.
Eine Ästhetik des Widerstandes.
NGBK Berlin, Berlinische Galerie, Alte Nationalgalerie.
Noch bis zum 16. September, Katalog, 32 Euro
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