Ein Mann starrt auf ein Schulfoto mit jungen Mädchen. Fragt, ob Marie das Mädchen oben links sei, … mit dem traurigen Blick. Jedes Jahr erlaubt ihm seine Exfrau einmal zu raten und jedes Jahr liegt er daneben. Etwas scheint schief gelaufen zu sein, bei Privatdetektiv Beauvoirs (Michel Serrault) letzten Auftrag. Trotzdem wird „Das Auge“ auf den Fall Paul Hugo angesetzt. Ein reicher junger Mann, dessen Eltern besorgt sind, ihr Sohn könnte mit der falschen, nicht standesgemäßen, Frau zusammenkommen. Lucie Brentano (Isabelle Adjani) heißt die so unschuldig aussehende Schönheit. Und hier blickt „das Auge“ zum ersten mal in den Abgrund: Die junge Frau tötet den reichen Schnösel, nimmt den Schmuck und entledigt sich seiner Leiche im Teich. Fasziniert von ihr, folgt Beauvoir der Femme Fatale und meint in ihr seine Tochter wiederzuerkennen.Die junge Dame reist durch Europa, wechselt täglich Aussehen und Namen und hinterlässt eine Spur von Leichen. Ständig beschattet vom „Auge“. Immer mehr steigert er sich in die Überzeugung, sie sei seine Tochter Marie. Endlich kann er die nie eingenommene Vaterrolle übernehmen. Indirekt. Er beseitigt die Leichen und führt fiktive Gespräche mit ihr. Und nicht nur sein Handeln wird durch traumatische Geschehnisse in der Vergangenheit definiert. Marie spricht auch ins Leere… zum fehlenden Vater. Beide kompensieren den Verlust mit Spinnereien über die andere Figur. Nichts wirkt mehr bodenständig oder greifbar. Vergangenheit und Realität entgleiten zunehmend und beide lassen sich von einer Spirale aus Sehnsucht, Gewalt und Fiktion mitreißen. Die Handlung scheint wie ein finaler Punkt zweier ewig nach Antworten suchender und zerstörter Charaktere zu sein. Ein Alptraum, an dessen Ende beide unweigerlich zueinander finden werden, egal ob sie die wirkliche Tochter ist oder nicht.

Marc Behm schrieb neben der Story zum Beatles Film „Help!“ auch die Vorlage zu diesem Neo-Noir Film. Das Drehbuch verfasste Michel Audiard (u.a. „Das Verhör“). Was am Ende heraus kam, lässt sich schwer einordnen. Film Noir, Roadmovie, Psychothriller mit stark zynischen Tendenzen. Den größten Reiz neben der Story macht die Rolle von Michel Serrault mit ihrer unangemessenen Mimik und dem irrwitziges Verhalten aus. Und natürlich auch die engelsähnliche Isabelle Adjani, die hier gleich mal in verschiedenen Rollen aufgehen kann. Dass man bei einer solch höllische Fahrt in seelische Abgründe noch Lachen kann, habe ich auch noch nicht erlebt. Schrecklich schön und komisch zugleich wirkt diese Obsession. 16 Jahre habe ich warten müssen um diesen Film nochmals in seiner ganzen Länge von knapp zwei Stunden sehen zu können. Bis auf eine französische DVD mit französischen Untertiteln ist der Film nur auf VHS erhältlich bzw. auf einer US-DVD die arg beschnitten ist. Über das schlechte Remake (Das Auge – Eye of the Beholder) von 1999 mit Ewan McGregor will ich kein Wort verlieren. Das Ding gibt es natürlich ungekürzt.

André Thaetz

Das Auge / Mortelle randonnée (Frankreich 1982, Regie: Claude Miller)

 

 

 

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