Die Entfesselung zerstörerischer Kräfte im Ersten Weltkrieg beeinflusste, was als Realität und Realismus in der Kunst gelten konnte.
Das zeigt eine opulente Schau in Metz.
Dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, mit dieser Weisheit des antiken Philosophen Heraklit würde heute niemand mehr ernsthaft ins Diskursgetümmel ziehen. Nicht nur, weil die These politisch unkorrekt ist. Zu unsicher ist auch die faktische Beweislage jenseits ihrer philosophischen Deutungskraft: Die Teflonpfanne oder das Internet taugen nur bedingt zu ihrer Illustrierung.
Und doch läuft alles, was man derzeit in einer grandiosen Schau im Centre Pompidou in der lothringischen Metropole Metz sehen kann, auf diese brisante These hinaus. Dass sie sich nicht scheut, diesen militärisch-ästhetischen Komplex ebenso akribisch wie unvoreingenommen aufzufächern, macht ihren Besuch so lohnenswert. Konzipiert war die Großausstellung in der 2010 eröffneten Dependance des Pariser Stammhauses, kaum 50 Kilometer von der deutschen Grenze, als Auftakt zu den Gedenkveranstaltungen zum Beginn des Ersten Weltkriegs in zwei Jahren.
Da lag es nahe, ein Epochenjahr wie das von 1917 zu beleuchten, in dem sich die Grundkonstellationen der Weltgeschichte so dramatisch änderten: In Russland tritt mit der Oktoberrevolution der Kommunismus auf den Plan. Im April treten die USA zum ersten Mal auf europäischem Boden in einen Krieg ein. Und im New Yorker Grand Central Palace legt Marcel Duchamp 1917 zum ersten Mal sein Urinal aus Porzellan in eine Kunstausstellung – eines der vielen Beispiele dafür, wie rapide sich damals die Bedingungen der ästhetischen Produktion änderten.
Der kulturhistorische Querschnitt, den Centre-Direktor Laurent Le Bon und Claire Garnier, die Kuratoren der aufwändigen Schau, durch dieses Epochenjahr treiben, reicht tief: von der Grabenkunst an der Front bis zu den Inkunabeln der Kunstgeschichte. Die Kunsthistoriker kreisen ihr Thema ein von der kriegsfernen Idylle eines Marc Chagall bis zu der offiziellen Kriegsmalerei von Christopher Nevinsons, von der Antikriegskunst Dadas bis zur staatlichen Propaganda in Plakat und Film.
Verzierte Geschosshülsen
Handgeschnitzte Kriegsschiffe unbekannter Soldaten, ein Panzer und ein Torpedo stehen neben Werken Brancusis und Duchamps. Zu den faszinierendsten Exponaten gehört eine riesige Sammlung von Geschosshülsen, die Landser in verzierte Vasen oder Statuen umarbeiteten – beeindruckende Beispiele einer frühen Konversion. Den krönenden Abschluss bildet der 170 Quadratmeter große und 45 Kilo schwere Vorhang, den Pablo Picasso für „Parade“, das „Ballet réaliste“ von Jean Cocteau und Eric Satie, fertigte. Nach der Premiere im Mai 1917 im Théatre du Chatelet schmähte die französische Rechte die multimedialen Kubisten als Parteigänger des deutschen Erzfeinds.
Trotz der opulenten Fülle von Objekten verlieren Garnier und Le Bon aber nie ihren roten Faden aus dem Auge – das Wechselverhältnis von Krieg und Kunst. Dass sich zunächst erwartbar gestaltet: Der Krieg wird von der Intelligenz wie die „Vertreibung aus dem Paradies“ empfunden. So nannte Max Pechstein ein Gemälde aus dem Jahr 1917. Die Aufgabe des Künstlers ist es, dieses Inferno anzuklagen, ob nun mit Hilfe der Malerei oder der – realistischeren – Fotografie. Der Österreicher Albin Egger-Lienz malt Soldaten als entmenschlichte Herde ohne Gesicht, aber immer noch realistisch. Der ungarische Bankangestellte André Kertész hält als Soldat den Feldzug des österreichisch-ungarischen Heeres in Rumänien mit der Kamera fest.
Nach und nach schält sich aus dem Parcours jedoch die Erkenntnis heraus, dass sich die antimilitaristische Kunst und der kulturvernichtende Krieg keineswegs nur unversöhnlich gegenüberstehen. Denn was das Jahr 1917 im Kern ausmacht, ist das Bild einer wechselseitigen Katalyse militärischer und künstlerischer Entwicklung – vielschichtig und verstörend zugleich. Eine Katalyse, die über die Entwicklung des Dazzle-und Camouflage-Painting zur Tarnung von U-Booten, die Kriegsbegeisterung der Futuristen oder die eines Fernand Leger hinausgeht. Dessen „période mécanique“ verdankte der Maschinerie des Tötens, wie der Kriegsteilnehmer sagte, mehr „als allen Museen der Welt“. Vielmehr sahen sich die Künstler gezwungen, ihre Arbeitsweise grundlegend zu verändern, um das Phänomen des technologisch entfesselten Krieges überhaupt erfassen zu können.
Wie wenig nämlich der Realismus der revolutionierten Kriegstechnik gerecht wurde, zeigen zwei Bilder Felix Vallottons. Den Soldatenfriedhof von Chalons mit seinem Meer von Holzkreuzen malte der Künstler 1917 noch in der bekannt unterkühlten Sachlichkeit. In seinem Bild „Verdun“ aus dem gleichen Jahr geht er zu einer abstrakten Sprache über.
Alles zersplittert
Mit Strahlenbündeln, gezackten Linien und verschränkten Perspektiven kreiert der eigentlich an Courbet und Manet geschulte Valloton eine Art Protokubismus. Ähnlich malen später auch Künstler wie Otto Dix und George Grosz. Getrieben von dem Wunsch, das Neuartige, Verheerende des Krieges sichtbar zu machen, ästhetisieren sie ihn auch.
Die Ausstellung versteigt sich nicht zu der These, dass der Krieg der Vater der Avantgarden war. Aber dass er sie – und damit auch ein neues Weltbild – herausbilden half, wird überdeutlich. Zentrales Motiv war die Erfahrung der Zersplitterung. Sie fand ihr Echo gleichermaßen in den verschobenen Porträts Alexej von Jawlenskys, den Skulpturen Ossip Zadkines wie in den Masken zerfetzter Gesichter französischer Soldaten, die der plastischen Chirurgie damals als Vorlage für neue Operationsmethoden dienten. Selbst als der greise Claude Monet in seiner Enklave Giverny, 1917 war er 77 Jahre alt, mit seinen manisch gemalten Seerosenbildern, diesem letzten Aufflackern des Impressionismus, den Sieg der Kunst über den Krieg demonstrieren wollte, spürt man noch die Macht dieses Geburtshelfers der Avantgarden.
Ingo Arend (taz 29.05.2012)
„1917“
Ausstellung im Centre Pompidou-Metz
bis 24. September 2012
Éditions du Centre Pompidou-Metz, Metz, 2012
ISBN : 978-2-35983-019-4
Fotoreproduktion: IGS-CP, L’Isle d’Espagnac
Preis: 49,90 €
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