Ingmar Bergman war melancholisch, tiefgründig, lutherisch – aber das Kino war für ihn ein Ort der Träume. Eine Annäherung an den Hochneurotiker
Wenn man will, und es ist schwer, der Versuchung zu widerstehen, kann man das Gesamtwerk von Ingmar Bergman als den vergeblichen Versuch eines durch schwarze Pädagogik geschädigten Menschen begreifen, die heillos zerbrochenen Bilder von Vater, Mutter und Kind wenigstens zu ordnen. Als das Werk eines Neurotikers, und wie bei den meisten Hochneurotikern gibt es auch bei Bergman viel Faszinierendes und etliches, was einem auf den Geist gehen kann.
Dann gibt es die manische Wiederkehr der gleichen Bilder und Elemente, das Wasser, das Ticken der Uhren, die Farbe rot. Es gibt eine Bergman-Landschaft; besonders bewohnbar scheint sie nicht zu sein. Es gibt die gleichen Konstellationen; die einander bekriegenden Schwestern im Blick des Kindes, die Umkehr der vampirischen Beziehungen, die gefühlskalte, abweisende und „maskierte“ auf der einen, die verzweifelte, liebessehnsüchtige, berührungsssuchende Person auf der anderen Seite. Ein Duell, wechselseitiges Sich-Aussaugen, Dialektik. Unglückliches Bewusstsein auch, denn beide Formen sind für sich nicht lebensfähig. Mit- und gegeneinander auch kaum.
Dialoge mit der Kindheit
Ingmar Bergman empfand sich nicht minder gespalten; in den, der Filme drehen, Theater inszenieren, Interviews geben kann, der Gegenstand von Büchern und Artikeln ist, und in den Menschen. Beide sind einander fremd geblieben, sagte er. Und daher drehte Ingmar Bergman keine „autobiografischen“ Filme, sondern eher Filme über einen Fremden. Einen Fremden, mit dem er die Erinnerungen an eine Kindheit teilte, die eine Hölle voller Gewalt und Unterdrückung war, mit ein paar paradiesischen Seitentrakten. Er lernte hier „lügen“, träumen, fantasieren, filmen. Der Bruder, der es nicht tat, musste an dieser Kindheit zerbrechen, von der wir uns in Fanny und Alexander ein vages Bild in mildem Licht machen. Gespaltene Anima in roten Räumen, auf der Suche nach dem Mütterlichen, so ließe sich das vielleicht skelettieren.
Selbst in den leichteren Filmen, selbst in historischem Gewand, selbst im doppelten Exil von Bergmans schrecklicher Zeit in München, geflohen vor einer schwedischen Sozialdemokratie, die ihm, wie er es empfand, nach dem Leben trachtete, in fremdem Land und in fremder Kinematografie (sogar nach Hollywood führte ein Seitenweg), tanzt dieses Skelett des Bergman-Films. Obendrein arbeitet er lange Zeit mit derselben Crew und denselben Schauspielern. Und was das schlimmste bei dem enorm produktiven Regisseur ist: Er ist in der Tat um so besser, je näher er bei sich ist, je quälend-autobiografischer etwa seine Filme sind, je lautstärker sich in den Vordergrund drängt, was Bergman selber seine „Dämonen“ nennt. Immer wieder gab es Phasen, in denen die Welt einfach genug von Bergman-Filmen zu haben schien, und immer wieder hat Ingmar Bergman dann einen Film gedreht, der noch seine heftigsten Kritiker zum Verstummen brachte. Einen neuen Bildertanz der Seelenfrauen um den väterlichen Phallus und den mütterlichen Schoß. Einen neuen Anlauf zur Wiedergeburt durch die Kunst.
Über seine Neurosen wusste er Bescheid
Ingmar Bergman gehörte zu den Filmregisseuren, die vielleicht mehr als manche Vertreter der verschiedenen Neuen Wellen die Moderne in die Kinematografie gebracht haben. Genauer gesagt, er verband mehrere Strömungen der Moderne – die Philosophie des Existentialismus, die Impulse der Psychoanalyse und die Techniken des Surrealismus – zu einer eigenen Bildersprache wie Federico Fellini im Süden oder doch: als schwerblütiger, protestantischer Anti-Fellini.
Ingmar Bergman wusste über seine Neurosen genug Bescheid, um ihre Beziehung zu seiner Kunst transparent zu machen: „Wenn es ein Fazit meiner Lebenserfahrung gibt, dann ist es vielleicht die, dass alle meine Kreativität eigentlich ausgesprochen kindlich ist. Sie beruht auf meiner Kindheit“, so Bergman in seinem späten, langen Interview mit Jörn Donner, das einen bemerkenswert uneitlen, präzisen und nachdenklichen Künstler bei der unterstützten Selbsterforschung zeigt: „In weniger als einer Sekunde kann ich in meine Kindheit reisen, an die magischen Orte, wie ich es in Fanny und Alexander benutzt habe. Ich glaube, dass alles was ich je getan habe, und was einigen Wert besitzt, in meiner Kindheit wurzelt. Oder in einer Dialektik, in einem Dialog mit meiner Kindheit. Ich habe nie Abstand von meiner Kindheit genommen, sondern ich habe Dialoge mit meiner Kindheit geführt.“
Therapie fürs Publikum
Für diesen Dialog benötigt der Film offensichtlich einen speziellen Raum. Einen geschlossenen Raum, der viel leichter zu betreten als zu verlassen ist. Ein existentialistischer Raum, jene Hölle, die nach Sartre die anderen sind, ein symbolischer Raum, der Raum einer Verschmelzung, der Raum, in dem eine psychoanalytische Arbeit der „Übertragung“ geleistet wird, aber auch ein historischer Raum, der Raum, in dem sich Unbehauste treffen, jene, denen es wie Ingmar Bergman selber nicht gelingt, ein bürgerliches „Heim“ für eine bürgerliche Familie zu gründen, aber auch jene, die auf der Flucht sind. Es ist ein Hotel, ein Haus mit einem toten Menschen, später eine Färöer-Insel des Regisseurs. In diesem Raum der Erinnerung und des Traumes begegnen sich Fragmente von Personen, Masken, die einander als Spiegel suchen. Personen spalten sich, sie verschmelzen miteinander, tauschen die Rollen. Am Ende geht meistens eine der Personen fort. Man kann das als Happy End ansehen. Tatsächlich sind selbst die Filme von Ingmar Bergman, die uns besonders viel zumuten, durch ein solches Ende geheilt.
Für Ingmar Bergman standen vor dem Filmen drei Fragen: Woher komme ich? Wer bin ich? Und warum bin ich so, wie ich bin? „Haben Sie diese Fragen beantworten können“, fragte Donner. Und Bergman seufzte, nahm die Brille ab, zögerte und sagte: „Nein. Ich weiß jetzt schlechter über mich Bescheid, oder besser gesagt: Ich weiß weniger, ich weiß jetzt weniger über mich selbst als vor zehn Jahren, als früher.“ Am Ende seines Arbeitslebens konnte er das mit großer Gelassenheit sagen. Denn auch darin ähneln sich die Psychoanalyse und die Kunst, dass das Wort Ende immer nur vorläufig zu verstehen ist.
Eltern sind Hölle und Paradies
Ingmar Bergmans Filme gehören zu den offenen Kunstwerken, die sich bei jedem Ansehen ändern, die nie eine endgültige Botschaft vermitteln, und die es sich und uns nie leicht gemacht haben. Nach den früheren, noch ein wenig allegorisch maskierten Arbeiten, traf Bergmans Film Das Schweigen die Kultur der westlichen Nachkriegsgesellschaft tief im Inneren. Nicht so sehr, weil darin Sexualität so explizit zum Bild wurde, wie es sich diese Gesellschaft zu der Zeit nicht gern zumutete, sondern vor allem weil da diese Suche begann, die seine Filme immer wieder aufnehmen sollten bis zum großartigen, entspannten Spätwerk Fanny und Alexander. Die Suche des Kindes nach den Eltern, die immer beides sind, die Hölle und das Paradies.
Ist es nicht sonderbar, jemanden bei der Arbeit zu sehen, der sich so ernsthaft mit sich selber beschäftigte? Oder mit uns, die wir im Kino des Ingmar Bergman eine so eigenartige Rolle einnehmen. Da breitet einer Seelenteile vor uns aus, so schmerzhaft und schön, dass man dem kaum etwas entgegenzusetzen hat, und überlässt uns die Arbeit: Bergman, der präzise Kenner der eigenen Neurosen, ist in seinen Filmen ein Patient, der einen Teil der schweren Aufgabe der Behandlung an das Publikum abgibt. Und wir suchen in seinen Filmen nach Lösungen für die Probleme seiner Figuren, und merken, dass wir in Wahrheit nach Lösungen für unsere eigenen Probleme suchen. Eine Art kreative Traumdeutung.
Ein gewaltiges Stück Traumarbeit
Und wie es bei Träumen ist: Im Kern stecken oft extrem verdichtete Bilder, scheinbar einfach, aber mit ungeheurer emotionaler Kraft. Viele Filme von Bergman entstanden um solche Traumbilder herum wie Persona, ein gewaltiges Stück Traumarbeit an einem einzigen Bild: vier weiß gekleidete Frauen in einem roten Raum.
Ist es nicht sonderbar, jemanden bei der Arbeit zu sehen, der mit einer fast impertinenten Hartnäckigkeit in die Seelen tauchte, weil er glaubte, es gebe da etwas zu retten? Oder wenigstens zu verstehen? Anstatt sich zu amüsieren oder zu explodieren.
Ingmar Bergmans Filme stammen aus einer Zeit, als das Kino noch geholfen hat. Gerade weil es sich und manchmal auch uns die Arbeit so schwer macht.
Text: Georg Seeßlen, Markus Metz (zuerst erschienen in „Freitag“ Kultur Retrospektive 10.02.2011)
Bilder: Kinowelt / Arthaus
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