Bescheidener Vorschlag, im Rückblick nicht nur politische Filme zu sehen, sondern Filme auch politisch zu sehen
Das Jahr „68“ – diese Chiffre, die einem schön langsam gehörig auf die Nerven zu gehen beginnt (oder anders gesagt: Der 68-Diskurs des Jahres 2008 sagt sehr viel mehr über das Jahr 2008 als über 68), steht unter vielem anderen für eine Bewegung der Öffnung zwischen dem gewöhnlichen Ort der Utopie, nämlich der Kunst, und dem gewöhnlichen Ort der Wirklichkeit, nämlich dem öffentlichen Raum. Zu allem Überfluss führt diese Öffnung auch über das Private und noch genauer durch das Subjekt, durch den Körper. Das „Scheitern“ oder „Gelingen“ bemisst sich daher nicht allein an der (mehr oder weniger „revolutionären“) Umgestaltung in den einzelnen Bereichen (Umbau der Kunst, Umbau der Politik oder Umbau der bürgerlichen Familie), sondern auch an der Nachhaltigkeit der Öffnungen. Da sieht es schlecht aus.
Ein Medium eben solcher Öffnungen ist das Kino, das freilich in seiner Totalität die Revolutionen innerhalb der einzelnen Segmente nur höchst unvollständig begleiten könnte. Die „Nützlichkeit“ des Films für die Politik ist so fraglich wie es offenkundige Grenzen der Politisierung des Kinematografen gibt. Wenn das Kino allzu politisch wird, wird es ebenso falsch, wie die Politik falsch wird, die sich als cineastische Inszenierung missversteht. So war Jean-Luc Godards Forderung, statt „politische Filme“ zu machen politisch Filme zu machen, zugleich Programm und Ausweg. Man hätte, in einer weniger poetischen Sprache, auch einfach davon sprechen können, die Beziehung zwischen Film und Politik dialektisch zu begreifen.
Aber wir wollten ja „Aussagen“, damals wie heute. Daher entsteht dieser merkwürdige Eindruck von Ungleichzeitigkeit: Die Revolution, so sieht es aus, hat gerade erst begonnen, und da phantasiert das zugehörige Kino schon das Scheitern. Der Bürger will gerade das Gaffen sein lassen und sich in die Züge der Revolte einreihen, da erzählt sein Kino schon von der Gefangenschaft im privaten Raum und der Unauflöslichkeit seiner sexuellen Ökonomie. Und gerade hat man sich in ein Weltbild des Historischen Materialismus eingearbeitet, da begegnet man in seinem Kino wieder Exzessen des Romantischen.
Wenn man „68“ als Bewegung der Öffnungen ansieht (eine Bewegung, die eben in die unterschiedlichsten Richtungen führt und deswegen ein schönes Durcheinander ergibt), dann gilt es, was das Kino anbelangt, zwei Vorgänge voneinander zu unterscheiden. Das erste ist eine neue Aneignung des Kinos und seiner Geschichte, das andere die Suche nach einem neuen Film. Es ging nicht nur darum, andere Filme zu sehen, sondern Filme anders zu sehen, sie durchscheinend zu machen, nicht nur für die politische Ökonomie, nicht nur für die Psychologie der Traumfabrik, nicht nur für Struktur und Zeichen, sondern auch für die konkrete Geste des „Autors“. Das Kino war der erste Ort und vielleicht der letzte, in dem sich die Widersprüchlichkeit der Geschichte aushalten ließ. Und es war der Ort, an dem sich die Revolte in Zeit und Raum verwurzelte. Oder im Mythos, wie man es nimmt. Der Ort jedenfalls, an dem nicht nur Liebe und Verzweiflung, sondern auch Solidarität und Kritik verhandelt wurden. Und an dem sich ein Diskurs der Gewalt entzündete.
Zu den wohl bedeutendsten Öffnungen gehörte die zu den Kinematografien der Nachbarn, die Entdeckung des Verlorenen und Verfemten in der Filmgeschichte und die Auflösung der strikten Trennungen zwischen High und Low: Das gesamte Feld der kinematografischen Erfahrung wurde zugleich weiter und umkämpfter. So ging die Befreiung zugleich mit einem neuen Vermessen einher, und einer der ersten und bedeutendsten Orte dieser Öffnung war die Cinémathèque Francaise in Paris, ein Treffpunkt in der Stadt und ein Pilgerort in Europa. Dass die „Affäre Langlois“, die Proteste gegen die Abberufung des Gründers und Leiters, Henri Langlois, dann zu einem der Auslöser für die Praxis der Revolte wurde, erscheint da nur folgerichtig. Langlois, der während des Krieges heimliche Kinovorführungen organisiert hatte und dem es gelungen war, viele Filme vor dem barbarischen Zugriff der deutschen Besatzer zu retten, das war eine Person und Institution gewordene Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart. Unter den Leuten, die damals protestierten und tatsächlich den Widerruf seiner Absetzung erreichten, waren die Vertreter der Nouvelle Vague ebenso wie die „politisierten“ Studenten, Künstler und Bürger. An diesem Schnittpunkt von Konservation und Aufruhr, Ästhetik und Politik, Geschichte und Gegenwart, Autorität und Anarchie, war vielleicht noch kein gemeinsames Ziel auszumachen. Aber neben einem gemeinsamen Freund und einem gemeinsamen Gegner war ein gemeinsames Empfinden zu spüren: Erfahrung und Bewusstsein.
Wie kinematografisch dann die Revolution war, ist schwer zu sagen. So bedeutsam der Film und das Kino für die Generation der „68er“ auch sein mochte, die verschiedenen Impulse nachträglich (und gar aus der Perspektive der RAF und ihrem „Leben wie im Kino“) einer umfassenden Kinematografisierung zu unterziehen (eigentlich war ja alles nur ein großes, wildes Film-Happening!), gehört zu den Strategien der Verdrängung: Wenn man sich die 68er schon nicht zum wohlfeilen Prügelknaben machen kann, dann will man sie wenigstens im Ästhetischen auflösen. Tatsächlich hat ja nicht nur in der Politik, sondern auch im Kino ein umfassender Prozess der Restauration stattgefunden. Und das Thema „68 und der Film“ wird eher symptomatisch und, nun ja, nostalgisch behandelt als in der Fortsetzung einer Dialektik von Kino und Politik.
Das Kino der Jahre um 1968 kann man, was die Oberfläche anbelangt, mit wenigen Schlagworten beschreiben: Es gelangt in Bereiche der gesellschaftlichen Praxis, die ihm vorher verschlossen waren. Es bricht mit Abbildungscodes, nicht allein was den Körper und die Sexualität anbelangt. Es versucht, sich selbst, die Bedingungen seines Entstehens und seiner Wirkungen zu reflektieren. Es will – das und weniger das autonome „Genie“ fordert den auteur – die ästhetisch- politische Entscheidung an die Stelle der Gewohnheit und der ästhetischen Regel setzen. Es überträgt Elemente der Verfremdung aus anderen Bereichen aufs Filmische. Es versteht sich in seiner Darstellung von Gesellschaft und Macht als parteiisch. Es sucht nach einer offenen Form beim Herstellen und beim Sehen. Es sucht nach neuen Produktionsmöglichkeiten und nach Orten jenseits des bürgerlichen Lichtspielhauses. Zur Schönheit eines Films gehört es, dass man ihm die Schwierigkeiten ansieht, die bei seiner Produktion überwunden werden mussten. Das Politische und die ästhetische Bildung verbinden sich mit dem, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Schmutz und Schund. Das Kino der 68er Jahre übernimmt Impulse aus der Rock-Musik; es entsteht aus der Spannung zwischen Marx und Coca Cola; es begreift den klassischen Plot als Gefängnis und den Song als direktere Form der Erzählung; es öffnet Beziehungen zwischen dem Vor-Geschriebenen und dem Improvisierten, zwischen dem Bereich des Professionellen und dem Dilettantischen (auch in einer einzigen Person). Es stellt mit seinen Mitteln die Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage. Es begreift das Bresson´sche Off, den dunklen Raum, in den die Leinwand-Menschen jenseits der Handlung durch einen Akt der Gnade gelangen, als den Raum der Geschichte, in dem die Revolution nur stattfinden kann: Die Fortsetzung eines „guten“ Films ist weder nur der nächste Film noch ein Empfinden der Lösung und Erlösung, die Fortsetzung eines guten Films wäre die politische Aktion. Für dieses Kino gibt es keine zu Ende erzählten Geschichten. Das Kino benennt reale Widersacher, reale Verbrechen und reale Verhältnisse, misstraut dagegen der Illusion realer Menschen auf der Leinwand. Das Kino der 68er möchte ein Publikum, das sich nicht im Traum, sondern in der Aktion vereint, es vermeidet Überwältigung (selbst dann, wenn es sich um „richtige“ Aussagen handelt). Dieses Kino produziert und liebt ein theoretisches Umfeld, es nimmt gleichsam Elemente der Diskussion in sich auf. Es erprobt Gesten der Solidarität. Es glaubt an sich und in sich an das Neue.
Natürlich lassen sich sehr viele Elemente dieses kinematografischen Aufbruchs ins Negative kehren: Dieses Kino hat schwer zu tragen unter der Bürde seiner Ansprüche. Es kehrt, in schlimmsten Fällen, in sich selbst, es liefert sich auf dem Umweg über den Dilettantismus der Prätention aus, es entwickelt eine merkwürdige Form der Melancholie und des Selbstmitleids, es stellt – bildhaft – leere Behauptungen auf, es experimentiert sich zu Tode, es verstärkt, statt des Utopischen, die Widersprüche, es sucht Halt in der Ideologie. Es öffnet sich dem Verrat und zugleich der manischen Angst vor dem Verrat. Mit der gleichen Radikalität, mit der es die Verbindungen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten öffnete, schließt es sie auch wieder: Das Kino wird wieder zum Innenraum. Aber auf eine neue Weise. Auf den Aufbruch der Kinder, die lange vor Marx und Coca Cola die Kinder ihrer Eltern waren, aus dem Innenraum in die Geschichte, folgte der Einbruch der Geschichte in den Innenraum der Familie. Man konnte diese Wendung als „Entpolitisierung“ missverstehen.
Paradoxerweise spukte von Anfang an die Vorstellung von „Heimat“ in den Filmen, in den deutschen vor allem. Dass sich der Post-68-Film dann so angelegentlich um die Wiedergewinnung von Heimat kümmerte, in der Zeit, in der Topographie, im filmischen Subjekt wieder ein verlässliches (wenn auch durchaus tragisches) Zentrum ersehnte, dass man so drängend „wieder erzählen“ wollte, ist nicht so sehr eine Reaktion auf das „Scheitern“, wie es unser kulturhistorischer Mythos gerne will. All die Impulse des „68er-Kinos“ sind ja nicht verschwunden, und es sind auch nicht alle als formale Spiele oder als integrierte Bausteine der Restauration von den Traumfabriken aufgefressen worden. Sie sind lebendig genug, nach einer Fortsetzung zu verlangen.
Freilich, so wenig wie es „68“ gibt, gibt es ein „68er-Kino“; die Vielfalt dessen, was in jenen Jahren jenseits der großen Traumfabriken oder immerhin an ihren Rändern geschah, lässt sich nicht als Methode übernehmen. Es ist das Prinzip der Öffnung selber, was uns abhanden gekommen ist, die Bereitschaft, den fiktiven Innenraum Kino aus einer reflexiven Erstarrung zu lösen und ihn von einem Flucht- wieder in einen Aufbruchsort zu verwandeln.
Einen utopischen Ort wie die Cinémathèque Francaise gibt es dazu heute nicht mehr, und auch nicht die vielen kleinen Ableger von einst. Stattdessen sind Kinos zu Orten der Heterotopien geworden, zu Anschlüssen und Experimenten ohne vorgegebenes Ziel, wobei Dissidenz sich im Multiplex so sehr ereignen kann wie Affirmation im Programmkino. Im Jahr 2008 braucht man das Kino von 1968 gar nicht zu feiern, wenn man nicht bereit ist, ein neues zu sehen und zu machen.
Georg Sesseln, derFreitag 20.06.2008
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar