Müssen wir immer die Wahrheit sagen, wenn wir nicht lügen dürfen? Ist es erlaubt, Terroranschläge durch Erschießen der Täter zu verhindern? Haben unsere Überlegungen und Gründe Einfluss auf den Lauf der Dinge oder sind nur unsere Körperzustände kausal wirksam? Gibt es rechtliche Freiheiten in einer physikalischen Welt? Diese Fragen sollen durch Bezugnahme auf die Philosophie Kants in Auseinandersetzung mit Positionen der Gegenwart beantwortet werden.

Thomas Scheffer

Inhalt

 

Teil I: Würde und Wahrhaftigkeit – Kants Moralphilosophie

Intention

Obwohl der Begriff der Menschenwürde bereits in der Renaissance verwendet wurde, bestimmt erst Kant sie als einen Wert, der durch keinen anderen aufgewogen werden kann; und in diesem Sinne ist ihre Garantie in den Artikel 1 des Grundgesetzes eingegangen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Gründung des Völkerbundes 1920 ist wesentlich durch Kant inspiriert, der forderte, dass alle Staaten als Republiken einer globalen Föderation angehören sollten, um Kriege zu verhindern und die elementaren Rechte der Menschen zu sichern. (Zum ewigen Frieden, VIII, 350ff.) Ebenso ist Kant aber der Philosoph, der ausnahmslos jede Lüge für verboten erklärt hat. Selbst wenn jemand uns nach dem Aufenthaltsort unseres Freundes fragt, um diesen umzubringen, müssten wir bei der Wahrheit bleiben. – Wie ist das zu verstehen? Wie ist es möglich, dass der bedeutendste Denker der Aufklärung in Deutschland so eine allem Anschein nach völlig lebensfremde Auffassung vertritt? Um diese Frage zu klären, sollen im Folgenden das Fundament des Würdekonzepts, die Gründe für die Forderung nach Wahrhaftigkeit und die Grenzen der erlaubten Offenherzigkeit dargestellt werden.

1. Kants Leben

Ganz offensichtlich hat Kants Erziehung einen Beitrag zur Entstehung seiner moralischen Einstellung geleistet. Er wurde als Emanuel am 22.4.1724 als viertes von neun Kindern (von denen vier früh starben) des Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina in Königsberg in Ostpreußen geboren. Sein Vater war Riemermeister, d.h. er stellte Zuggeschirre für Pferde und Ochsen her und war somit Handwerker. Das war zwar ein kleinbürgerlicher Beruf, aber die Organisation des Handwerks in Zünften brachte durchaus Rechte und einen Ehrbegriff mit sich, der Aufrichtigkeit und Selbstständigkeit einschloss (Kühn 2001, 61). Kants eigenen Aussagen nach hat aber seine Mutter ihn maßgeblich geprägt. Sie habe „den ersten Keim des Guten“ in ihn gelegt, sein „Herz den Eindrücken der Natur“ geöffnet, und ihre „Lehren“ hätten „einen immerwährenden heilsamen Einfluss auf (sein) Leben gehabt“ (nach Kühn 2001, 49). Seine Mutter hatte sich einem religiösen Trend in Königsberg angeschlossen, der vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. durchaus begünstigt wurde, dem Pietismus. Der König musste seine Reformen zur Schaffung eines absolutistischen Staates nämlich gegen den orthodox lutherischen Landadel durchsetzen und suchte hierfür die Unterstützung des Bürgertums, indem er pietistische Schulen förderte und Lehrstühle mit Pietisten besetzte. Der Pietismus betonte die Wichtigkeit von eigenständigem Bibelstudium, Laienpriestertum und einer individuellen Frömmigkeit, die sich in Mildtätigkeit ausdrückt. Er war eine weniger theologisch begründete als vielmehr emotional verankerte Volksfrömmigkeit, und er hat Kants Eltern gerade als kleinbürgerliche Handwerkerfamilie beeinflusst. (Kühn 2001, 54f.)

Auch der erste Förderer Kants, der Leiter des Gymnasiums und Theologieprofessor Franz Albert Schulz war Pietist. Aber gerade an die Zeit in dieser Schule, dem „Collegium Fredericianum“, der sogenannten „Pietisten-Herberge“, dachte Kant später mit „Schrecken und Bangigkeit“ als „Jugendsklaverei“ zurück. (Kühn 2001, 63), und in seiner philosophischen Abhandlung zur Pädagogik betont Kant, es sei unbedingt nötig, Schulkinder zunächst mit den moralischen Grundsätzen des Handelns und später mit dem Katechismus des Glaubens vertraut zu machen. (MdS, VI, 484). Aus seiner pietistischen Erziehung stammt Kants vermeintlicher Rigorismus in der Forderung nach Aufrichtigkeit also nicht. Ganz im Sinne der Aufklärung sucht Kant als Philosoph vielmehr nach einer von jeder religiösen Offenbarung unabhängigen Begründung moralischer Prinzipien, und er versucht, unsere Überzeugungen, wir könnten uns zwischen richtigen und falschen Handlungen entscheiden und seien für unsere Handlungen verantwortlich, so zu beschreiben, dass sie mit unserer Erfahrung eines kausal determinierten Naturgeschehens vereinbar sind.

Kants akademische Laufbahn ist schnell beschrieben: Nach dem Studium der Fächer Mathematik, Naturwissenschaften, Theologie, Philosophie und Latein von 1740 bis 1746 arbeitet er zunächst – wie üblich – als Hauslehrer. 1755 wird Kant promoviert, und im selben Jahr habilitiert er sich mit einem Plädoyer für die Unterscheidung logischer von faktischen Wahrheiten. Seit 1755 hält er als Privatdozent Vorlesungen. Erst 1770, also mit 46 Jahren erhält er eine Professur für Logik und Metaphysik in Königsberg.

Von den frühen akademischen Schriften abgesehen, schreibt Kant als einer der ersten Hochschullehrer in einem von der lateinischen Grammatik geprägten Deutsch. In seinen Vorlesungen trägt er aber nicht seine eigene Philosophie vor, sondern orientiert sich wie üblich an genehmigten Lehrbüchern zu den einzelnen Fachgebieten (Kühn 2001, 129). Seine ganz eigene, heute als Transzendentalphilosophie oder kritischer Rationalismus bekannte Philosophie entwickelt Kant erst nach dem sog. stillen Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780, beginnend mit der Niederschrift der (1. Fassung „A“ der) „Kritik der reinen Vernunft“, erschienen 1781, in nur einem halben Jahr. Sie ist sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk. In einer für ihren hohen Abstraktionsgrad und die komplexe Systematik erstaunlichen Dichte folgen die moralphilosophischen Werke „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) und „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). Die 1790 erscheinende „Kritik der Urteilskraft“ behandelt insbesondere den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit in der Betrachtung der Natur und des Schönen. Die Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 beschreibt die Religion – in Umkehrung des bisherigen Verhältnisses – als Magd einer eigenständigen Vernunftmoral und wird vorübergehend verboten; und als letztes Werk vollendet Kant 1797 die „Metaphysik der Sitten“, in der die Grundlagen des Rechts und der Tugendlehre behandelt werden. Alle diese Werke gehören zur Weltphilosophie und werden bis heute diskutiert. (Auf die genannten Schriften wird im Folgenden mit der Band- und Seitenzählung der Akademieausgabe Bezug genommen.)

Bei seiner schwachen Konstitution erlaubte Kant nur sein sehr disziplinierter Lebenswandel diese Arbeitsleistung. Bekannt, ja bespottet sind seine sehr regelmäßigen Mittagsspaziergänge. Kleinlich und eher konservativ war Kant aber erst im hohen Alter. Als junger Mann war er gern gesehener Gast auf den Gesellschaften Königsbergs (Kühn 2001, 140), das unter russischer Besatzung im Siebenjährigen Krieg in den Augen ihrer Bewohner ein geradezu „zeitvertreiberischer Ort“ wurde (Kühn 2001, 139). Kant galt als charmant und war, trotz seiner leicht buckligen Figur, als der elegante Magister auch bei Damen beliebt. Geradezu befreundet war er mit der drei Jahre jüngeren Gattin des Grafen Keyserlingk, die ihn auch zum Lehrer eines ihrer Söhne bestellte. (Kühn 2001, 140f.)

Später pflegte er in seinen langen Mittagspausen alltägliche Tischgesellschaften. Zu ihnen lud er Freunde und gerne weit gereiste Kapitäne ein, die Königsberg anfuhren. Und diese trugen zu der erstaunlichen Weltläufigkeit seines Denkens und seiner Philosophie bei, denn sie brachten Neuigkeiten aus dem Ausland und Veröffentlichungen mit, die ihm seine Freunde, der Theologe Johann Georg Hamann oder der englische Kaufmann Joseph Green nötigenfalls übersetzten. Ohne je geheiratet oder Königsberg für längere Zeit verlassen zu haben, stirbt Kant nach Altersschwäche am 12. Februar 1804.

2. Kants Reaktion auf die philosophische Ausgangslage

Schon in seinen frühen Schriften ist das Bemühen festzustellen, den kontinentaleuropäischen Rationalismus mit dem angelsächsischen Empirismus zu versöhnen. Die Anhänger dieser Strömungen stritten darum, ob eher das Denken oder die Wahrnehmung Quell sicherer Erkenntnis ist. Den einen ist die Mathematik, den anderen sind die sich entfaltenden Naturwissenschaften Vorbild und Garanten ihrer Theorien. An der einfachen Vorstellung, man könne die Naturgesetze aus der Wiederkehr der Ereignisse gleichsam ablesen, hatte aber schon der schottische Empirist David Hume selbst Kritik geübt: Keine noch so häufige Erfahrung einer bestimmten regelmäßigen Aufeinanderfolge von Ereignissen könne es rechtfertigen zu behaupten, dass eine entsprechende Verknüpfung in allen möglichen Fällen bestehe. Die Induktion, d.h. der Übergang von endlich vielen gegebenen zu unendlich vielen möglichen Fällen sei keine logische Folgerung, sondern es sei vielmehr unsere Gewöhnung, die uns an universelle Naturgesetze fester Wirkungszusammenhänge glauben lasse.

So überzeugend Humes Einwand ist, so unbefriedigend musste Kant seine Lösung finden. Wahrheiten und Wissenschaften, also objektiv gültige Überzeugungen vom Bestehen bestimmter Sachverhalte, können nicht auf bloßen psychologischen Assoziationsgesetzen beruhen. Kant behauptet, dass Erfahrung durch die Anwendung der Logik und der Mathematik auf unsere Wahrnehmungen zustande kommt. Die newtonischen Mechanik ist für ihn das Musterbeispiel der Wissenschaftlichkeit, und die Arithmetik und die Geometrie zeigen, dass ihre Prinzipien nicht aus der Erfahrung stammen, sondern angeboren sind. Ganz unabhängig von ihr und mit zweifelsfreier Gewissheit können wir hier Kalkulationen und Konstruktionen vornehmen, und gerade auf der Grundlage dieser Gewissheit machen ihre Prinzipien uns auch empirische Sachverhalte verständlich.

Die Geometrie schließt nach Kant aber offenbar die Konzeption des Raumes ganz im Allgemeinen ein, und jede Erkenntnis, auch die der Arithmetik, setzt offenbar voraus, dass das erkennende Subjekt im Verlauf der Zeit seine Identität behält. Das Bewusstsein „Ich denke“ ist zwar keine rein gedankliche Selbsterkenntnis, wie Descartes annahm, da es sich auf keinen bestimmten Zeitraum bezieht (B 428), aber sich sein Denken als Leistung bewusst machen zu können, ist nach Kant eine notwenige, eine – wie er sagt – Bedingung a priori allen Erkennens. Und solche Bedingungen sind auch die Fähigkeiten, sich überhaupt im Raum und der Zeit zu orientieren. Die Begriffe Raum und Zeit können, so argumentiert er, nicht erst nachträglich auf der Grundlage von Erfahrungen von Körpern im Raum und Prozessen in der Zeit gebildet werden, denn um diese Erfahrungen zu machen, muss man die Dinge und Ereignisse schon in Raum und Zeit wahrnehmen.

Wenn wir Erfahrungen sammeln, verhalten wir uns nach Kant – bildlich gesprochen – wie Fischer. Wir werfen im Meer unserer Empfindungen und Wahrnehmungen ein Netz aus, das aus der Struktur der Räumlichkeit und dem Grundsatz der kausalen Verknüpfung aller Ereignisse in der Zeit besteht. Aus dem Material unserer Sinne formen wir denkend Meinungen über äußere Gegenstände oder auch innere Zustände, und wenn eine Wahrnehmung bedeutungsschillernd im Netz unserer Wissbegierde zappelt, dann machen wir sie dadurch zu unserem Fang, zu einem Bestandteil unseres sicheren Wissens, dass wir diese Meinung so lange um- und überformen, bis ihr Gegenstand mit allen die ihm gleichen unter – zumindest vorläufig – allgemein gültige inhaltlich bestimmte Kausalgesetze gebracht ist. Wenn es außer uns – also jeweils mir – selber noch andere erkennende Subjekte gibt, dann müssen wir uns bei diesem Fang natürlich auch mit ihnen bzw. mit unserer Erkenntnis von ihnen auseinandersetzen und die Erkenntnisse, die wir ihnen zusprechen, in einem gemeinsamen Netz eines zusammenhängenden Raumes in einer durchgehenden Zeit verorten.

Kants Philosophie ist nach dem Muster der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes eine Bewusstseinsphilosophie. Wie in Bezug auf eine Black-Box sucht Kant nach den Mechanismen, die aus einem gegebenen Stoff eine Erfahrung machen, die uns zur Orientierung dienen kann. Und dieser Stoff darf natürlich nicht bereits aus Erfahrungen bestehen. Vertrautheiten, intuitive Bekanntschaften, ganz subjektive, sog. private Erlebnisse z.B. von Sinnesqualitäten, von „Qualia“, wie man heute sagt, sind hier das Ausgangsmaterial. Die ersten Verarbeitungen dieses Materials in der Phantasie werden aber so weit von allem individuell Subjektiven geläutert, dass nur überindividuelle Feststellungen über das Verhalten von Körpern der klassischen Physik übrig bleiben. Farbe und Ton sind nur Indizien für Materie und Schwingung.

Aber auch solche momentanen, Beobachtungen ausdrückenden Wahrnehmungsurteile haben nur bedingte Gültigkeit. Bezüglich ihrer endgültigen Wahrheit vertritt Kant eine Kohärenztheorie. Zugriff auf die Dinge an sich, auf ihre Beschaffenheit unabhängig von unseren Wahrnehmungsfähigkeiten, haben wir nicht. Wir können die von uns beanspruchten Erkenntnisse letztlich also nicht an den Dingen überprüfen. Soweit wir den Eindruck haben, dies zu tun, gleichen wir unsere Beobachtungen untereinander oder mit denen anderer ab. Der Zusammenhang der beobachteten Phänomene nach allgemeinen – wenngleich möglicherweise vorläufigen – Naturgesetzen und damit der Zusammenhang der entsprechenden Urteile in einem umfassenden erkennenden Bewusstsein entscheidet über die aktuelle empirische Wahrheit. Die erfahrbare Welt besteht letztlich immer noch aus – gemeinschaftlich – subjektiv wahrgenommenen und gestalteten Erscheinungen, die ihren Charakter verändern können.

3. Vom Erkennen zum Handeln

Das Bestechende an der Philosophie Kants ist, in welchem Ausmaß diese schon an sich zumindest erhellende erkenntnistheoretische Konzeption den Weg bahnt oder Raum schafft für Beschreibungen und Erklärungen unserer weiteren kulturellen Leistungen wie der Moral, des Rechts, der Kunst oder der Religion. Dasselbe Grundprinzip, das in der Erfahrung zu Naturgesetzen alles Geschehens angereichert wird, die Urteilsform der Abhängigkeit von Grund und Folge, dient uns dazu, unsere Handlungen zu planen. Jedes geeignete Mittel ist eine mögliche Ursache zur Realisierung des gesetzten Zwecks als Wirkung. Wir verhalten uns rational gleichsam janusköpfig: Vom Standpunkt seiner Gegenwart aus wirft das Subjekt das Netz des raumzeitlichen Zusammenhanges über die Vergangenheit aus, um die Erscheinungen zu einem übersichtlichen Weltgeschehen zu verbinden, und für die Zukunft projektiert es Mittel-Zweck-Verwendungen, um seinem Handeln im zu erwartenden Weltverlauf Erfolg zu verschaffen und es mit dem anderer zu koordinieren.

Wenn wir uns als Handelnde eine Meinung bilden oder eine Entscheidung treffen, wägen wir zwischen Gründen und Gegengründen ab. Gründe aber sind keine Ereignisse, sondern Gedankeninhalte, die wir nur in der Abstraktion zum Gegenstand der Betrachtung machen können. Anderen mitteilen können wir sie nur, wenn diese ähnlich veranlagt sind wie wir und ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich selbst erlebe in meinem Bewusstsein die kausale Wirksamkeit meiner Gründe in der äußeren Welt. Andere können nur anhand meines körperlichen Verhaltens und meiner Situation ungefähr auf meine Gedanken schließen. In vielen Fällen wird man den Eindruck haben, dass die Umstände und meine zu vermutenden Bedürfnisse meine Handlung unmittelbar hervorrufen. Von außen betrachtet können unsere Gründe als unwesentlich für unser Handeln erscheinen. Aber zwischen vielen Mitteln und auch Zwecken des Handelns können wir doch bewusst wählen. Freilich sind auch wir rational handelnde Menschen Bestandteile einer durchgehend kausal strukturierten Natur, aber einer sich entfaltenden Natur, deren ewige Gesetze oder geheimes Grundprogramm wir nicht erkennen können, wenn sie dergleichen überhaupt besitzt. Unsere individuellen Charakterzüge bilden wir erst im Verlauf unseres Handelns aus. Die Entwicklung der Natur und insbesondere ihres bewegtesten Teiles, der Produkte der menschlichen Kultur, müssen wir nach Kant selbst immer wieder fort- und umschreiben, und so laufen wir unserem rationalen Handeln mit unseren kausalen Erklärungen immer wieder hinterher.

Im erkennenden und handelnden Umgang miteinander richten wir Menschen offenbar einen Himmel der Prinzipien und Werte über uns auf, indem wir unsere zunächst ganz privaten und rudimentären Ziele und Regeln abgleichen. Wir können nie ganz sicher sein, unsere Mitmenschen zu verstehen, aber die einzige Möglichkeit, uns mit ihnen zu arrangieren, besteht darin, ihnen in unserem Denken und Erleben nahe zu kommen. Menschliche Körper sind offenbar gleichsam erleuchtet. Sie besitzen eine Innenperspektive, in der sie Überlegungen anstellen und Abwägungen vornehmen können. Und diese Überlegungen anhand von Gründen scheinen durchaus in der Außenwelt wirksam zu sein. Unser natürliches Licht macht uns – und vielleicht noch einige andere Lebewesen – zu Besonderheiten im Naturgeschehen. Wir sind beseelt, wenngleich diese Eigenschaft unseres Wissens auch mit dem Tode unseres Körpers zugrunde geht. Unsterblichkeit der Seele und völlig voraussetzungslose Spontaneität des Handelns sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung. (B, III, 769f.) Der Begriff der Autonomie, der Selbstbestimmung aus rational gewählten Gründen, ist kein wertfreier Beschreibungsbegriff, sondern setzt die Anerkennung rationaler Standards voraus, von denen Kant allerdings meinte zeigen zu können, dass sie jedermann einsichtig sind.

4. Die Formel des kategorischen Imperativs

Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde!“ lautet der kategorische Imperativ als Grundprinzip. Aufgestellt und auch so bezeichnet hat ihn Kant in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785. Dieser Imperativ soll das Kriterium der Sittlichkeit sein, d.h. der alleinige Maßstab für die moralische Güte unserer Handlungen. Der Begriff der Maxime wird heute noch seltener benutzt als damals. ´Sich etwas zur Maxime zu machen´ bedeutet, sich einen Vorsatz zu bilden, und zwar nicht nur für den Augenblick, sondern grundsätzlich. ´Maximus´ bedeutet der Größte, der Oberste. Eine Maxime ist ein Handlungsgrundsatz für alle Situationen bestimmter Art. Die Moralität unserer Handlungen wird also nicht in unmittelbarem Bezug auf sie selbst als körperliche Ereignisse und ihre Folgen, sondern in Bezug auf die ihnen zugrunde liegende Absicht bemessen. Kants Ethik ist eine Absichtsethik.

Auf den ersten Blick scheinen wir uns nur recht selten etwas zur Maxime zu machen, vielleicht zu Neujahr, in Zukunft nicht mehr zu rauchen oder kein Fleisch mehr zu essen. Da der kategorische Imperativ aber Maßstab der Moralität aller unserer Handlungen sein soll, müssen wir den Begriff der Maxime auch auf solche Grundsätze beziehen, die wir uns nicht wohlüberlegt ausgesucht haben, sondern die wir mehr oder weniger bewusst hegen oder denen wir sogar unbewusst folgen.

Wir sollen unsere Handlungen bewusst reflektieren und so planen, dass ihre Grundsätze „allgemeines Gesetz“ werden können. Diese Forderung ist uns aus dem Alltag bekannt. Mit der Vorhaltung ´Wenn das jeder täte!´ dürften die meisten von uns zumindest im Kindesalter ermahnt worden sein, Handlungen zu unterlassen, die sich als allgemeine Praxis gemeinschaftsschädlich auswirken. Wahrscheinlich schadet es niemandem direkt, wenn ich mir beim herbstlichen Spaziergang auf einer Allee ein paar Äpfel nehme, aber wenn das nach Belieben jeder täte, wäre die Ernte gefährdet. Das Eigentum und die Planungen anderer wären verletzt. Die Ermahnung leuchtet uns ein, weil wir die Menschen für gleichberechtigt halten. Was einer darf, dürften – im Prinzip – alle. Kriterium der Moralität ist nach dem kategorischen Imperativ also die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsweise. Nicht die tatsächlichen Folgen im Einzelfall sind ausschlaggebend, sondern die Folgen, die einträten, wenn eine Handlungsweise allgemeine Praxis wäre. Kant meint, mit seiner Formel des kategorischen Imperativs die landläufige Moralanschauung genauer zu fassen und in ein rationales Weltbild einzubetten: „Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrtume gewesen wäre.“ (KpV, V, 8, Anm.)

Aus dem kategorischen Imperativ ergeben sich klare Anforderungen an die zu suchende und zu prüfende Maxime der Handlung. Sie muss eine Methode beinhalten, also angeben, in Situationen welcher Art man zu welchem Zweck welche Mittel einsetzen will. Zur Erläuterung hat Kant den kategorischen Imperativ auch bezüglich eines fiktiven Naturzustandes formuliert: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“ (GMS, IV, 421). Ein Naturgesetz gibt an, unter welchen – meist unausgesprochenen – Standardbedingungen eine Ursache bestimmter Art eine Wirkung bestimmter Art nach sich zieht. Wir können uns mit Naturgesetzen nach Kant zwar durchaus irren, aber wir können auf Erwartungen und Planungen für die Zukunft nicht verzichten. Und Kant stellt nüchtern fest, dass Mittel-Zweck-Relationen der Sache nach, also im Ereignis der Handlung, nichts anderes als Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind. (KU, V, 180) Maximen geben also an, welches Mittel man in Situationen bestimmter Art anzuwenden beabsichtigt, um eine bestimmte Folge herbeizuführen. Ihre Zuschreibung muss sich an den Fähigkeiten und Kenntnissen orientieren, über die der jeweilige Handelnde verfügt hat oder hätte verfügen sollen. Diesbezügliche Defizite können zur Feststellung von Fahrlässigkeiten oder Unterlassungen führen.

Frei wählbare Wünsche können nicht zu den Merkmalen von Entscheidungssituationen gehören, denn sonst könnte man durch einen entsprechenden Wunsch jede Handlungsweise als Sonderfall für sich beanspruchen: Weil ich sehnlicher als jeder andere den Wunsch habe, diesen Apfel zu essen, und kein Schaden entsteht, wenn nur ich das tue, darf ich das. Sicher würden die Wünsche aller anderen an Dringlichkeit zunehmen, wenn ich mir auf diese Weise ein Privileg ermogeln wollte.

Kant nennt den moralischen Imperativ „kategorisch“, um klarzustellen, dass er voraussetzungslos ergeht. Vorentscheidungen werden nicht gelten gelassen, sondern sind ihrerseits zu prüfen. Er unterscheidet den kategorischen Imperativ grundsätzlich von technischen Empfehlungen, die man unter Anerkennung getroffener Entscheidungen, also angesichts von Wünschen oder Zielsetzungen gibt (GMS, IV, 414ff.). Die Situationsbeschreibung, die zu einer ausgearbeiteten Maxime gehört, darf nur Umstände und Bedürfnisse enthalten, die unabweisbar sind. Wählbare Vorlieben und Einstellungen gehören zur Vorgehensweise und sind auf allgemeine Praktikabilität zu prüfen. Darin unterscheidet sich der kategorische Imperativ von der jahrtausendealten und eher überredenden Goldenen Regel ´Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg´ auch keinem andern zu!´.

5. Der Inhalt der Pflichten

Wann sind die zu erwartenden Folgen einer allgemeinen Praxis aber unerträglich? Wann kann aus meiner Maxime kein allgemeines Gesetz werden? Der kategorische Imperativ enthält hierzu keine ausdrücklichen Angaben, aber die Bedingungen ergeben sich aus seinem Zweck. Meine Maxime soll für jedes Handeln in allen ähnlichen Fällen allgemeines Gesetz werden können. In Situationen derselben Art soll jeder so handeln können, wie ich es vorhabe. Nicht (wie Hegel meinte) die formale Verallgemeinerbarkeit, sondern die Verallgemeinerbarkeit unter Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit aller ist die Bedingung der Erlaubtheit meiner Handlungsweise. Und die Handlungsfähigkeit hat nicht nur körperliche, sondern auch geistige Aspekte, denn das Handeln wird im kategorischen Imperativ selbst qualifiziert als Vorgehen nach Maximen. Die persönliche Fähigkeit und die tatsächliche Möglichkeit jedes Menschen selbstbestimmt zu handeln, ist das Schutzgut des kategorischen Imperativs. Die Maxime des Diebstahls z.B. lässt sich nur theoretisch verallgemeinern. Ein Leben ohne Eigentum und in der permanenten Gefahr angegriffen zu werden, ist durchaus denkbar. Aber ein solches Leben kann nicht planvoll geführt werden, weil der permanente Diebstahl die Verfügbarkeit der Mittel unkalkulierbar machen würde. – Wie das Eigentum geregelt wird, ob es öffentlich oder privat ist, ist eine andere Frage.

In erster Linie ist der kategorische Imperativ eine Verbotsformel. Er gibt an, was wir nicht tun sollen. Er weist zunächst keine Ziele oder einen Idealzustand aus, die wir anstreben sollen, er ist kein Konzept des Guten im Leben, sondern er formuliert eine Bedingung, unter der wir uns sozial richtig verhalten. In Bezug auf unsere Zwecke formuliert könnte er lauten: Tu was Du willst, aber respektiere dabei die Gleichberechtigung der anderen! Die Gleichberechtigung ist zwar auch ein Zweck, aber ein Zweck zweiter Stufe beim Verfolgen von Zwecken. Kants Ethik ist also keine teleologische, d.h. inhaltlich zweckorientierte, sondern eine deontologische Ethik, die uns unabhängig von allen Zielen eine Pflicht auferlegt. Und hierbei bezieht er sich nicht unmittelbar auf das konkrete Verhalten und seine faktischen Folgen im Einzelfall, sondern auf die zu erwartenden Folgen einer allgemeinen Praxis. Die faktischen Folgen hängen nämlich nicht allein vom Adressaten der moralischen Forderung, sondern auch vom Zufall ab. Eine Handlungsweise, z.B. eine Medikamentengabe kann gut sein, auch wenn sie im gegebenen Fall schadet, da man nicht absehen konnte, dass der Kranke kein Penizillin verträgt. Andererseits kann eine Handlung, z.B. eine Lüge falsch sein, obwohl sie im Einzelfall nützlich ist, da sie einem Kranken anscheinend aussichtslose Grübeleien erspart. Wenn solche Lügen aber zur Gewohnheit werden, würden sie das Vertrauen der Patienten untergraben. Sie sind also zu unterlassen.

Wie resultieren aus dem kategorischen Imperativ aber Verpflichtungen zum aktiven Tun? Offenbar wenn eine Unterlassung unerträglich ist, also wenn die Maxime der Unterlassung bei Verallgemeinerung zu Verletzungen der Autonomie Betroffener führt. Hier ist wichtig, dass eine Maxime nicht nur die bewusst gehegte Absicht ist, sondern auch die dem Bewusstsein nur in der Reflexion zugängliche Neigung, in bestimmten Situationen bestimmte Mittel zu ergreifen. Wir haben grundsätzlich die Pflicht, bedacht zu handeln. Selbstverständlich setzt eine Unterlassung aber voraus, dass die Situation dem Verantwortlichen grundsätzlich bekannt ist und die Mittel zu den erforderlichen Zwecken ihm zu Gebote stehen. Nicht alles, was man nicht tut, unterlässt man, sonst wären wir mit maßloser Schuld beladen.

Ein aktives Tun schreibt der kategorische Imperativ nur dann vor, wenn eine Unterlassung die Handlungsfähigkeit von irgendjemandem – sei es unsere eigene – aufhebt. Die Fähigkeit vernünftig zu handeln soll jeder Mensch sowohl bei sich selbst als auch bei anderen „niemals bloß als Mittel“, sondern „jederzeit zugleich als Zweck“ gebrauchen bzw. behandeln (GMS, IV, 429). Zwar dürfen wir Dienstleistungen anderer in Anspruch nehmen, wir sollen aber bei allem unserem Handeln die Handlungsfähigkeit aller mitverfolgen. Wir dürfen also nicht zulassen, dass jemand hilflos wird. Und wenn eine bewusste oder durch Aufmerksamkeit vermeidbare Unterlassung die Handlungsfähigkeit eines anderen aufhebt, sind wir zu deren Unterlassung, d.h. zur Nächstenhilfe verpflichtet.

6. Kants Methode

Kants Ziel war nicht, eine ganz neue normative Ethik aufzustellen, sondern die nach bestem Wissen und Gewissen praktizierte Ethik, also die Ethik des sog. Common Sense rational zu rekonstruieren (KpV, V, 8, Anm.; GMS, IV, 393, Titel). Dementsprechend argumentiert Kant für seine Ethik auf dem Weg der Analyse, und zwar sowohl der Fallanalyse als auch der Sprachanalyse. Seine „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ beginnt mit einer Betrachtung der moralischen Verwendung des Wortes „gut“. Wird eine Handlung oder eine Absicht in moralischem Sinne so bezeichnet, geschieht dies „ohne Einschränkung“ (GMS, IV, 393), d.h. ohne dass eine Hinsicht oder ein Zweck angegeben wird, unter der bzw. zu dem sie gut ist. In Analogie zu uneingeschränkten, sog. „kategorischen“ Behauptungen bezeichnet Kant moralische Urteile ihrem universellen Geltungsanspruch nach als kategorisch, und er überlegt, wie kategorische Imperative möglich sind. Von den konkreten Zwecken der Handlungen müsse man dann absehen. Imperative, die hinsichtlich der Eignung einer Handlung für einen bestimmten Zweck ergehen, nennt er in Analogie zu Urteilen, die Bedingungsverhältnisse ausdrücken, „hypothetisch“. Ein hypothetischer Imperativ wie ´Wenn Du im Alter bequem leben willst, spare beizeiten!´ drückt eine technische Mittel-Zweck-Beziehung aus, ist aber kein moralisches Gebot. (Genauso wie in hypothetischen Wenn-dann-Urteilen kein Sachverhalt, sondern nur ein Zusammenhang behauptet wird.) Ein kategorischer Imperativ könne nicht den bestimmten Zweck einer Handlung, sondern nur das Handeln ganz im Allgemeinen betreffen, und zwar nur die Absicht, da der Erfolg nicht allein vom Handelnden abhängt. Jede Absicht bestehe aber in der mit Verstand gewählten Methode, sodass es nur einen einzigen kategorischen Imperativ geben könne, und der müsse sein, dass die Absicht wahrhaft methodisch, d.h. dass die Maxime universell gültig sein solle. (GMS, IV, 421) Dem kategorischen Imperativ zufolge sollen wir nicht lediglich im Augenblick klug, technisch geschickt und vorteilhaft, sondern so handeln, dass die Methode in jedem Fall der gegebenen Situation praktikabel, also verallgemeinerbar ist.

Ratschläge der Klugheit müssen hypothetisch formuliert werden, da ihrem Adressaten die Wahl des jeweiligen Zwecks überlassen werden muss. Kategorische Imperative brauchen nicht zweckbezogen formuliert zu werden, da sie für jedes Handeln gelten. Sie können es aber. Der Imperativ z.B. ´Wenn Du selbstbestimmt handeln willst, sorge für Deine körperliche Unversehrtheit!´ ist nur der Form nach hypothetisch, seinem Inhalt nach aber kategorisch, weil die Selbstbestimmtheit des Handelns ein allgemeines Charakteristikum des Handelns nach Maximen und die körperliche Unversehrtheit – in gewissem Umfang – eine notwendige Bedingung hierfür ist. Konkrete Verpflichtungen sind immer dann kategorisch, wenn sie notwendige Bedingungen des verallgemeinerbaren Handelns und seiner Absicherung für die Zukunft betreffen.

Zum Beleg der Angemessenheit dieser semantisch-pragmatischen Analyse führt Kant dann vier s.E. landläufige Gebote oder Verbote an: das Verbot des lügenhaften Versprechens, das Verbot, sich das Leben zu nehmen, das Gebot der Nächstenhilfe und das Gebot, seine Fähigkeiten auszubilden. (GMS, IV, 421ff.) Erstere beide sollen strenge, letztere beide verdienstliche Pflichten darstellen. Dass das lügenhafte Versprechen die gesellschaftliche Verkehrsform des Versprechens und damit die Kooperation untergräbt, leuchtet zunächst ein. Wir werden uns später näher damit befassen.

Zweifelhaft scheint, ob sich die Selbsttötung verbieten lässt und verboten werden sollte. Da der kategorische Imperativ sich auf gehegte oder zumindest bildbare Maximen bezieht, denkt Kant hier offenbar an den rational planvollen Selbstmord und nicht an die Selbsttötung im Affekt. Ersterer hebt eine vorhandene Handlungsfähigkeit auf. Erlaubt könnte ein planvoller Selbstmord allenfalls sein, wenn der Verlust der Selbstbestimmung unzweifelhaft und unmittelbar bevorsteht.

Befremdlich wirkt, dass Kant die Nächstenhilfe hier zu den verdienstlichen Pflichten zählt. Ein Mindestmaß an Gesundheit, Ressourcen und Informationen ist allgemein und bei jedermann eine notwendige Bedingung des Handelns nach Maximen. Tatsächlich spricht Kant an dieser Stelle auch nicht von lebensrettender oder lebenserhaltender Hilfe, sondern von der Leistung, bestehende Nöte zu lindern (GMS, IV, 423), also von der Erweiterung der Handlungsspielräume anderer. Zu lebenserhaltenden Maßnahmen sind wir dem kategorischen Imperativ zufolge durchaus streng verpflichtet. (vgl. MdS, VI, 448 §23, 462 §37f.)

Auch sich selbst gegenüber kann man verdienstlich handeln, nämlich indem man Fähigkeiten ausbildet, die man zwar nicht unmittelbar zum Überleben braucht, mit denen man die eigene Handlungsfähigkeit aber absichern oder ausweiten kann. So ist es unbedingt verdienstlich, schwimmen zu lernen oder eine weit verbreitete Fremdsprache zu erwerben. Die Selbsterhaltung ist demgegenüber jedermann streng geboten – solange er noch Maximen bilden, d.h. rational planvoll handeln kann.

Die Berücksichtigung der verdienstlichen Pflichten erklärt, wie das letzte Wort des kategorischen Imperativs zu verstehen ist, nämlich dass meine Maxime durch ihre Umsetzung zum allgemeinen Gesetz solle „werde(n)“ können. Sie soll nicht nur als allgemeine Regel der gesellschaftlichen Praxis taugen, sondern sie soll diese konfliktfreie Praxis zugleich befördern oder gar herbeiführen. Der kategorische Imperativ kann in verschiedenen Graden missachtet oder befolgt werden, je nachdem, ob die Autonomie der Handelnden vernichtet, verletzt, eingeschränkt, geachtet oder gesteigert wird. Aus dieser Abstufung der Erforderlichkeit ergibt sich der Unterschied zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Ich achte die Autonomie der anderen, wenn ich sie nicht durch Lügen manipuliere; ich fördere ihre Autonomie, wenn ich (nicht nur ihr Leben rette, sondern) ihre Not lindere und damit ihre Handlungsspielräume erweitere. Ich achte meine Autonomie, wenn ich mich nicht geplant umbringe; ich erweitere sie, wenn ich meine potentiell lebensdienlichen Fähigkeiten ausbilde.

Das Ergebnis der kantischen Analyse ist, dass die Menschen nicht nur technisch klug, sondern auch in dem weitergehenden Sinne vernünftig handeln können, dass sie nach Formen konfliktfreier generationsübergreifender Kooperation suchen. Wir können nicht nur erwünschte Zwecke effizient realisieren, sondern diese Zwecke so verwirklichen oder nötigenfalls ändern, dass auch jeder andere seine gemeinverträglichen Zwecke verfolgen kann. Wir können einen guten Willen ausbilden und zwar aus einem Interesse ganz eigener Art, nämlich an einer gleichberechtigten Koexistenz. Durch die bloße Überlegung, ob meine Handlungsweise als soziale Praxis es jemandem unmöglich macht zu handeln, kann ich mich zu Unterlassungen, aber auch zum Unterlassen von Unterlassungen, also zum Handeln motivieren. Wir Menschen besitzen nicht nur eine technische, sondern sogar eine von sich aus motivierende, eine praktische Vernunft als Fähigkeit.

7. Die Würde des Menschen

Die Motivation, verallgemeinerbar zu handeln, schließt ein, dass ich alle anderen als gleichberechtigte Mitgestalter des Zusammenlebens respektiere. „Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muss“, führt zu dem Ideal eines „Ganze[n] aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung“, d.h. eines „Reichs der Zwecke“ (GMS, VI, 433), wie es Kant bezeichnet. Damit besitzen alle Wesen, die nach Maximen handeln können, das Recht, „niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst“ behandelt zu werden (ebd.). „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als dessen Äquivalentgesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat Würde.“ (GMS, IV, 434) „Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muss eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben“ (GMS, IV, 435f.) Die Würde des Menschen ist ein Produkt seiner moralischen Betrachtung, weil sie ihm „Anteil … an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft“ und ihn „zum Gliede in einem möglichen Reich der Zwecke tauglich macht“ (GMS, IV, 435).

Zweckrationalität wird durch die Forderung nach Verallgemeinerbarkeit nicht verboten, sondern nur der Bedingung der Gemeinverträglichkeit unterworden. In allen Fällen, in denen die Autonomie der Menschen gewahrt wird, und sogar dann, wenn dies gar nicht möglich ist, ist die Nutzenmaximierung auch nach Kant ein vernünftiger Standpunkt. Selbstverständlich wäre auch Kant der Meinung, dass ein tapferer Soldat Lob und Anerkennung verdient. Nur würde er in diesem Lob ein reines Klugheitsverhalten sehen, das sich auf ganz natürliche Interessen zurückführen lässt. Und nicht jede Art des Gemeinsinnes ist moralisch. Es kann durchaus sein, dass der Einzelne zum Zwecke des Gemeinwohls auf unmoralische Weise instrumentalisiert wird. (vgl. GMS, IV, 429; MdS, VI, 462)

Handlungen müssen nicht moralisch motiviert zu sein, um richtig zu sein. „Man nennt die bloße Übereinstimmung … einer Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetzmäßigkeit)“. (MdS, VI, 219) „Das Recht ist … der Inbegriff der Bedingungen unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (MdS, VI, 230) Das Recht bezieht sich nur auf „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander … Einfluss haben können“ (ebd.). Dennoch ist es „eine Forderung, die die Ethik an mich tut“, mir „das Rechtshandeln … zur Maxime zu machen“ (MdS, VI, 231), und es gilt die Pflicht: „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann (Lex iustitiae).“ (MdS, VI, 237)

8. Das Lügenverbot

Das Lügenverbot ist eine naheliegende Konsequenz des kategorischen Imperativs. Kant argumentiert gegen die Lüge damit, dass diese als allgemeine Praxis dazu führe, „dass Aussagen (Declarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“ (VIII, 426). Kant demonstriert dies am lügenhaften Versprechen, etwas Geliehenes zurückzugeben. (GMS, IV, 422) Der Gläubiger wird hierdurch in seinem Recht, autonom zu handeln, grundlos verletzt, und der regelmäßige Bruch solcher Versprechen würde dazu führen, dass die Konvention des Leihens ausstirbt. Der Gläubiger rechnet mit der Rückgabe des Ausgeliehenen. Er hat es wahrscheinlich als verfügbares Mittel zur Realisierung zukünftiger Zwecke eingeplant. Betrachtet man nicht nur informelle Versprechen, sondern auch Vereinbarungen und Verträge, wird deutlich, wie fundamental das Aufrichtigkeitsgebot für das Zusammenleben ist.

In dem rechtsphilosophischen Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (VIII, 425ff.) geht Kant auf den Einwand ein, ein kategorisches Lügenverbot könne zu unauflöslichen Konflikten mit offensichtlich höherrangigen Pflichten wie dem Schutz des Lebens anderer führen. Ein französischer Philosoph, nämlich Benjamin Constant habe ihm in einer Schrift von 1797 vorgeworfen, „dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet [habe], ein Verbrechen sein würde“ (VIII, 425). Zur Auflösung des Dilemmas habe Constant vorgeschlagen, alle Fälle vom Lügenverbot auszunehmen, in denen die Wahrheit zum Schaden anderer verwendet würde: „Da, wo es keine Rechte gibt, gibt es keine Pflichten. … Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.“ (VIII, 425)

Kant korrigiert zunächst Constants ungenaue Begrifflichkeit. Nur auf „Wahrhaftigkeit“ könne man ein Recht haben, aber nicht auf die Wahrheit, denn dies würde bedeuten, „es komme … auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde“ (VIII, 426). Und da Constant sich offenbar auf Fälle bezieht, in denen man „einer Beantwortung mit Ja oder Nein nicht ausweichen kann“ (VIII, 426), kommen nach Kant für den Einwand nur rechtliche Fälle der Zeugenschaft vor Gericht infrage, denn die „Tugendlehre sieht in jener Übertretung nur auf die Nichtswürdigkeit, deren Vorwurf der Lügner sich selbst zuzieht“ (VIII, 426, Anm.).

Auch wenn man diese beiden Korrekturen gelten lässt, scheint Constants Vorschlag doch in Kants Sinn zu sein, denn bei der Anwendung des kategorischen Imperativs mit dem Mittel des Strafrechts verfährt er anscheinend ganz entsprechend. Es sei legitim, einen Straftäter zu bestrafen, denn „wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d.i. recht“ (MdS, VI, 231). Warum sollte es also nicht recht sein, eine Straftat mit einer Lüge zu verhindern?

Dennoch vertritt Kant nachdrücklich die Auffassung, dass eine uneingeschränkte „Rechtspflicht“ (VIII, 426) zur Wahrhaftigkeit bestehe: „Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden“, denn „ob ich zwar dem, welcher mich ungerechter Weise zur Aussage nötigt, nicht unrecht tue, wenn ich sie verfälsche“, so schade eine solche Verfälschung „doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht“ (ebd.), und zwar „weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als Basis aller auf Vertrag gegründeten Pflichten angesehen werden muss“ (VIII, 427). Es ist ihre funktionale Rolle bei der Rechtsbildung, die die Wahrhaftigkeit unverzichtbar macht: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt … Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller … gesetzgebend sein“, und „die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus“. (MdS, VI, 313f.) Dementsprechend stimmt Kant Constant durchaus darin zu, dass der Mörder kein Recht auf die Wahrheit habe, nämlich weil „kein Mensch anders als durch solche Gesetze gebunden werden kann, zu deren Bildung er mit beigetragen hat“ (VIII, 427). Einem – nur scheinbaren – Gesetz aber, nach dem willkürliche Ermordungen erlaubt wären, könnten wir niemals zustimmen. Um zur Rechtsbildung beizutragen, ist es erforderlich, wahrhaftig in allen Zusicherungen zu sein, von denen man erwartet, dass die anderen sie annehmen. Also liegt „im Jus … die Gesetzgebung, dass angenommene Versprechen gehalten werden müssen“. (MdS VI, 220)

Was folgt aus dieser Auffassung nun für den von Constant beschriebenen Fall, dass mich jemand nach dem Aufenthaltsort meines Freundes fragt und ich Gründe habe anzunehmen, er wolle ihn umbringen? Da hier keine Befragung vor Gericht vorliegt, besteht nach Kant die Möglichkeit und damit dem kategorischen Imperativ nach die Pflicht, der Beantwortung auszuweichen. Dies könnte völlig verallgemeinerbar durch eine Rückfrage, durch eine ausdrückliche Weigerung oder durch eine zutreffende Information geschehen, die nicht seinem Interesse entspricht. Aufrichtigkeit schließt – auch nach Kant – keineswegs Offenherzigkeit ein. (vgl. den Brief Kants an Maria von Herbert aus dem Frühjahr 1792). Selbstverständlich wären wir sogar verpflichtet, unseren Freud nötigenfalls mit Gewalt zu schützen. Unerlaubt sind allerdings alle Reaktionen, die auf eine Täuschung des Fragestellers hinauslaufen, denn gerade die und das aus ihr resultierende Misstrauen sollen ja vermieden werden. Es ist also problematisch, sich dumm zu stellen oder irreführend zu antworten.

Eine absichtliche unzutreffende Aussage schließt Kant auch in diesem Fall mit dem weiteren Argument aus, dass man sich mitschuldig am Tod des Freundes macht, wenn man mit dem fingierten Aufenthaltsort ahnungslos und zufällig seinen tatsächlichen nennt (vgl. VIII, 426f.). Das ist nicht überzeugend, denn der fingierte, aber zutreffende Aufenthaltsort ist für den Auskunft Gebenden genauso unerfindlich und zufällig wie jeder andere ihm unbekannte. Die Lüge trägt also nur zufällig zum Tod des Freundes bei.

Das Beispiel ist nun so gewählt, wenngleich nicht von Kant auch so durchgespielt, dass der Fragesteller dem Gefragten bei Widerstand Zwang androhen dürfte. Er will ja schon dem Freund Gewalt antun. Kann er sich getäuscht sehen, wenn man ihm daraufhin die Unwahrheit sagt? Keineswegs, denn er hat nicht mehr im Vertrauen auf meine Aufrichtigkeit gefragt. Durch meine Lüge wird er also nur falsch informiert; er kann von mir aber gar nicht belogen werden. Kants Definition der Lüge als wissentlicher Behauptung der Unwahrheit mit dem Zweck, vertrauensvollen (vgl. GMS, IV, 402 „Zutrauen“) „Glauben“ beim anderen zu finden (VIII, 426), erlaubt es also, jemanden im landläufigen Sinne zu belügen, der die Wahrheit aus einem herauspressen will. Einen Revolutionär, der unter der Folter der Soldaten Ludwigs XVI geleugnet hat, Mittäter zu haben, hätte Kant sicher nicht als Lügner bezeichnet.

Die traurige Erfahrung, dass viele Gefolterte der Inquisition oder in den GeStaPo-Kellern die geforderte Bekenntnisse abgelegt bzw. Information gegeben haben, offenbart keine moralische Schwäche, sondern dass der anspruchsvolle Handlungsbegriff Kants durchaus angemessen ist. Wer gar nicht mehr nach Maximen handeln kann, wer sich nicht zwischen verschiedenen Handlungsweisen entscheiden kann, ist für sein Tun nicht verantwortlich zu machen. Ultra posse nemo obligatur.

Zum dreihundertsten Jahrestag des Geburtstags Kants am 22. April 2024 ist eine Reihe von Büchern erschienen, deren Autoren seine Philosophie nicht nur darstellen, sondern auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit ihr in den letzten Jahrzehnten auch kritisch würdigen wollen. In seinem bereits 2023 veröffentlichten Werk „Kant – Die Revolution des Denkens“ erklärt Marcus Willaschek, dass aus dem kategorischen Imperativ, „anders als Kant selbst annahm, … kein uneingeschränktes Lügenverbot“ folge. (Willaschek 2023, 106) Man müsse – ganz wie Constant es vorschlägt – den Umstand des beabsichtigten Informationsmissbrauchs bei der Rekonstruktion der Maxime des Lügners nur berücksichtigen und sie lasse sich verallgemeinern: „die relevante Maxime lautet in etwa: ´Ich will nicht lügen, es sei denn, die Lüge ist das einzige Mittel, um ein großes Unrecht zu verhindern, und verletzt keine berechtigten Interessen anderer Menschen´.“ (ebd.) Wie oben gezeigt ist Kant in Bezug auf gewaltfreie Situationen, in denen sich das Unrecht auch anders verhindern lässt, nicht dieser Auffassung. Wer Vertrauen verletzt, trägt nicht soweit wie möglich zum Aufbau einer friedlichen Kooperation nach allgemeinen Prinzipien bei. Wer sich aber aus einer gewaltsamen Erpressung mit einer Täuschung des Erpressers befreit, belügt diesen nicht, weil er kein Vertrauen verletzt.

Der Fall, den Willaschek zur Illustration der Überforderung durch das Lügenverbot anführt, dass Maria von Herbert nämlich, wie sie Kant 1791 in einem Brief schrieb, die Liebe ihres Geliebten dadurch verlor, dass sie ihm – motiviert durch den kategorischen Imperativ – eine harmlose Lüge gestand (Willaschek 2023, 99), stellt keine konsequente Anwendung dieses Prinzips dar. Das Geständnis kann die begangene Täuschung nicht ungeschehen machen und es ist – wie der Fall zeigt – noch nicht einmal ein gut geeignetes Mittel, dem entfernt zu befürchtenden Schaden des Vertrauensverlustes vorzubeugen. Maria von Herbert hat – wie andere Kant-Interpreten auch – Aufrichtigkeit mit Offenherzigkeit verwechselt und ihrem Geliebten eine Mitteilung gemacht, die sie besser unterlassen hätte. Wenn Kant sie für ihr Bekenntnis gelobt hat (vgl. Willaschek 2023, 109), so zeigt er damit nur, dass er die Eitelkeit des Geliebten unterschätzt hat. Vielleich hatte er aber sogar recht damit, dass dessen Zuneigung eher körperlich als geistig motiviert gewesen sein könnte und das Geständnis die richtige Probe hierauf war (vgl. Willaschek 2013, 109). Für den späteren Suizid der Frau trägt Kant sicher nicht die Verantwortung.

9. Gemeinwohl und Gerechtigkeit

Das absolute Lügenverbot“ ist nach Willaschek „nicht der einzige Fall, in dem Kant aus dem kategorischen Imperativ Konsequenzen ableitet, die aus heutiger Sicht unannehmbar erscheinen“, sondern auch das kategorische Verbot der „Selbsttötung aus Lebensüberdruss“ und die Verbote homosexueller Praktiken und der Selbstbefriedigung gehörten dazu. (Willaschek 2023, 109) Ob diese Verbote aus dem kategorischen Imperativ wirklich folgen, hängt davon ab, ob die verbotenen Handlungsweisen als allgemeine Praxis irgendjemandem das Handeln nach Maximen unmöglich machen oder seine Förderung behindern würden. In Bezug auf den Suizid hängt dies von den Lebenserwartungen des Betroffenen ab. Kant nimmt als seine Maxime an: „ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeiten verspricht, es mir abzukürzen“ (GMS, IV, 422). Die hiernach noch ausstehende längere Lebensfrist und der Zweck, ein Überwiegen der Übel vor den Annehmlichkeiten zu verhindern, lassen vermuten, dass die Handlungsfähigkeit noch nicht bedroht ist.

Homosexualität und sexuelle Selbstbefriedigung dürften zu Kants Zeiten in dem Verdacht gestanden haben, die Fortpflanzung und damit das Weiterleben der Gesellschaft zu gefährden. Wie die historische Erfahrung gezeigt hat ist das nicht nur sachlich unzutreffend, sondern die diesbezüglichen Verbote führen zu sozialen Konflikten und Verlusten an individueller Handlungsfähigkeit. Das sexuelle Selbstverständnis gehört zu den wesentlichen Aspekten persönlicher Identität und muss dem Einzelnen freigestellt sein. Der kategorische Imperativ zieht zwar die verdienstliche Pflicht nach sich, das friedliche Zusammenleben zu fördern; dies muss aber nicht durch eigene Kinder oder das Wachstum der Gemeinschaft, in der ich selbst lebe, geschehen, sondern vielleicht viel eher, indem ich Fremden zu überleben helfe. Der kategorische Imperativ schließt subjektive Einschätzungen als Grundlage moralischer Urteile aus und bindet sie an die bestmögliche Erkenntnis der Umstände und die Wirksamkeit der Mittel. Nicht irgendeine, möglicherweise durch irgendwelche anderweitigen Normen geprägte ´Sicht´ ist es, die in die Formulierung der Maximen eingeht und von der ihre Verallgemeinerbarkeit abhängt, sondern der Stand und die Zumutbarkeit des empirischen Wissens.

Es kann irreführend sein, sich bei der Prüfung ethischer Prinzipien an gesellschaftlich verankerten Intuitionen zu orientieren, denn damit verhindert man ein Stück weit, was moralphilosophische Reflexion leisten soll, nämlich eine inhaltliche Überprüfung und methodologische Überformung unserer oft inkonsistenten Praxis. Omri Boehm hat dieses Problem bezogen auf Kant treffend beschrieben: „Diejenigen, die sich heute davor hüten, Kant zu sehr zu verteidigen, verteidigen oft das, woran sie ohnedies glauben wollen. Und das ist in gewisser Weise gleichbedeutend mit der Annahme, dass Philosophie überhaupt nicht möglich ist.“ (Boehm/Kehlmann 2024, 298) John Rawls hat aus diesem Problem in seinem epochemachenden Werk „A Theory of Justice“ von 1971 die Konsequenz gezogen zu fordern, dass sich die theoretische Konstruktion eines normativen Systems und die basalen Intuitionen, anhand derer es aufgestellt und überprüft wird, in einem ständig auszubalancierenden Gleichgewicht befinden müssen. (Rawls 1971, 496ff.) Immer neue Prüfungen des kategorischen Imperativs an immer neuen Fällen anhand immer neuer Erkenntnisse, müssen demnach zu einem immer besseren Verständnis seiner Funktionsweise und der Korrektur unserer moralischen Praxis führen.

In der Diskussion der letzten Jahre ist eine ganze Reihe weiterer Dilemmata konstruiert worden, um die Leistungsfähigkeit ethischer Prinzipien zu überprüfen: Darf man ein lebenserhaltendes Medikament stehlen, wenn man es sich nicht leisten kann? Was ist zu tun, wenn zehn Gleisarbeiter dadurch gerettet werden könnten, dass man einen dicken Mann vor den heranrollenden Zug schupst? Darf ein Passagierflugzeug abgeschossen werden, das entführt worden ist, um mit ihm ein Kernkraftwerk zum Zerbersten zu bringen? Können Abtreibungen gerechtfertigt sein, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Wie sollen wir mit Lebewesen umgehen, die nicht wie wir rational planvoll handeln können, aber doch Schmerzen empfinden und vielleicht sogar ein Lebensinteresse besitzen?

Der Test einer moralphilosophischen Theorie und des von ihr beschriebenen normativen Maßstabes ist sowohl wissenschaftsmethodisch als auch moralisch geboten. Und die Fälle, die man dazu heranzieht, dürfen künstlich gebildet werden, denn sie sollten nicht zu komplex sein und nur einen oder wenige problematische Aspekte repräsentieren. Die eben genannten Fälle sind offenbar in staatlich organisierten Gesellschaften angesiedelt. Die erwogenen Verhaltensweisen verstoßen gegen geltendes Recht und werfen die Frage nach der Revision dieses Rechts und damit nach der Behandlung analoger Fälle auf.

Mit dem Fall des Medikamentendiebstahls wird offenbar angenommen, dass es in dem fraglichen Staat keine öffentliche Krankenversicherung gibt oder der Betroffene nicht versichert ist. In beiden Fällen besteht nach dem kategorischen Imperativ nicht nur für Familienangehörige, sondern für jedes Mitglied der Gemeinschaft, in der der Betroffene lebt, die Pflicht zu helfen. Leichte materielle Einschränkungen auf Seiten vieler schränken deren Handlungsfähigkeit unwesentlich ein. Der Tod aber hebt sie auf. Wahrscheinlich wird man den Umfang der Hilfe nach der Belastbarkeit der Spender und den Graden der Möglichkeit staffeln, sie vom Genesenen erstattet zu bekommen. Und wenn der Kranke es einfach unterlassen hat, eine Versicherung abzuschließen, wird man wohl alles von ihm zurückfordern wollen. Aber ein heimlicher Diebstahl beim Apotheker kommt nach Kant nicht infrage. Nach dem kategorischen Imperativ sollen wir unsere Gemeinschaften so organisieren, dass Hilfe in existenziellen Notlagen institutionell geleistet wird. Es ist eine moralische Pflicht, das Mittel des Rechts zur Umsetzung des kategorischen Imperativs einzusetzen. (vgl. MdS, VI, 231) Eine solidarische Unterstützung Bedürftiger im Krankheitsfall muss also rechtsförmig realisiert werden.

Zur sicheren Aufopferung des eigenen Lebens scheint der kategorische Imperativ nicht zu verpflichten. Fraglich ist nur, ob das auch dann gilt, wenn dadurch Leben gerettet werden können. Schutzgut des kategorischen Imperativs ist die Autonomie der Menschen, aller Menschen, aber nicht nur als individuelles Recht, sondern auch als abstrakter Wert der „Menschheit als Zweck an sich selbst“ (GMS, IV, 430); und die Minderung dieses Wertes würde man zugelassen, wenn man nicht bereit wäre, sein Leben dafür zu opfern. Die Selbstaufopferung kann allerdings moralisch nicht verlangt werden, denn der Einzelne hat nicht nur das Recht, sondern sogar die moralische Pflicht, auch sein eigenes Leben zu erhalten (GMS, IV, 422). Der opferbereite Einzelne steckt also in einem moralischen Dilemma, aber zweckrational gesehen minimiert er den moralischen Schaden jedenfalls, wenn er von sich aus mehrere andere rettet, und dies ist moralisch verdienstlich von ihm.

Die Höchstrangigkeit der Autonomie (als der faktischen Fähigkeit, nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln) bringt mit sich, dass diese nur freiwillig für die Autonomie anderer geopfert, aber nicht als Einsatz abverlangt werden darf. Jeder Einzelne besitzt nach Kant eine Würde, die von keinem anderen Wert aufgewogen werden kann (GMS, IV, 434f.). Dementsprechend darf niemand vor einen Zug geschupst werden, selbst wenn dadurch unzweifelhaft das Leben vieler anderer gerettet werden würde. Anders als im Verteidigungsfall ist hier das Opfer nicht der Aggressor, von dem die Gefährdung des Lebens der anderen ausgeht und der seine Vernunft missbraucht. Und auch einen solchen Angreifer würde man moralisch reflektiert nicht unbedingt töten, sondern nur daran hindern wollen, anderen ihre Selbstbestimmung zu nehmen. Die Insassen des entführten Flugzeuges, das in ein Kernkraftwerk gesteuert wird, dürfen moralisch also nur dann geopfert werfen, wenn sie nur noch bloße Werkzeuge der Aggressoren sind und ganz sicher gar keine Chance mehr haben, selbstbestimmt etwas an ihrem Schicksal zu ändern. Eine gesetzliche Befugnis der Exekutive zu einem solchen Abschuss wäre eine zu pauschale Regelung.

Zweckrational betrachtet scheint es geraten, den dicken Mann vor den Zug zu schupsen. Das Schutzgut des kategorischen Imperativs, das Handeln nach verallgemeinerbaren Maximen scheint sich auf diese Weise mehren zu lassen. Moralisch heiligt hier der gute Zweck aber nicht das Mittel. Die Instrumentalisierung des Einzelnen würde verhindern, was Moral leisten soll, den konstruktiven Aufbau eines konfliktfreien Zusammenlebens. Wenn jeder Einzelne gewärtigen müsste, geopfert zu werden, sobald die Autonomie einer größeren Zahl bedroht ist, ohne dass er zu dieser Bedrohung beiträgt oder sie anderweitig verhindern kann, wäre er kaum dafür zu gewinnen, den Standpunkt des strikten Egoismus aufzugeben. In Notstandssituationen, in denen man sein Leben nur auf Kosten anderer retten kann, mag dies anders sein. Rechtlich zumindest dürfte man nicht dafür belangt werden, im Schiffbruch oder hoffnungslos verschollen einen anderen zum Instrument des Überlebens eines selbst oder der Mehrheit gemacht zu haben. (vgl. MdS, VI, 235)

Richtig verstanden scheint Kants ethische Position also nicht rigoros im dogmatischen Sinne des Festhaltens an einer Lehre um jeden Preis. Seine rationale Rekonstruktion unserer moralischen Grundüberzeugungen mit dem kategorischen Imperativ führt allerdings zu einer höheren Bewertung der Autonomie des Einzelnen und der Wahrhaftigkeit ihm gegenüber als wir sie praktizieren. In unserer alltäglichen Praxis mischt sich der Gesichtspunkt der Moralität mit dem der Gemeinnützigkeit für die Gemeinschaft oder die Familie. Außerdem müssen wir auf Zwänge reagieren, die unsere Wahlmöglichkeiten einschränken. Dies ist nicht nur im Krieg, in Seenot und in der Liebe der Fall, sondern auch bei Unglücken, bedrohlicher Krankheit oder existenzieller Not. Soweit wir unser Handeln gedanklich frei gestalten, sollte die Moral hierbei federführend sein. Wenn wir die Möglichkeit der Wahl einer verallgemeinerbaren Maxime nicht haben, sind wir moralisch nicht verpflichtet und können evtl. nur zweckrational reagieren.

Eine gesellschaftliche Forderung, die in der Regel an uns alle gestellt, aber vom kategorischen Imperativ nicht wiedergegeben wird, ist die, uns für die Gemeinschaft nützlich zu machen. Die aus der englischen Aufklärung stammende Ethik des Utilitarismus macht die Gemeinnützigkeit sogar zum obersten Kriterium der Moralität. Wenn sie – in der Gesamtbilanz – Gutes bewirken, sind Lügen hier sogar geboten. Bei der Einschätzung der Folgen ist zwar zu berücksichtigen, dass Misstrauen und Unaufrichtigkeit zunehmen könnten, aber die Frage, was geschähe, wenn jeder sich so verhielte, erscheint einem Utilitaristen künstlich; und die Gleichberechtigung ist für ihn kein zentraler Wert. Selbst der pragmatisch ausgerichteten utilitaristischen Ethik John Stuart Mills zufolge spielt die Gerechtigkeit nur eine instrumentelle Rolle. Sie dient nämlich dem Zweck, Streit unter den Akteuren zu vermeiden oder zu schlichten: Das „Gerechtigkeitsgefühl scheint mir dasselbe zu sein, wie das Bedürfnis der Tiere, eine Verletzung oder Schädigung, die sie selbst oder die ihnen Nahestehenden erlitten haben, zu vergelten, ausgedehnt … auf die Gesamtheit aller Menschen.“ (Mill 1861, 92) Der Utilitarismus propagiert ein ideelles Ziel kollektiven Handelns. Das Gemeinwohl zu steigern scheint immer möglich. Müßiggang ist fast immer ein Laster. Und eine Instrumentalisierung des Einzelnen scheint erlaubt oder gar geboten, sobald sie dem Einzelnen weniger schadet als sie der Gemeinschaft nützt. Utilitaristisch gesehen scheint es erlaubt, dass „der Freiheitsverlust einiger durch ein größere Wohl anderer gutgemacht werden könnte“. (Rawls, 1971, 46) Das könnte man dadurch zu vermeiden versuchen, dass man ein vorrangiges Interesse der Beteiligten an Gleichbehandlung voraussetzt. Wird aber „auch die Verteilung der Güter als ein Gut – vielleicht von höherer Ordnung – genommen, … so liegt keine teleologischen Auffassung im klassischen Sinne mehr vor“ (Rawls 1971, 43), denn das Ziel des utilitaristischen Ansatzes, das Phänomen der Moral auf die kollektive Befriedigung völlig natürlicher Interessen zurückzuführen, wäre aufgegeben.

Nach Kant hat sich in der Moral die friedensstiftende Funktion der Gleichbehandlung gleichsam von der Befriedigung der Interessen der Gesellschaftsmitglieder verselbständigt und das den Einzelinteressen übergeordnete ideelle Ziel etabliert, eine generationenübergreifende konfliktfreie Kooperation auch auf eigene Kosten sicherzustellen. Die Mehrung des Gemeinwohls kommt nach Kant nur als ergänzender Maßstab der Beurteilung unseres Handelns in Betracht. Primär sind die Handlungsfähigkeit und Gleichberechtigung aller anderen zu gewährleisten, und nur die notwendigen Bedingungen hierfür sind zu erfüllen. Jemandes Handlungsfähigkeit zu erweitern ist verdienstlich. Eine Kombination der kantischen Ethik mit dem Maßstab des Gemeinwohls scheint sinnvoll, solange man dabei bedenkt, dass die notwendigen Bedingungen einer konfliktfreien Kooperation Vorrang vor deren wünschenswerten Zielen haben.

10. Wer sind ´alle Menschen´?

Marcus Willaschek behauptet in seinem anlässlich des dreihundertsten Geburtstages Kants erschienenen Werk „Kant – Die Revolution des Denkens“ (2023): „wer ein Mensch im Sinne der kantischen Philosophie ist, bleibt bei Kant letztlich unbeantwortet“ (218). Wenn das zuträfe, wäre nicht nur der Geltungsbereich des kategorischen Imperativs unbestimmt, sondern sein Inhalt als Maßstab wäre unklar, nämlich was ein „allgemeines Gesetz“, d.h. was Universalisierung eigentlich ist.

Der kategorische Imperativ ist an alle Wesen gerichtet, die nach Maximen handeln und sich fragen können, ob diese Gesetze für alle Wesen mit dieser Fähigkeit werden könnten. Mit allen sind hier nicht nur sämtliche aktuell existierenden Wesen, sondern alle dereinst möglicherweise existierenden, also universell alle derartigen Wesen gemeint, denn der kategorische Imperativ ist ein Satz a priori, und diese Sätze beanspruchen strenge absolute im Unterschied zur empirischen komparativen Allgemeingültigkeit (B, III, 3). Die Forderung des kategorischen Imperativs wird daher auch als die der Universalisierbarkeit bezeichnet.

Wesen, die in der Lage sind, Methoden nicht nur bewusst anzuwenden, sondern diese Methoden auch aus übergeordneter Warte zu überprüfen, zu modifizieren oder zu ändern, bezeichnet Kant als vernünftige Wesen: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen.“ (GMS, IV, 412, vgl. 427) Prinzipien sind Gründe des Handelns, also abstrakte Gegenstände des Denkens, und daher kann „ein vernünftiges Wesen sich selbst als Intelligenz … zur Verstandeswelt gehörig“ ansehen. (GMS, IV, 452) Gründe gelten aber immer, sei es in der Mathematik, im Recht oder in der Alltagsargumentation universell für alle möglichen Fälle der jeweils angegebenen Art. Diesbezüglich besteht kein Unterschied zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft, „weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muss“ (GMS, IV, 391).

Die Schwierigkeit, vernünftige Wesen konkret auszumachen, beruht darauf, dass sich empirisch nicht feststellen lässt, ob und wann sich jemand an Gründen orientiert, da jede Verhaltensänderung auch durch sinnlich motivierte Interessen bewirkt worden sein kann. Man kann „das Nichtsein einer Ursache“ nicht „durch Erfahrung beweisen, „da diese nichts weiter lehrt, als dass wir jene nicht wahrnehmen“. (GMS, IV, 419) Folglich ist es „durch kein Beispiel, mithin empirisch, auszumachen …, ob es überall irgendeinen“ rein vernünftigen „Imperativ gebe“ oder ob die vermeintlichen Vernunftvorschriften nicht „doch versteckter Weise hypothetisch sein mögen“. (GMS, IV, 419) Dementsprechend ist auch der Begriff der „Freiheit kein Erfahrungsbegriff“, obwohl sich alle Menschen „dem Willen nach als frei“ denken, sondern „Freiheit“ ist „nur eine Idee der Vernunft“. (GS, IV, 455)

Immerhin gibt es aber die Idee der Freiheit und damit die Möglichkeit, dass wir uns zwischen Alternativen entscheiden und für unser Handeln verantwortlich sind. Wir können die Perspektive der Vernunftgründe wählen und uns auf den Standpunkt stellen, wir entschieden uns frei. Der „Fußsteig der Freiheit“ ist „der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen“. (GMS, IV, 455f.) Dem Selbstverständnis der Menschen, ihren Begründungen und Deutungen ihres Verhaltens, ihrer gesellschaftlichen Regelungen und Einrichtungen ist zu entnehmen, ob sie sich auf den Standpunkt der Vernunft stellen. Und diesbezüglich soll das – mehr oder weniger deutliche – Bewusstsein des kategorischen Imperativs nicht nur grundlegend für unser Selbstverständnis als selbstbestimmt Handelnde, sondern als Satz a priori für die Geltung aller moralischen und rechtlichen Normen sein. Die Zuschreibung von Handlungen, d.h. die Überzeugung, dass jemand sie nicht nur vollzogen hat, sondern auch anders hätte handeln können und daher verantwortlich für sie ist, setzt den Standpunkt der Vernunft voraus. (vgl. MdS, VI, 227) Damit gilt dies auch von jeder moralischen Pflicht, von Lob, Tadel oder schlechtem Gewissen. (vgl. GMS, IV, 400f.)

Auch sämtliche legitimen staatlichen Gesetze und Einrichtungen beruhen nach Kant auf dem kategorischen Imperativ und damit auf dem Standpunkt der Vernunft: „Das Recht ist … der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“; und folglich lautet das allgemeine Prinzip alles Rechts: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“. (MdS, VI, 230) „Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut“; und „mit dem Rechte“ ist „eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen“ logisch „verknüpft“. (MdS, VI, 231) „Die angeborene Gleichheit“ und das Recht „des Menschen sein eigener Herr … zu sein, … die Befugnis, das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, … ihnen bloß seine Gedanken mitzuteilen … – alle diese Befugnisse liegen schon im Prinzip der angeborenen Freiheit“. (MdS, VI, 238) Folglich gelten vom Standpunkt der Vernunft aus schon vor aller staatlichen Gesetzgebung die Rechtspflichten: „Sei ein rechtlicher Mensch“, „Tue niemandem Unrecht“ und „Tritt … in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann“. (MdS, VI, 237) Es kann zwar eine „äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive“, d.h. staatlich gegebene „Gesetze enthielte; alsdann aber müsste doch ein natürliches“, d.h. vernunftgegebenes „Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d.i. die Befugnis, durch seine Willkür andere zu verbinden) begründete“. (MdS, VI, 224)

Adressaten und Berechtigte des kategorischen Imperativs sind also alle Wesen, die auf dem Standpunkt stehen, dass sie Entscheidungen treffen, Verantwortung tragen, Rechte und Pflichten haben, über (gemeinschaftliches oder individuelles) Eigentum verfügen oder entbehren und legitim oder illegitim regiert werden. Nicht jede dieser Überzeugungen muss ständig bewusst gehegt werden, und bei Kindern oder Menschen mit Behinderung genügt, dass sie das Potential zu diesem Standpunkt haben oder ihn bezogen hätten, wenn sie nicht erkrankt wären. Offensichtlich hat sich der Standpunkt der praktischen Vernunft in der Kulturgeschichte der Menschheit erst allmählich entfaltet, aber es dürfte von ihrem Anbeginn an keinen Menschen gegeben haben, der als handelnde Person keine dieser Einstellungen gehabt hätte; und daher dürfte von allen Angehörigen der Art homo sapiens sapiens gelten, dass sie praktische Vernunft besitzen oder besaßen. Alle Menschen im Sinne der biologischen Art sind Adressaten und Begünstigte des kategorischen Imperativs, haben damit Anspruch auf Beteiligung an der Aufstellung sozialer Verhaltensnormen und besitzen daher keinen bloß instrumentellen, sondern einen unaufwiegbaren Wert, d.h. Würde. Sie alle haben den Status eines „Weltbürgers“ (Beobachtung über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, II, 256).

11. Die Emanzipation der Frauen

Als frauenfeindlich wurde auf der Bonner Jubiläumsausstellung Kants Charakterisierung der Frauen als ´schönes Geschlecht´ eingestuft: „Kant hätte sich (nicht nur) anlässlich eines Mittagessens davon überzeugen können, dass das vermeintlich nur ´schöne Geschlecht´ auch denken kann und durchaus streitbar ist.“ (Aus dem Faltblatt ´philosophisch-kritische Informationen´ zur Ausstellung ´Immanuel Kant und die offenen Fragen´). Er hätte nur einmal eine Frau zu einer der Tischgesellschaften einzuladen brauchen, die er seit dem Tod seines engsten Freundes Joseph Green 1786 abgehalten hat.

Die kritisierte Charakterisierung stammt aus einer ästhetischen Schrift Kants, nämlich den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ von 1764 und hier aus dem dritten Abschnitt „Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter“. Schönheit ist hier also nicht der übliche Sammelbegriff äußerlicher Attraktivität der „Gestalt“, „Züge“ und „Miene“ (vgl. II, 228), sondern ein ästhetischer Begriff für freie Formen der Harmonie des Charakters. Es geben zwar manchen, „der das andere Geschlecht nur insofern liebt, als er es zu den genießbaren Sachen zählt“; dem will Kant aber „keine Aufmerksamkeit“ schenken, sondern einem „Gefühl von feinerer Art“, nämlich „das Gefühl des Erhabenen und des Schönen“. (vgl. II, 208) Alle diese Gefühle „beruhen nicht so sehr auf der Beschaffenheit der äußeren Dinge, die sie erregen, als auf dem jeden Menschen eigenen“ Empfinden (vgl. II, 207). Wenn von der Schönheit die Rede ist, urteile man aber „nicht bloß für sich, sondern für jedermann“ und spreche „alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge“. (KU, V, 212) Bei einem Geschmacksurteil fordert man zwar nicht „jedermanns Einstimmung“, man „sinnt“ aber „jedermann diese Einstimmung an“ (KU, V, 216) und meint, er könne zu derselben Wertschätzung kommen wie man selbst. Man unterstellt also „die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung“. (KU, V, 217) Da „aber nichts allgemein mitgeteilt werden“ kann, „als Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört“, muss das Gefühl des Schönen „in dem freien Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes“ bestehen und sich auf das „zum Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis“ in der „Zusammensetzung des Mannigfaltigen“ der Vorstellung eines Gegenstandes beziehen. (KU, V, 217f.) Das Geschmacksurteil ist nach Kant „von Reiz und Rührung unabhängig“ (KU, V, 223) und beruht auf dem spielerischen Umgang mit der „Form der Zweckmäßigkeit … der Vorstellungsart“ eines Gegenstandes (KU, V, 221) zu allerlei möglichen Erkenntnissen seiner Art oder Funktion. „Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“ (KU, V, 236)

Im Unterschied zur Schönheit ist „das Erhabene … auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit“ einer seiner Eigenschaften „vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird“. (KU, V, 244) „Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt. Dieses Letztere kann nun nicht anders geschehen, als durch die Unangemessenheit selbst der größten Bestrebung unserer Einbildungskraft in der Größenschätzung eines Gegenstandes.“ (KU, V, 255) „Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft und eine dabei zugleich erweckte Lust aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unangemessenheit … mit Vernunftideen“ (KU, V, 257), nämlich „der Idee des absoluten Ganzen“ der Natur (KU, V, 259f.) bzw. dem „moralische[n] Gesetz … in uns“ (KU, V, 271). „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.“ (KU, V, 267)

In seinen „Beobachtungen“ von 1764 sucht Kant Bestätigung für seine Unterscheidung des Schönen und des Erhabenen in den landläufigen Werturteilen. Sinnlichkeit und Verstand vereinigen sich dem Geschlechterbild nach im weiblichen Charakter mit einer stärkeren Betonung des Empfindens als bei den nüchterneren Männern. Frauen hätten „ein angeborenes stärkeres Gefühl für alles, was schön, zierlich und geschmückt ist“, „viel teilnehmende Empfindung, Gutherzigkeit und Mitleiden“, ein „sittsames Wesen“ und seien „reinlich“. (II, 229) „Freundschaft“ habe „hauptsächlich den Zug des Erhabenen, Geschlechterliebe aber des Schönen an sich.“ (II, 211) „Ein etwas größeres Alter“ vereinbare sich „mehr mit den Eigenschaften des Erhabenen, Jugend aber mit denen des Schönen.“ (II, 213) Damit zeichnet Kant recht konservativ das traditionelle Frauenbild des Bürgertums seiner Zeit nach. Er betont aber, dass er seine Übernahme der landläufigen Bezeichnung der Frauen als das schöne Geschlecht nicht so verstanden wissen will, „dass das Frauenzimmer edler Eigenschaften ermangele, oder das männliche Geschlecht der Schönheit gänzlich entbehren müsste“, vielmehr erwarte man, „dass ein jedes Geschlecht beides vereinbare, doch so, dass von einem Frauenzimmer alle anderen Vorzüge sich nur dazu vereinigen sollen, um den Charakter des Schönen zu erhöhen, … dagegen unter den männlichen Eigenschaften das Erhabene“. (II, 228) „Das schöne Geschlecht hat ebenso wohl Verstand als das männliche, nur es ist ein schöner Verstand, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein“. (II, 229)

In seiner Preisschrift „Was ist Aufklärung?“ von 1784 weist Kant den Ehemännern eine Mitschuld an der Unmündigkeit der Frauen zu: „Dass der bei weitem größte Teil der Menschheit (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt aus dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigten sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr eben so groß nicht, denn sie würden durch einige Male Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. – Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. … Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.“ (Was ist Aufklärung?, VIII, 35f.)

Wenn Kant gegen Ende der Preisschrift zur Einschätzung der Aufgeklärtheit der Gesellschaft seiner Zeit kommt, so meint er feststellen zu müssen, dass er noch nicht in einem aufgeklärten, „aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung“ lebe (VIII, 40). Da die „durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben“ durchaus „mit der größten Ungleichheit … an Rechten überhaupt“ verbunden sein könne, sei es „so dass des einen Wohlfahrt sehr vom Willen des anderen abhängt (des Armen vom Reichen)“ und dass „das Weib dem Mann“ in der Ehe „gehorsamen muss“. (Über den Gemeinspruch, VIII, 292) Daher seien Frauen nicht ihr eigener Herr und hätten kein Stimmrecht in der Gesetzgebung. (vgl. VIII, 295) „Aber die Denkungsart eines Staatsoberhauptes“, das die Aufklärung „begünstigt, … sieht ein: dass selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen der Welt öffentlich vorzulegen“. (Was ist Aufklärung?, VIII, 41)

Es ist sicher eine Anmaßung zu behaupten, wir könnten heute „mit gutem Grund beanspruchen, Kant besser verstanden zu haben als er sich selbst“, wenn wir „Kants diskriminierende Aussagen heute auf der Grundlage seiner eigenen Ethik und politischen Philosophie zurückweisen“ (Willaschek, 2023, 379); aber die Fortschritte, die die Emanzipation der Menschen seit der Aufklärung gemacht hat, erlaubt es uns, konsequenter in der Anwendung seiner Prinzipien zu sein.

12. Die Pflichten Kindern und Tieren gegenüber

Adressaten und Begünstigte des kategorischen Imperativs sind Wesen, die in der Lage sind, nach Maximen, d.h. bewusst methodisch zu handeln; und es wird gefordert, ihnen die Möglichkeit hierzu nicht zu nehmen. Kinder und Tiere scheinen zum methodischen Handeln aber nicht fähig zu sein. Wie weit sind sie geschützt? In Bezug auf Kinder und Embryonen vertritt Kant offenbar eine Auffassung, wie sie heute mit dem Begriff des Potentialitätsarguments bezeichnet wird: Kinder sind wie voll handlungsfähige Erwachsene zu behandeln, da sie die Anlagen besitzen, sich zu diesen zu entwickeln. Und dies gilt nach Kant von der Zeugung an: Es „kann der Mann mit dem Weibe kein Kind, als ihr beiderseitiges Machwerk (res artificialis), zeugen, ohne dass beide Teile sich gegen dieses und gegeneinander die Verbindlichkeit zuziehen, es zu erhalten“. (MdS, VI, 360) „Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen, so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, soviel in ihren Kräften ist, mit diesem Zustande zufrieden zu machen.“ (MdS, VI, 280/281) Kinder gehören zwar zum Besitz der Eltern, als Personen können sie aber nicht als ihr Eigentum angesehen werden, weil sie die Pflichten ihnen gegenüber nicht aufheben können. (MdS, VI, 282)

Dass diese Fürsorgepflicht von der Zeugung an besteht, erklärt sich mit der bekannten Pflicht des Menschen, „die Naturanlagen und Vermögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen“ (MdS, VI, 444); und hierzu zählt auch „die fortdauernde absichtliche Belebung des Tieres am Menschen“, d.h. seiner „Leibeskräfte“ (MdS, VI, 445).

Eine unbegründete Abtreibung würde also gegen die Rechte des Kindes verstoßen. Wenn das Austragen oder das Gebären des Kindes lebensgefährlich für die Mutter ist, wenn also die Würde der Mutter mit der Würde des Kindes unvereinbar ist, müsste unter dem Gesichtspunkt der Zweckrationalität dem Lebewesen mit den besseren Überlebenschancen und den weiter entwickelten Fähigkeiten der Vorrang gegeben werden. Das dürfte – von schweren Unfällen oder Krankheiten abgesehen – meist die Mutter sein. Eine medizinische Indikation der Abtreibung scheint also mit dem kategorischen Imperativ vereinbar zu sein. Eine Abtreibung dürfte auch indiziert sein, wenn unüberwindliche soziale oder psychische Schwierigkeiten es der Mutter unmöglich machen, das Kind auszutragen. Eine erzwungene oder ganz ungewollte Mutterschaft könnten Gründe hierfür sein.

Fraglich ist, ob das auch gilt, wenn die Schwangerschaft mit frei gewählten Interessen und Absichten der Mutter unvereinbar ist. Wenn eine Mutter ihre Interessen ungezwungen über die des Kindes stellen sollte, käme nur noch diese Entscheidung selbst als Hindernis der Entwicklung des Kindes infrage; und die hierbei zu erwartenden Einschränkungen wären gegen die Einschränkungen der Mutter durch das Austragen abzuwägen. Die Mutter sollte Zeit für eine gründliche Selbsterforschung und sichere Entscheidung haben. Nach einer hierfür erforderlichen Frist scheint die Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens eine Abtreibung aber auszuschließen. Jeder Fortschritt in der Entwicklung des Embryos erhöht sein Potential, eine handlungsfähige Person zu werden. Da alle diese Abwägungen in Bezug auf generelle Abtreibungsregelungen anzustellen wären, müsste vor allem im letzteren Fall berücksichtigt werden, welche Grenzen der Erforschung der mütterlichen Motivation gesetzt sind und ob die Motivation ungewollt Schwangerer durch Strafandrohung wirklich zu Gunsten des Kindes beeinflusst werden kann.

Die wissenschaftliche Erforschung der kognitiven Leistungen von Tieren seit Mitte des 19. Jh. führt zunehmend zu der Erkenntnis, dass viele von ihnen in der Lage sind, methodisch zu handeln. Damit erweisen sie sich der Definition Kants entsprechend als ansatzweise vernunftbegabt. Die Vernunft ist das Vermögen der Verwendung von Prinzipien (B, III, 238), d.h. des an übergeordneten Maßstäben orientierten Einsatzes von Begriffen, Regeln (vgl. B, III, 238) und Techniken. Kant irrte, wenn er meinte, dass Tiere Gegenstände zwar kennen, d.h. unterscheiden können, sie aber nicht mit Bewusstsein erkennen (Logik, IX, 65). Nicht nur Menschenaffen, sondern sogar Rabenvögel können sich im Spiegel erkennen; und schon Ratten verfügen offenbar über Vorstellungsbilder z.B. von Labyrinthen. Zurechnungsfähig und damit Handelnde im engeren Sinne sind sie damit noch nicht, aber einige Tiere wie z.B. Menschenaffen sind in der Lage, Methoden durch Erfahrung zu erwerben, situationsgerecht anzuwenden und an ihre Nachkommen weiterzugeben, z.B. Nüsse mit Steinen bestimmter Größe auf bestimmten Unterlagen zu knacken oder Kartoffeln in salzigem Seewasser zu waschen. Delfine waren bei den Versuchen von Margaret Howe sogar in der Lage zu erfassen, dass man sie dafür belohnte, bei jeder Vorstellungsrunde eine neue Verhaltensweise zu zeigen, also kreativ zu sein. Tiere verfügen über ein wandelbares Rollenverständnis. Sie ahnden Regelverstöße, kommunizieren miteinander durch Signale und – zumindest wenn man sie ihnen beibringt – auch durch symbolische Sprache. Die Graupapageie, mit denen die Verhaltensforscherin Irene Pepperberg arbeitete, haben die Tests, die sie tagsüber ablegen mussten (z.B. die Anzahl von Schnabelklicks angeben), nachts untereinander – in der Sprache der Wissenschaftlerin – nachgespielt.

Die Anforderungen, die das Handeln nach Maximen stellt, erfüllen sie damit noch nicht. Hierfür ist es erforderlich, Vorgehensweisen nach Arten unterscheiden und auf übergeordnete methodologische Prinzipien bringen zu können, die Anwendung dieser Prinzipien in neuen Fällen durchspielen und sie evaluieren und semantisch kommunizieren zu können. Aber der Unterschied zwischen menschlichen und anderen Tieren scheint nur gradueller und nicht prinzipieller Natur zu sein. Tiere, die in der Lage sind, ihre Handlungen bewusst zu steuern, Affen, Delfine und Rabenvögel etwa, könnten im Sinne des kategorischen Imperativs als Kooperationspartner betrachtet und – wie etwa Kinder – in ihrem Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung respektiert werden. Da Kant meinte, dass nur Menschen ihre Handlungsweisen reflektieren können, also Vernunft besitzen, kommen Tiere für ihn nicht als Mitgesetzgeber sozialer Verhaltensnormen und Träger von Rechten infrage, sondern genießen Schutz nur, weil Rücksichtslosigkeiten ihnen gegenüber – aufgrund unserer anderweitigen Ähnlichkeiten mit ihnen – sonst auf die Menschen übergreifen könnten:

In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst … entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl im Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität im Verhältnis zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behände (ohne Qual verrichtete) Tötung, oder auch ihre, nur nicht bis übers Vermögen angestrengte Arbeit … unter die Befugnisse des Menschen gehören … Selbst Dankbarkeit für lange geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur Pflicht des Menschen …, direkt aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ (MdS, VI, 443) Dennoch können Tiere nach Kant Eigentum des Menschen sein und der Mensch kann sie „gebrauchen, verbrauchen und verzehren (töten lassen)“. (MdS, VI, 345)

Allerdings haben Tiere an unserer Bewunderung der Zweckmäßigkeit der organischen Natur Anteil. Die Mittel-Zweck-Kalkulationen bei unserem eigenen Handeln lässt uns die Zweckdienlichkeit aller Gliedmaßen und Sinne und sogar ihrer Umwelt für das Leben der Tiere – wie für unser eigenes – interessant erscheinen. Nach „einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken“ kann der „Begriff eines Dinges, als an sich Naturzwecks“, „ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein, … die Nachforschung über Gegenstände dieser Art zu leiten und über ihren obersten Grund nachzudenken“. (KU, V, 375) „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts ist in ihm umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“ (KU, V, 376) „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt … eine sich fortpflanzende bildende Kraft“. (KU, V, 374) Wir wissen, dass wir eine so perfekt anmutende Organisation nicht erschaffen könnten, und vermuten – rein spekulativ – einen Gott als Schöpfer. Der Stolz auf unsere eigenen Vermögen wird durch den Eindruck dieser Unfähigkeit in Schranken gewiesen, und wir empfinden die Natur – und vor allem ihre komplexen Organismen – als über uns erhaben. (vgl. KU, V, 187, 260, 374).

13. Kants Rassismus

Im Zuge der internationalen Debatte um ethnische, religiöse und sexuelle Emanzipation ist eine Reihe rassistischer Aussagen Kants ins Zentrum der Betrachtung gerückt, die seine gesamte Ethik zu diskreditieren drohen. Seit dem Jahr 2022 wird an der Universität Jena, gefördert durch die DFG, zu der Fragestellung geforscht „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der Klassischen Deutschen Philosophie?“; und die große Kant-Ausstellung in Bonn „Immanuel Kant und die offenen Fragen“ vom 24. November 2023 bis zum 17. März 2024 stellte gerade Kants Haltung zu diesen drei Formen der Diskriminierung als offen dar.

Schon 1775 hat Kant die kurze Schrift „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ veröffentlicht, in der er seine Geographie-Vorlesung des Jahres ankündigt und ihre Themenwahl begründet. Die Vorlesung werde „mehr eine nützliche Unterhaltung“ sein „als eine tiefe Nachforschung enthalten“. (II, 429) Mit ihr setze er aber die „Idee“ um, die er sich „von einem nützlichen akademischen Unterricht mache“, nämlich die „Weltkenntnis“ der Studenten zu fördern, „welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden“. (II, 443) Kant hat seine Vorlesungsmanuskripte für eine Ausformulierung und Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und ihr zufolge sprach Kant über das Klima, die Geologie und Geographie der Erdteile sowie vor allem über Aussehen und Charakterzüge der Tiere und Menschen, die dort leben. Für diese Ausführungen stützte sich Kant auf die umfangreich von ihm gelesenen Reiseberichte und auf Schilderungen seiner Gäste, weitgereister Kaufleute und Kapitäne. Zehn Jahre später hat er das Thema begrifflich klarer in dem Aufsatz „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“ (VIII, 89ff.) erneut aufgegriffen und seine These 1788 in der Schrift „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (VIII, 157ff.) gegen Kritik verteidigt.

Kant ist naturwissenschaftlich am Rassebegriff interessiert. Es sei seine „Absicht …, diesen Begriff einer Rasse, wenn es deren in der Menschengattung gibt, genau zu bestimmen“; es werde nämlich „viel von den verschiedenen Menschenrassen gesprochen“, sei aber nötig, „den Begriff, welchen man durch Beobachtung aufklären will, vorher selbst wohl bestimmt zu haben“, damit man „weiß, wonach man suchen soll“. (Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, VIII, 91) „Nur das, was in einer Tiergattung anerbt, kann“ seines Erachtens“ zu einem Klassenunterschiede in derselben berechtigen“. (ebd.) Sicher vererbt werde unter Menschen aber nur die Eigenschaft der Hautfarbe und zwar von Vater und Mutter „jederzeit beiderseitig an einem und demselben Kinde“, so dass sich „jederzeit ein Mittelschlag“, d.h. eine Hautfarbe ergebe, die aus denen der Eltern zu gleichen Teilen gemischt ist. (Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, VIII, 95) Zwar gebe es auch andere „erbliche Charaktere in der Menschengattung“, doch finde sich „kein einziger innerhalb einer durch bloße Hautfarbe charakterisierten Menschenklasse“, der „notwendig anerbt“ und zur Klassenbildung berechtigt. (ebd.) Dem Stand der Forschung nach kenne man „nicht mehr erbliche Unterschiede der Hautfarbe, als die: der Weißen“ insbesondere Europas, der „gelben“ Asiens und Indiens, der dunkelhäutigen Afrikaner (Kant benutzt hier das N-Wort) und „der kupferfarbig-roten Amerikaner“. (VIII, 93) „Wir werden also gedrungen anzunehmen, dass es einmal verschiedene Stämme von Menschen gegeben habe, ungefähr in den Wohnsitzen, worin wir sie jetzt antreffen“, von denen „die viererlei Hautfarbe das äußere Kennzeichen ist“. (VIII, 98) „Der Begriff einer Rasse enthält“ aber auch notwendig „den Begriff eines gemeinschaftlichen Stammes“ der Menschen, weil sie sonst ja untereinander die Anteile der Hautfarbe nicht vererben könnten. (VIII, 99)

Dieser Rassebegriff ist nach heutigen Standards sehr ungenau und auch unbrauchbar, aber zunächst nicht diskriminierend. Die Anlagen für die Hautfarbe werden zwar zu gleichen Teilen vererbt, sind aber so umfangreich und in ihrer Zusammensetzung unkalkulierbar, dass die Hautfarbe des Kindes keineswegs immer eine gleichmäßige Mischung der Farben der Eltern ist. Anlagen der beiderseitigen Großeltern können bei der Kombination ausgewählt werden und zu einer ganz anderen Farbe führen. Darüber hinaus haben die vielen Wanderungsbewegungen zu einer Durchmischung der genetischen Anlagen geführt, die keine trennscharfe Klassenbildung erlaubt. Wolle man in Bezug auf relativ statische Verhältnisse vor langer Zeit und in entlegenen Erdteilen Menschenrassen unterscheiden, müsste man eine Vielzahl körperlicher Merkmale und ihre Ausprägung berücksichtigen, sodass sich jederzeit auch Übergänge zwischen ihnen fänden. Darüber hinaus wäre ein solcher Rassenbegriff ganz uninteressant, da die Hautfarbe ein schlechter Indikator für die Besonderheit eines Genoms ist. Die genetischen Unterschiede von Trägern derselben Hautfarbe sind weit größer als die zwischen verschiedenfarbigen Ethnien. Wissenschaftlich wird auf eine Unterscheidung von Menschenrassen daher verzichtet; und wer heute noch von Menschenrassen spricht, suggeriert damit die Möglichkeit einer trennscharfen Klassenbildung und verhält sich tendenziell rassistisch.

Kant verfährt bei seiner Begriffsbildung zunächst wertneutral und stellt fest, dass die „Klasse der Weißen … nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen unterschieden“ sei, weil es „gar keine verschiedenen Arten von Menschen“ gebe. (Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, VIII, 99f.) Vielmehr sei „selbst der Charakter der Weißen … nur die Entwicklung einer der ursprünglichen Anlagen“ des zu vermutenden „ersten Menschenstammes“ (VIII, 106); und „wenn der Mohr in Zimmern und der Kreole in Europa aufgewachsen ist, so sind beide von den Bewohnern unseres Weltteils nicht zu unterscheiden“ (VIII, 92).

1788 geht Kant in seiner Abhandlung „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ auf Einwände Georg Forsters aus dem Jahr 1786 ein. Forster hatte eine Gängelung darin gesehen, mit der Definition des Rassebegriffs schon „vorher ein Prinzip festzusetzen, nach welchem sich der Naturforscher sogar im Suchen und Beobachten solle leiten lassen“, und Kants Vermutung eines ersten Menschenstammes sei keine empirische „Naturbeschreibung“, sondern eine Spekulation zur „Naturgeschichte“. (vgl. VIII, 161) Bei unvoreingenommener Beobachtung ist nach Forster vielmehr zu vermuten, dass die Menschen durch „Lokalzeugungen“ entstanden sind, dass also Afrika seine Menschen und Asien die seinigen hervorgebracht habe (vgl. Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, VIII, 179), denn nur so sei die „Angemessenheit der Menschen zu ihren Mutterländern“ zu erklären (vgl. ebd., 172).

Hierauf entgegnet Kant, dass sich „die Entwicklung der Anlagen“ sehr wohl „nach den Örtern“ richte, an denen sie leben, aber so, dass die Lebensbedingungen aus der Gesamtheit der gemeinsamen Anlagen der ersten Menschen eine Auswahl treffen: „Also bedurfte es nicht einer besonderen weisen Fügung, sie in solche Örter zu bringen, wo ihre Anlagen passten; sondern wo sie zufälliger Weise hinkamen und lange Zeit ihre Generation fortsetzten, da entwickelte sich der für diese Erdgegend in ihrer Organisation befindliche, sie einem solchen Klima angemessen machende Keim.“ (Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, VIII, 173) Die Reichweite dieser Prägung durch die Umwelt versucht Kant nun anhand der Unmöglichkeit ihrer kurzfristigen Modifikation nachzuweisen. Wo immer Menschen nämlich ihren angestammten Lebensverhältnissen entwurzelt worden seien, hätten sie sich den neuen nicht anpassen können. Diejenigen Inder oder Afrikaner, die in nördliche Gegenden vertrieben worden sind, hätten auch „in ihrer Nachkommenschaft … niemals einen zu ansässigen Landbauern oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen“. (VIII, 174) Hiermit aber stuft Kant die Fähigkeiten dieser Menschen willkürlich herab, hatte er doch zunächst selbst behauptet, Lebensumfeld und Erziehung seien es, die aus jedem einen Europäer machen könnten (vgl. Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, VIII, 92).

Kant beruft sich für diese Behauptung auf die angebliche Beobachtung eines sachkundigen Mannes, dass unter den Tausenden freigelassener Sklaven in Amerika und England niemand sei, der einer geregelten Arbeit nachgeht, und hieraus müsse man wohl darauf schließen, „dass es außer dem Vermögen zu arbeiten noch einen unmittelbaren … Trieb zur Tätigkeit … gebe, der mit gewissen Naturanlagen besonders verwebt ist“, und von diesem Trieb brächten Inder und Afrikaner eben nicht mehr in andere Klimazonen mit und vererbten nicht mehr davon, als sie für ihre Erhaltung in ihrem alten Mutterlande brauchten, wo sie weit weniger Bedürfnisse und Mühen gehabt hätten. (vgl. Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie; VIII, 174, Anm.) Mit der beschränkten Anpassungsfähigkeit der Menschen sei es zu erklären, dass die „Einwohner von Amerika … zu schwach für schwere Arbeit, zu gleichgültig für emsige und unfähig zu aller Kultur“ seien und diesbezüglich „noch tief unter“ dem Afrikaner stünden, „welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen einnimmt (ebd. 175f.). Die Amerikaner hätten nämlich nicht schon immer dort gelebt, sondern seien wohl aus einer südlicheren Gegend der alten Welt „nordostwärts immer weiter bis nach Amerika herübergezogen“ und hätten dabei ihre „Naturanlagen schon so weit entwickelt, als es möglich ist“, und dies habe bei den weiteren Wanderungen den amerikanischen Kontinent hinunter „alle fernere Anartung an ein neues Klima unmöglich gemacht“, und so sei eine Rasse entstanden, die „für alle Klimaten immer einerlei, in der Tat also keinem gehörig angemessen ist“. (Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, VIII, 175)

Ähnliche Herabsetzungen der außereuropäischen vermeintlichen Rassen finden sich in anderen Ausführungen zu Charakterzügen der Völker. Die „Wilden … von Nordamerika“ hätten zwar „ein starkes Gefühl für Ehre“ und damit „einen … erhabenen Gemütscharakter“, aber „wenig Gefühl für das Schöne im moralischen Verstande“ wie z.B. für „die großmütige Vergebung einer Beleidigung“ (Beobachtung über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, II, 253f.) „Die Schwarzen“ hätten von „Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege“, seien „sehr eitel“ und „so plauderhaft, dass sie mit Prügeln müssen auseinander gejagt werden“. (ebd.) In der Geographie-Vorlesung fasst Kant zusammen: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben … [Inder und Asiaten] haben schon ein geringeres Talent. Die … [Afrikaner] sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“ (Physische Geographie, IX, 316)

Alle diese Aussagen sind – auch für einen Intellektuellen der damaligen Zeit und unter den Lebensbedingungen Königsbergs – unentschuldbar rassistisch, auch wenn die genannten Unfähigkeiten und Laster keine fest vererblichen Rassemerkmale sein sollen. Mit seinen rassistischen Aussagen nimmt Kant landläufige Vorurteile aus Berichten Forschungsreisender oder seiner Gäste aus der Seefahrt auf, um sich für seine Hörer interessant zu machen, die es nach Sensationen aus der unbekannten Ferne und nach Selbstbestätigung dürstete. Sie sind aber keine Konsequenzen der Moral- und Rechtsphilosophie Kants. Dieser zufolge besitzen alle Wesen, die die Regeln, nach denen sie leben, bewusst wählen und koordinieren können, also alle Menschen, dieselbe Würde. Seine rassistischen Charakterisierungen der Ureinwohner fremder Länder könnten demgegenüber zur Begründung ihrer kolonialistischen Bevormundung herangezogen werden, die gegen den kategorischen Imperativ verstößt. Dieser Imperativ ist keine gelegentliche Aussage Kants, sondern der Schlussstein, der seine theoretische und praktisch Philosophie sowie seine Moral- und seine Rechtsphilosophie zusammenhält. Im Sinne des kategorischen Imperativs hat Kant die Rechte der Ureinwohner Nordamerikas nachdrücklich verteidigt. Der „Naturzustand der Völker [ist] ebenso wohl als [der] einzelner Menschen ein Zustand, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten“. (MdS, VI, 350) Ihre „gesetzlose Freiheit“ könnten die Eingeborenen aber nur ablegen, indem sie sich „einem gesetzlichen, von ihnen selbst zu konstituierenden Zwange unterwerfen“. (Zum ewigen Frieden, VIII, 354) Bei ihrer Ansiedlung in der Neuen Welt dürfen die Europäer nur insoweit Land nehmen, als sie die Eingeborenen in ihrer Nutzung es Bodens nicht einschränken; „wenn es aber Hirten- oder Jagdvölker sind (wie die Hottentotten, Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen), deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt, so würde dies nicht mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien geschehen können“. (MdS, VI, 353)

 

Teil II: Kants Begründung der Einheit der Natur

Eine der größten Stützen für die Kantische Philosophie ist die gewiss wahre Betrachtung, dass wir ja auch so gut etwas sind, als die Gegenstände außer uns. Wenn also etwas auf uns wirkt, so hängt die Wirkung nicht allein von dem wirkenden Dinge, sondern auch von dem ab, auf welches gewirkt wird. Beide sind, wie bei dem Stoß, tätig und leidend zugleich; denn es ist unmöglich, dass ein Wesen die Einwirkungen eines andern empfangen kann, ohne dass die Hauptwirkung gemischt erscheine. Ich sollte denken, eine bloße tabula rasa ist in dem Sinne unmöglich, denn durch jede Einwirkung wird das einwirkende Ding modifiziert, und das, was ihm abgeht, geht dem andern zu, und umgekehrt. [Lichtenberg 1971, K 74]

Intention

In unserem Erleben gehen wir trotz aller Verschiedenartigkeit der Gegenstände und Ereignisse intuitiv davon aus, dass sie die Bestandteile einer einzigen Natur und ihrer Entwicklung ausmachen. Kant bietet hierfür mit der Verankerung des Naturbegriffs in den Grundlagen a priori unserer Erkenntnis eine Erklärung an. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit, die konstruktive Funktion der Urteilsformen, die Integration der Wahrnehmungen in ein durchgängiges Bewusstsein und die Grundsätze der Erfahrung bilden die Elemente seines Naturkonzepts. Sie sollen hier in ihren Funktionen dargestellt werden. Insbesondere soll verständlich gemacht werden, was es heißt, dass die Vernunft nach Kant der Natur ihre Gesetze vorschreibt, und welche Rolle die einzelnen Urteilsformen bei der Schaffung der Auffassung eines zusammenhängenden Naturganzen spielen. Die hierarchische Ordnung der Urteilsformen und ihre Verwendung als normativer Konzepte sind hierbei die Schlüssel zum Verständnis der Systematik der Kategorientafel. Zunächst aber soll der bewusstseinsphilosophische Ansatz Kants erläutert werden.

1. Die Grundlagen

Der Begriff der Natur wird von Kant in der ´Kritik der reinen Vernunft´ am Ende der ´Transzendentalen Deduktion´ systematisch eingeführt. Er bestimmt ihn als den „Inbegriff aller Erscheinungen“, und stellt die These auf, die Kategorien seien „Begriffe, welche den Erscheinungen, mithin der Natur, als dem Inbegriffe aller Erscheinungen (natura materialiter spectata), Gesetze a priori vorschreiben“ (B, 163) und zwar Gesetze, „auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht“ (B, 165).

Diese These muss in zweierlei Hinsicht auf Unverständnis oder wenigstens Skepsis stoßen: Zum einen ist nicht ohne weiteres klar, was es heißen soll, dass Begriffe, also abstrakte Gegenstände, der Natur, also dem beobachtbaren realen Geschehen, Vorschriften machen. Die objektive Gültigkeit, ja vielleicht sogar der Sinngehalt von Begriffen scheinen vielmehr umgekehrt von der Natur und unserer Stellung in ihr abzuhängen. Zum anderen muss an dieser These überraschen, dass schon die Kategorien, von denen Kant zu Beginn der transzendentalen Deduktion sagt, sie seien „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“ (B, 128), hinreichen sollen, die „Gesetze, auf denen eine Natur überhaupt … beruht“ (B, 165), zu bestimmen. Nahe liegend erscheint vielmehr, dass die Bedingungen der Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge des Auftretens von Gegenständen verschieden von denen der Erkenntnis einzelner Gegenstände sind oder jedenfalls über die letzteren hinausgehen.

2. Beschreibungsabhängigkeit

Die prägende Bedeutung der Kategorien für das Naturgeschehen wird von Kant am Ende der transzendentalen Deduktion damit erläutert, dass „Gesetze“ nicht „in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt“ existieren, „dem die Erscheinungen inhärieren“ (B, 164). Diese Erläuterung kann modern ausgedrückt zunächst dahingehend verstanden werden, dass Gegenstände das, was sie sind, nur unter einer Beschreibung sind. Welche Eigenschaften an Gegenständen oder Beziehungen zwischen Gegenständen sichtbar werden, hängt demnach davon ab, unter welchen Gesichtspunkten und mit Hilfe welcher Begriffe man das gegebene Beobachtungsmaterial theoretisch verarbeitet, und so haben abstrakte begriffliche Gegenstände in methodologischem Sinne eine prägende Bedeutung für die Gegenstände und die Beziehungen zwischen ihnen.

Diese Erklärung reicht jedoch noch nicht hin, den von Kant behaupteten vorschreibenden Charakter der Kategorien zu erklären, denn es könnte die Möglichkeit einer Wahl zwischen verschiedenen Begriffsrahmen bestehen, und diese Wahl könnte wiederum als ein Bestandteil des Naturgeschehens selbst durch vorgängige natürliche Ursachen bestimmt sein. Es scheint durchaus möglich, die Abhängigkeit der Ontologie und des gesamten Weltbildes eines Menschen von begrifflichen und sonstigen theoretischen lnformationsverarbeitungsmustern zu behaupten und dennoch eine relativistische und naturalistische Erkenntnistheorie zu vertreten.

3. Philosophie und Psychologie

Kant betrachtet Vorstellungen zwar teilweise auch als kausal bewirkte Zustände, aber seines Erachten können die Eigenschaften, die unsere Erkenntnisse als solche, d.h. als objektiv gültige Überzeugungen auszeichnen, auf diese Weise nicht vollständig erfasst werden. Zu Beginn der Einleitung in die ´Kritik der reinen Vernunft´ stellt Kant zunächst fest, dass unser „Erkenntnisvermögen … durch Gegenstände“ zur „Ausübung erweckt“ wird, indem diese „unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, … den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt“ (B, 1); und zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik definiert er „Empfindung“ als die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden“ (B, 34). Aber schon im zweiten Absatz der Einleitung erklärt er, dass auch „[w]enn … alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt“, so müsse sie „darum doch nicht eben aus der Erfahrung“ entspringen, sondern sie könne sehr wohl „ein Zusammengesetztes“ sein, aus dem, „was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt“ (B, 1).

Die Beiträge unseres Erkenntnisvermögens zu unseren Erfahrungen werden von Kant nicht als bestimmte psychische Zustände oder Ereignisse, sondern als „bloße Vorstellungen“ (vgl. B, 164), d.h. als „Modifikationen“ unseres Bewusstseins oder „innere Bestimmungen des Gemüts“ behandelt, die zunächst nur „subjektive Realität“ besitzen und deren objektive Realität, d.h. deren „Beziehung auf einen Gegenstand“, erst noch problematisiert und erklärt werden soll (vgl. B, 242). Nach Kant machen wir beim Erkennen von Gegenständen oder eigenen Zuständen bereits Verwendung von uns zunächst nur subjektiv bekannten Sinnesqualitäten und Urteilsformen, und diese bloße Bekanntschaft mit Vorstellungsinhalten unterscheidet er als das subjektive Bewusstsein der Vorstellungen von diesen Vorstellungen als Gegenständen unserer Erkenntnisleistungen, d.h. bestimmten Vorstellungszuständen bestimmter Personen. So sagt er z.B., dass ich noch keine Selbsterkenntnis besitze, wenn ich mir „meiner als denkend bewusst bin“, sondern der Satz „Ich denke“, sofern er nur dieses subjektive Bewusstsein ausdrückt, „problematisch genommen“ werden muss, d. h. offen gelassen werden muss, ob das Subjekt dieses Satzes existiert (vgl. B, 405 f.). Kant hält nur eine „empirische Psychologie“ für möglich (vgl. B, 405) und besteht darauf, dass diese „aus der Metaphysik gänzlich verbannt sein“ müsse und „schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen“ sei (vgl. B, 876). Kants Gründe hierfür werden in seinen Aussagen zur Aufgabe und der Methode der formalen Logik besonders deutlich:

Nähmen wir“ in der Logik „die Prinzipien aus der Psychologie, d.h. aus den Beobachtungen über unseren Verstand, so würden wir bloß sehen, wie das Denken vor sich geht und wie es ist unter den mancherlei subjektiven Hindernisse und Bedingungen; dies würde also zur Erkenntnis bloß zufälliger Gesetze führen. In der Logik ist aber“ nach Kant „die Frage nicht nach zufälligen, sondern nach notwendigen Regeln; nicht“ danach, „wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen“ (Logik Einl., 14; vgl. Refl. 1612).

4. Philosophische Analyse

Zwar können nach Kant auch die „notwendigen und allgemeinen Regeln des Denkens … nur durch Betrachtung [des] natürlichen Gebrauchs“ unseres Verstandes „gefunden werden“ (Logik Einl., 17); doch sie werden nicht einfach von dem subjektiven und wirklichen Gebrauch „deriviert“, sondern „von dem objektiven – und möglichen Gebrauch des Verstandes abstrahiert“; sie sind Gesetze „der richtigen Erkenntnis überhaupt in Ansehung möglicher Erkenntnis“ (Refl. 1603); und die Logik ist keine empirische Wissenschaft, sondern eine „Analytik“ (Logik Einl., 16). Diesen Erklärungen zufolge können die Grundsätze der Logik nicht empirisch-induktiv aufgestellt werden, da auf der Basis endlich vieler beobachteter Fälle nicht auf streng allgemeingültige Grundsätze geschlossen werden kann. Zur Entdeckung solcher Grundsätze ist es nach Kant vielmehr nötig, in einem ersten Schritt unter den beanspruchten Erkenntnissen eine Auswahl zu treffen, nämlich die „objektiven“ Erkenntnisse (vgl. Refl. 1603) von den bloß subjektiven und zu Unrecht beanspruchten zu unterscheiden; und in einem zweiten Schritt ist die Betrachtung dann über die wirklich gegebenen Fälle hinaus auf alle möglichen Fälle objektiv gültiger Erkenntnisse auszudehnen. Der Weg auf dem dies zu tun ist, ist die Analyse. Nicht nur die formale Logik ist eine „Analytik“ (Logik Einl., 16), sondern „philosophische Definitionen“ können nach Kant überhaupt „nur als Exposition gegebener … Begriffe“ ausfallen und „nur analytisch durch Zergliederung … zustande gebracht werden“ (B, 758).

Wie nach Kant eine Ausdehnung der Betrachtung über den Bereich der bereits gewonnenen Erkenntnisse hinaus auf alle möglichen Erkenntnisse von Gegenständen angestellt werden kann, ist seiner Argumentation für die Apriorität der Vorstellungen von Raum und Zeit zu entnehmen. Im jeweils ersten Abschnitt der metaphysischen Erörterungen der Begriffe von Raum und Zeit behauptet er zunächst, diese Begriffe könnten nicht, wie z.B. die Begriffe ´Baum´ oder ´Fichte´, auf der Basis bereits gewonnener Erkenntnisse durch einen Vergleich von Gegenständen, die Bestimmung der allgemeinen und besonderen Eigenschaften derselben und das Absehen von ihren Unterschieden (vgl. Logik, 6, 94 f.) gebildet werden, da die Vorstellungen von Raum und Zeit (also die Vorstellungen der Inhalte der Begriffe von Raum und Zeit) bereits verwendet werden müssen, um Gegenstände überhaupt räumlich oder zeitlich lokalisieren zu können (vgl. B, 38 u. 46).

Dafür, dass die Verwendung der Vorstellungen von Raum und Zeit eine notwendige Bedingung jeder möglichen Identifikation eines Gegenstandes oder Zustandes ist, wird dann im jeweils zweiten Abschnitt mit einem Gedankenexperiment argumentiert. In der metaphysischen Erörterung des Begriffs des Raumes behauptet Kant, man könne sich, „niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei“, obwohl man sich „ganz wohl denken“ könne, „dass keine Gegenstände darin angetroffen werden“. Im zweiten Abschnitt der Erörterung des Begriffs der Zeit heißt es entsprechend, man könne „in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen“ könne. Wie die letztgenannte Argumentation für die Apriorität der Vorstellung der Zeit deutlich macht, will Kant nicht behaupten, dass es ganz und gar unmöglich sei, von den Eigenschaften der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit abzusehen, sondern nur, dass dies in Ansehung der ,Erscheinungen überhaupt‘ unmöglich sei. „Erscheinung“ heißt bei Kant der „unbestimmte Gegenstand“ einer Anschauung, die sich „durch Empfindung“ auf ihren Gegenstand bezieht (vgl. B, 34). Kant behauptet also zunächst, es sei unmöglich, in Bezug auf beliebige wahrnehmbare Gegenstände und Zustände von ihrer Räumlichkeit bzw. Zeitlichkeit abzusehen.

Wie die Argumentation für die Apriorität der Vorstellung des Raumes deutlich macht, bezieht sich Kant mit seiner Behauptung, man könne die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen, im Unterschied zu seiner ersten Behauptung nicht auf die Erscheinungen überhaupt, sondern auf die Erscheinungen, die in der Zeit wirklich ´angetroffen werden´ können. Positiv formuliert wird von Kant also insgesamt behauptet, man könne sich auch unabhängig von der Einschränkung auf die wirklich wahrnehmbaren Gegenstände oder Zustände nur räumliche Gegenstände und zeitliche Zustände als wahrnehmbar vorstellen. Wenn diese Behauptung richtig ist, zeigt das Gedankenexperiment, dass der Bereich der als wahrnehmbar vorstellbaren Gegenstände und Zustände größer ist als der der wirklich wahrgenommenen, aber auch die nur als wahrnehmbar vorstellbaren stets als räumlich bzw. zeitlich strukturiert und lokalisiert vorgestellt werden.

Kant behauptet die Apriorität der Vorstellungen von Raum und Zeit also nicht in Bezug auf irgendwelche im weitesten Sinne mögliche, d. h. nicht von vornherein völlig unmögliche Erkenntnisse, sondern in Bezug auf Erkenntnisse von Gegenständen oder Zuständen, die wir uns wenigstens als wahrnehmbar vorstellen können. Durch die von Kant angeführten Gedankenexperimente werden die Begriffe der unseres Wissens für uns wahrnehmbaren Gegenstände und Zustände also näher als der Begriff räumlicher Gegenstände und der Begriff zeitlicher Zustände erläutert. Der vielfach erhobene Einwand, durch den Nachweis der Gültigkeit von Einsteins Relativitätstheorie seien Kants Konzepte von Raum und Zeit widerlegt (vgl. Stegmüller 1968, 27; Willaschek 2023, 319), geht also an dessen Absicht vorbei, da Kant sich nicht unmittelbar auf die physikalische Wirklichkeit, sondern auf die ihrer Erkenntnis zugrunde liegende Wahrnehmung bezieht. Nicht selbst wahrnehmbare Kräfte oder Beziehungen zwischen Körpern waren Kant schon aus der zeitgenössischen Physik bekannt, so z.B. der Magnetismus oder die Gravitation. Zur Entstehungszeit der Relativitätstheorie hat z. B. der Physiker Max Laue darauf hingewiesen, dass die Lorentz-Transformation der Messungen eines bewegen Beobachters in die eines anderen das Ideal einer einheitlichen Zeit und eines einheitlichen Raumes voraussetzt. (vgl. Cassirer 1921, 73 f.) Auch der der Transzendentalen Ästhetik näher liegende Einwand, es sei nicht auszuschließen, dass „in uns noch ganz andere Formen der Rezeptivität schlummern“ und uns ganz andere als räumliche Gegenstände oder zeitliche Zustände begegnen mögen (Hossenfelder 1978, 71), trifft Kants These von der Apriorität der Vorstellungen von Raum und Zeit nicht. Auszuschließen sind solche von den unseren völlig verschiedene Wahrnehmungen zwar nicht, aber anhand des Begriffs nur negativ bestimmbarer Wahrnehmungen können keine positiven Aussagen über die Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche gemacht werden.

Doch warum sollte man in der Erkenntnistheorie überhaupt nach universell gültigen Formen a priori suchen und die Begriffe aller unseres Wissens möglicherweise wahrnehmbaren Gegenstände und Zustände bilden? Warum sollte man die aussichtsreichen evolutionstheoretischen, soziologischen, psychologischen oder auch neurophysiologischen Ansätze nicht in die Erkenntnistheorie aufnehmen und unsere Erkenntnisleistungen naturalistisch als die Wirkungen natürlicher Dispositionen, gegebener Außenreize und sozialer Mechanismen erklären? Eine solche Betrachtung würde gerade zeigen, dass die Orientierungsmuster verschiedener höher entwickelter Lebewesen sehr verschieden sind und sich wissenschaftliche Konzepte im Verlauf der Kulturgeschichte grundlegend geändert haben. Angesichts dieser Feststellungen muss Kants Suche nach universellen Erkenntnisprinzipien als Griff nach den Sternen und seine methodologische These, durch die von uns für die Beschreibung und Erklärung der Natur für unverzichtbar gehaltenen Orientierungsmuster und Prinzipien würden wir der Natur ihre Struktur vorschreiben, als eine bloße und unnötig starke Hypothese erscheinen.

5. Apriorität und Normativität

Der Grund, aus dem nach Kant in der Erkenntnistheorie streng allgemeingültige Prinzipien aufzustellen sind und sie nicht als naturalistische Theorie ausfallen kann, wird in der Transzendentalen Ästhetik nur in einigen Aussagen angedeutet und erst in der Transzendentalen Logik deutlich ausgesprochen. Die transzendentale Ästhetik soll eine „Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori“ sein (B, 35), nämlich zeigen, dass die Vorstellungen von Raum und Zeit als „reine Formen sinnlicher Anschauung … Prinzipien der Erkenntnis a priori“ sind (B, 36). Die Vorstellungen von Raum und Zeit sollen also als erkenntnisleitende Einstellungen fungieren und die in ihnen vorgestellten Formen sollen bei der Wahrnehmung und Erfahrung von Gegenständen mehr oder weniger bewusst als verbindliche Formen eingehalten werden. Kant analysiert unsere Erkenntnisleistungen nicht aus der Perspektive eines unbeteiligten Betrachters, sondern aus der Verwendungsperspektive und fragt, welche anschaulichen oder begrifflichen Formen bei der Gewinnung von Erkenntnissen als Prinzipien zu befolgen sind, d. h. er will in seiner Erkenntnistheorie normativ verbindliche Kriterien objektiv gültiger Erkenntnisse aufstellen.

Ausdrücklich betont wird diese normative Bedeutung erkenntnistheoretischer Prinzipien in der bereits zitierten Aussage, in der formalen Logik sei „die Frage … nicht, wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen“ (Logik Einl., 14). Die drei „Grundsätze“ der formalen Logik, der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, der Satz vom zureichenden Grund und der Satz vorn ausgeschlossenen Dritten, sollen „allgemeine, bloß formale Kriterien der Wahrheit“ sein (Logik Einl., 52), die „zwar freilich zur objektiven Wahrheit nicht hinreiche[n], aber … doch … die conditio sine qua non derselben“ sind (Logik Einl., 51). Gemeinsam bilden sie einen „Kanon“, der „zum Prinzip der Beurteilung alles Verstandesgebrauchs überhaupt, wiewohl nur seiner Richtigkeit in Ansehung der bloßen Form“ dient (Logik Einl., 15).

Der kriteriologische Charakter der Anschauungsformen und der Grundsätze der formalen Logik sowie aller auf ihnen beruhenden Grundsätze der Erkenntnistheorie Kants ist der Grund dafür, dass sie von ihm nicht empirisch-induktiv als generell erfüllte deskriptive Gesetze, sondern durch Analyse unseres Bewusstseins unserer Erkenntnisleistungen als normative Prinzipien aufgestellt werden, die universelle Geltung beanspruchen. Kriterien unterscheiden sich von Einzelfallgeboten, wie sie z. B. in Befehlen ausgesprochen werden, dadurch, dass mit ihnen der Anspruch auf allgemeine Richtigkeit der ihnen entsprechenden Entscheidungen verbunden ist, und dieses Anspruchs wegen können Kriterien als solche nicht willkürlich auf einzelne oder nur die bisher gegebenen Fälle eingeschränkt werden, sondern müssen sich auf alle möglichen Entscheidungsfälle bestimmter Art beziehen. Zwar können universelle Normen in ihrer Geltung auf bestimmte Zeiträume eingeschränkt werden und kann man durchaus vereinbaren, für eine bestimmte Zeit nach einem bestimmten Kriterium zu verfahren, aber wenn hiermit mehr als die willkürliche Vereinbarung einer bloßen Praxis vollzogen werden soll, nämlich auch eine Begründung für die Richtigkeit dieser Praxis gegeben werden soll, so kann in einer solchen zeitlichen Einschränkung der Anwendung eines Kriteriums nur eine nähere Bestimmung seines Anwendungsbereichs gesehen werden. Seinem originären Anspruch nach aber gilt jedes echte Kriterium wie überhaupt jede echte Norm streng universell, so z. B. für alle möglichen in einem bestimmten Zeitraum auftretenden Fälle.

Vielleicht lassen sich deskriptiv universell gültige Erkenntnisgesetze, die auch jede zukünftige Bewährungsprobe bestehen, nicht entdecken, weil wir in der Zukunft Wahrnehmungen haben und Erfahrungen machen mögen, die wir uns gegenwärtig gar nicht vorstellen können, aber wenn unser Erkennen eine normengeleitete, den Anspruch auf Richtigkeit einschließende Leistung ist, kommen wir um eine Suche nach universellen normativen Erkenntnisprinzipien nicht umhin, und die einzige Möglichkeit, solche zu entdecken, scheint Kant in der Analyse unseres Bewusstseins unserer Erkenntnisleistungen zu liegen. Im erkenntnismethodologischen Sinne der normativen Verbindlichkeit universeller Prinzipien ist auch die Aussage Kants aus dem § 26 der Transzendentalen Deduktion zu verstehen, durch die Kategorien werde der Natur gleichsam ihr Strukturgesetz vorgeschrieben und sie sogar allererst möglich gemacht (vgl. B, 159 f.). Den Gegenständen soll durch die Kategorien vorgeschrieben werden, dass, sofern sie unseres Wissens für uns methodisch korrekt erfahrbar sind, sie nach kategorialen Gesetzen untereinander verbunden sind und so eine kategorial strukturierte Natur ausmachen.

Der universelle Geltungsanspruch erkenntnisleitender Prinzipien macht aber noch nicht verständlich, warum die Gesamtheit der erkennbaren Gegenstände gerade ein relational strukturiertes zeitliches Geschehen bilden soll.

6. Bestimmen und Unterscheiden

Am Aufbau der ´Kritik der reinen Vernunft´ muss überraschen, dass Kant die Kategorien in der transzendentalen Logik nicht entsprechend zu der metaphysischen Erörterung der Anschauungsformen in der transzendentalen Ästhetik durch eine Analyse unseres Bewusstseins unserer Erkenntnisleistungen gewinnt, um von ihnen anschließend zu zeigen, dass sie auch für alle unseres Wissens möglichen Urteile über wahrnehmbare Gegenstände gelten, sondern sie lediglich unter Berufung auf eine nur in einigen Punkten näher erläuterte Urteilstafel in einer entsprechend aufgebauten Kategorientafel zusammenstellt. Aus den allgemeinen programmatischen Erklärungen, mit denen Kant die transzendentale Logik einleitet, geht zwar hervor, dass diese einen analytischen Charakter haben, nämlich den „reinen Gebrauch“ von Begriffen „analysieren“ und so eine „Zergliederung des Verstandesvermögens“ liefern soll (B, 90), indem „von altem Inhalt eines Urteils überhaupt abstrahier[t] und nur auf die bloße Verstandesform darin Acht“ gegeben wird (B, 95), aber im Einzelnen ausgeführt wird eine solche Analyse nicht.

Der Grund für das Fehlen einer metaphysischen Erörterung in der transzendentalen Logik dürfte sein, dass Kant es für eine – abgesehen von Details – allgemein anerkannte Lehrmeinung hielt, dass die in der Urteilstafel genannten Formen grundlegend für die Korrektheit von Urteilen sind, und er sie daher im Unterschied zu den von ihm neu eingeführten Anschauungsformen nicht im Einzelnen herausarbeiten zu müssen glaubte (vgl. Krüger 1968, 341). Wie Kant in den ´Prolegomena´ erklärt, stützt er sich bei der Aufstellung seiner, wie er meint, „vollständige[n] Tafel reiner Verstandesfunktionen“ auf die seines Erachtens „schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker“ (Prol., 39, 323 f.); und in der formalen Logik sieht er eine analytisch vorgehende Disziplin, in der allgemeine Prinzipien des methodisch korrekten Denkens „von dem objektiven … und möglichen Gebrauch des Verstandes … abstrahiert“ werden (vgl. Refl. 1603).

Auf den ersten Blick muss es aber zweifelhaft erscheinen, ob jede der von Kant genannten Urteilsformen Inhalt eines für alle Erkenntnisurteile geltenden Prinzips sein kann. Schon in Bezug auf die erste Formengruppe, die des Urteilsumfangs, liegt der Einwand nahe, dass ein Urteil nur entweder ein allgemeines wie ´Alle Menschen sind sterblich´ oder ein partikuläres wie ´Einige sterbliche Wesen sind Menschen´ oder ein singuläres wie ´Sokrates ist sterblich´ sein kann. Entsprechendes gilt für die anderen Formengruppen. Jedes Urteil kann nur jeweils eine der in ihnen genannten Formen besitzen, und daher scheint nicht jedes von ihnen als Kriterium der Korrektheit jedes möglichen Erkenntnisurteils dienen zu können.

Auch die abgeschwächte Forderung, aus jeder Gruppe müsse wenigstens eine Form auf jedes formal korrekte Urteil zutreffen, wäre nicht erfüllbar. Sowohl die genannten Formen der Quantität als auch die Formen der Qualität, ein eigenschaftszuschreibendes ein eigenschaftsabsprechendes oder ein eine negative Eigenschaft wie die Unsterblichkeit zuschreibendes Urteil zu sein, können nur auf kategorische, d. h. nur auf Urteile mit Subjekt-Prädikat-Struktur, zutreffen (vgl. Patzig 1976, 42). Die anderen in der Formengruppe der Relation genannten Urteile, nämlich hypothetische Urteile wie ´Wenn ein Lebewesen ein Mensch ist, so ist es sterblich´ und disjunktive Urteile wie ´Wenn ein Wesen ein Lebewesen ist, so ist es entweder ein Mensch oder ein Tier´, beziehen sich als solche weder auf alle, auf einige oder nur auf einen aller Gegenstände, noch sind sie eigenschaftszu- oder absprechend, sondern in ihnen werden Zusammenhänge von kategorischen Urteilen behauptet. Es stellt sich also die Frage, ob Kant mit der Urteilstafel wirklich die These aufstellen will, jedes Erkenntnisurteil müsse als methodisch korrektes Urteil jede der genannten Formen erfüllen.

Kant will dies in der Tat, und seine Begründung hierfür führt zugleich zur Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum jeder Gegenstand empirischer Erkenntnis Bestandteil eines relational strukturierten Naturgeschehens ist. Die Erklärung für den systematischen Zusammenhang der Urteilsformen kann nur zum geringeren Teil der ´Kritik der reinen Vernunft´ selbst und muss überwiegend den Ausführungen Kants zur formalen Logik entnommen werden, und auch hier wird er von Kant nicht geschlossen dargestellt, sondern er ergibt sich aus Kants Erläuterungen zu den einzelnen Urteilsformen.

Der Gesichtspunkt, unter dem jede der in der Urteilstafel genannten Formen bei der Bildung jedes Erkenntnisurteils eingehalten werden muss, ist der der Unterscheidung von Dingen. Zwar kann nicht jedes Urteil schon für sich genommen jede dieser Formen besitzen, doch wenn durch ein kategorisches Urteil ein Gegenstand eindeutig bestimmt oder eine Klasse von Gegenständen eindeutig von anderen unterschieden werden soll, so muss dieses kategorische Urteil in übergeordneten hypothetischen und disjunktiven Urteilen zu anderen kategorischen Urteilen in Beziehung gesetzt werden können, in denen die Dinge gekennzeichnet werden, von denen die ersteren unterschieden werden.

7. Die Hierarchie der Urteilsformen

Soll in einem Urteil wie ´Menschen sind sterblich´ nicht lediglich irgendwelchen Menschen die Eigenschaft der Sterblichkeit zugeschrieben werden, sondern sollen alle Menschen zu der Menge der sterblichen Wesen gezählt und durch die Eigenschaft, Mensch zu sein, von anderen sterblichen Wesen unterschieden werden, so muss der Begriff des Menschseins dem Begriff der Sterblichkeit untergeordnet und einem Begriff nichtmenschlicher sterblicher Wesen beigeordnet werden (vgl. Logik Einl., 59). Von diesen Begriffen ist der „höhere Begriff … in Rücksicht seines niederen“ der der „Gattung (genus), der niedere Begriff in Ansehung seines höheren“ der der „Art (species)“ (Logik, 10, 96). Untergeordnet wird ein Artbegriff einem Gattungsbegriff Kants Erklärungen zufolge dadurch, dass das kategorische Urteil, in dem der Artbegriff als Prädikat auf irgendwelche Dinge bezogen wird, in einem hypothetischen Urteil konditional mit dem kategorischen Urteil verknüpft wird, in dem der Gattungsbegriff auf diese Dinge bezogen wird, wie es z.B. in dem Urteil geschieht ´Wenn ein Wesen ein Mensch ist, so ist dieses Wesen sterblich´:

Die Materie der hypothetischen Urteile besteht aus zwei Urteilen, die miteinander als Grund und Folge verknüpft sind. Das eine dieser Urteile, welches den Grund enthält, ist der Vordersatz (antecedens, prius), das andere, das sich zu jenem als Folge verhält, der Nachsatz (consequens, posterius)“. (Logik, 25, 105)

Da der Nachsatz eines wahren hypothetischen Urteils nicht nur, aber immer dann wahr ist, wenn sein Vordersatz wahr ist, wird in dem eben genannten Urteil behauptet, dass ein Wesen nicht nur, aber immer dann sterblich ist, wenn es ein Mensch ist. Die Bildung hypothetischer Urteile setzt aber die Möglichkeit der Bildung negativer kategorischer Urteile voraus, da nur durch deren Verwendung behauptet werden kann, dass Dinge einer Gattung auch dann angehören können, wenn sie nicht gerade einer bestimmten untergeordneten Art angehören.

Ist das Umfangsverhältnis zweier Begriffe in einem hypothetischen Urteil durch ihre Unterordnung als Art- und Gattungsbegriff festgelegt worden, so können diese Begriffe anschließend als Subjekt- und Prädikatbegriff zur Bildung allgemeiner kategorischer Urteile über eine Gesamtheit von Dingen wie z. B. des Urteils ,Alle Menschen sind sterblich‘ und zur Bildung partikulärer kategorischer Urteile über eine Teilklasse von Dingen wie z. B. ´Einige sterbliche Wesen sind Menschen´ verwendet werden. Obwohl allgemeine und partikuläre kategorische Urteile nur unter Voraussetzung hypothetischer Urteile gebildet werden können, können sie ihrer Form nach nicht vollständig auf die Form dieser Urteile zurückgeführt werden, da kategorische Urteile sich auf Gegenstände, hypothetische aber auf Zusammenhänge von Urteilen beziehen. Betrachtet man nur das Umfangsverhältnis der verwendeten Prädikatbegriffe, so scheint es z. B. „einerlei zu sein, wenn ich sage, [:] Alle Menschen sind sterblich, oder[:] wenn etwas ein Mensch ist, so ist es sterblich“; betrachtet man dieses kategorische und dieses hypothetische Urteil aber auch in ihrem Bezug, so zeigt sich, dass sie „verschieden“ sind, „denn bei dem zweiten Urteile ist es problematisch, ob etwas sterblich sei“; das „Sterblichsein“ wird nicht kategorisch behauptet, sondern „gilt nur dann, wenn das Menschsein gilt“ (Wiener Logik, 931).

Beigeordnet wird ein Artbegriff den anderen Artbegriffen einer Gattung dadurch, dass die kategorischen Urteile, in denen die Artbegriffe als Prädikate auftreten, in einem disjunktiven Urteil streng alternativ als Vordersätze eines Nachsatzes miteinander verknüpft werden, der denselben Subjektbegriff wie die Vordersätze hat, wie es z. B. in dem Urteil geschieht ´Wenn ein Wesen entweder ein Mensch oder dieses Wesen ein Tier ist, so ist dieses Wesen sterblich´. Von den „Gliedern der Disjunktion“ wird auf diese Weise gedacht, dass „weder außer ihnen etwas ander[e]s, noch auch unter ihnen mehr als Eines wahr sein kann“ (vgl. Logik, 29, 107).

Da die einem Gattungsbegriff untergeordneten Artbegriffe in disjunktiven Urteilen vollständig erfasst werden sollen, so dass ihre Umfänge einander zum Gesamtumfang der Gattung ergänzen (vgl. Logik, 29, 107), muss sich vom Umfang jedes Artbegriffs behaupten lassen, dass er genau den Teil des Umfangs des Gattungsbegriffs ausmacht, der nicht zum Gesamtumfang der anderen Artbegriffe zählt. Sollen z.B. die Arten ´Mensch´ und ´Tier´ den Umfang der Gattung ´Lebewesen´ erschöpfen, so muss sich behaupten lassen, dass ein Lebewesen stets ein Tier ist, wenn es nicht-menschlich ist. Kategorische Urteile, die einen solchen Prädikatbegriff mit negativem Merkmalsgehalt besitzen, nennt Kant ´unendliche Urteile´, da die durch solche Prädikate gekennzeichneten Dinge irgendeine von unendlich vielen möglichen positiven Eigenschaften haben müssen. In „unendlichen Urteilen“ wird „das Prädikat durch die Negation affiziert“ (Logik, 22 Anm. 2, 104; vgl. B, 97), und es zeigt im Unterschied zu einem negativen kategorischen Urteil „nicht bloß an, dass ein Subjekt unter der Sphäre eines Prädikats nicht enthalten sei“, sondern dass es außerhalb des Umfangs dieses Prädikats „in der unendlichen Sphäre irgendwo liege“ (Logik 22 Anm. 1, 104).

Die drei Modalitäten kategorischer Urteile, möglicherweise, wirklich oder auch notwendig formal korrekt gebildet zu sein, ergeben sich schließlich aus den Graden, in denen ein kategorisches Urteil zu anderen systematisch in Beziehung gesetzt ist. Ist ein kategorisches Urteil zu keinem anderen in Beziehung gesetzt, sondern nur intern widerspruchsfrei, so ist es nur möglich, dass dieses kategorische Urteil zur unterscheidenden Kennzeichnung von Dingen dienen kann. Sicher ist dies noch nicht, da noch nicht ausgeschlossen ist, dass in ihm Gegenstände in einer Eigenschaft gekennzeichnet werden, durch die sie sich gar nicht von anderen unterscheiden. Der ´Satz des zu vermeidenden Widerspruchs´ als das allgemeine Prinzip der internen Korrektheit kategorischer Urteile bestimmt also nur „die innere Möglichkeit eines Erkenntnisses für problematische Urteile“ (Logik Einl., 52 f.).

Erst wenn ein kategorisches Urteil in einem hypothetischen Urteil mit einem anderen kategorischen Urteil verknüpft und so ein Begriff einem anderen untergeordnet worden ist, kann es wirklich zur unterscheidenden Kennzeichnung von Gegenständen dienen. Auf dem ´Satz des zureichenden Grundes´ als dem allgemeinen Prinzip der Korrektheit hypothetischer Urteile beruht nach Kant „die (logische) Wirklichkeit einer Erkenntnis“ (Logik Einl., 53).

Formal notwendig korrekt ist aber auch die Verwendung eines so bestimmten kategorischen Urteils noch nicht, da nicht sichergestellt ist, dass der untergeordnete Begriff in jedem Falle dazu dienen kann, ein Gattungsmitglied seiner Art nach von allen anderen Gattungsmitgliedern zu unterscheiden. Dies wird erst durch die disjunktive Verknüpfung der kategorischen Vordersätze hypothetischer Urteile sichergestellt; und so ist der ´Satz vom ausgeschlossenen Dritten´, der fordert, dass auf jedes Gattungsmitglied entweder ein bestimmtes Artmerkmal oder dessen Negation zutrifft, das Prinzip der notwendigen formalen Richtigkeit der Verwendung eines kategorischen Urteils bei der Unterscheidung von Gegenständen (vgl. Logik Einl., 53). Erst durch die Einhaltung dieses Grundsatzes wird festgelegt, dass „die Sphäre eines Begriffs relativ auf eine andere entweder ausschließend oder einschließend“ ist (Logik, 22 Anm. 2, 104), je nachdem, ob man zwei Artbegriffe oder einen Art- und einen Gattungsbegriff im Verhältnis ihrer Umfänge zueinander betrachtet.

Zu klären ist jetzt nur noch die systematische Stellung der Form einzelner Urteile. Sie lässt sich Kants Erläuterungen in der ´Kritik der reinen Vernunft´ zufolge (wie genau genommen auch die Form ´unendlicher´ Urteile (vgl. Scheffer 1993, 219)) nur mit Rücksicht auf den Gebrauch von Urteilen im Rahmen einer Erfahrung insgesamt bestimmen. Betrachtet man den Gebrauch des Prädikatbegriffs eines singulären kategorischen Urteils über irgendein Einzelding nur intern im Verhältnis zu seinem Subjektbegriff, so sind singuläre Urteile nach Kant „den allgemeinen gleich zu schätzen, denn in beiden gilt das Prädikat vorn Subjekt ohne Ausnahme“:

In dem einzelnen Satze: z. B. Gaius ist sterblich, kann … so wenig eine Ausnahme stattfinden als in dem allgemeinen: Alle Menschen sind sterblich. Denn es gibt nur Einen Gaius“ (Logik 21 Anm. 1, 102; vgl. B, 96)

Betrachtet man Begriffe und Urteile nur in ihrem Gebrauch relativ zueinander, so lässt sich ein „niedrigster Begriff …, worunter kein anderer mehr enthalten wäre, … in der Reihe der Arten und Gattungen … unmöglich bestimmen“ (Logik 11 Anm., 97):

Denn haben wir auch einen Begriff, den wir unmittelbar auf Individuen anwenden: so können in Ansehung desselben doch noch spezifische Unterschiede vorhanden sein, die wir entweder nicht bemerken, oder aus der Acht lassen. Nur komparativ für den Gebrauch gibt es niedrigste Begriffe“. (Logik 11 Anm., 97)

Nur im Rahmen einer irgendwie gearteten sinnlichen Erfahrung kann die begriffliche Differenzierung von Gegenständen bei einer Unterscheidung von nicht weiter nach Unterarten differenzierbaren Einzeldingen zum Stehen kommen. Vergleicht man den Subjektbegriff eines Urteils über ein Einzelding aber im Rahmen einer Erfahrung insgesamt urteilsübergreifend mit dem Subjektbegriff eines allgemeinen Urteils, so muss man feststellen, dass sie sich ihrem Umfang nach wie die „Einheit zur Unendlichkeit“ zueinander verhalten (vgl. B, 96) und diese Urteile also voneinander verschieden sind.

Sämtliche der von Kant in der Urteilstafel genannten Formen müssen also eingehalten werden, wenn man im Rahmen irgendeiner sinnlichen Erfahrung durch ein Merkmal ein Einzelding oder eine Klasse von Dingen von anderen unterscheiden will. Unterscheiden aber müssen wir Dinge nicht nur, wenn wir sie aktuell erkennen, sondern auch, wenn wir sie uns nur vorstellen und uns denken, es könnte eine Erfahrung von ihnen möglich sein.

8. Die urteilsförmige Kohärenz der Natur

Unklar ist zunächst noch, wie Urteilsformen, die einer Unterscheidung von Gegenständen nach Individuen, Arten und Gattungen dienen, zu einer Erfahrung eines Naturgeschehens, d. h. zu einer zeitlich ablaufenden Erkenntnis eines zeitlichen Geschehens führen sollen.

Nach Kant ist unser sinnliches Erleben nicht schon von sich aus ein Vorstellen von Gegenständen oder gar ein Anschauen real existierender Gegenstände, sondern „das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist“ (B, 129). Seines Erachtens können Anschauungen und Erkenntnisse real existierender Gegenstände nur durch die Einhaltung sowohl der Anschauungs- als auch der Urteilsformen bei der Verarbeitung eines gegebenen Empfindungsmaterials gewonnen werden, da es „außer der Anschauung keine andere Art zu erkennen [gibt], als durch Begriffe“ (B, 92-93). Wenn die transzendentale Logik die Grundformen des Urteilens aber ebenso vollständig erfasst (vgl. B, 89) wie die transzendentale Ästhetik die Grundformen des Anschauens (vgl. B, 36), können unsere Anschauungen von Gegenständen von uns aus dem Mannigfaltigen der Sinnlichkeit nur durch die mehr oder weniger bewusste Verwendung der Urteilsformen bei der gedanklichen Verknüpfung dieses Mannigfaltigen in den Anschauungsformen gebildet worden sein. Diese These sieht Kant gerade dadurch bestätigt, dass es möglich ist, Vorstellungen von Gegenständen gedanklich auf die gemeinsamen und unterscheidenden Eigenschaften ihrer Gegenstände hin zu analysieren und diese begrifflich nach Arten und Gattungen zu unterscheiden, denn „wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen“, und daher setze „die Auflösung, Analysis, … doch jederzeit“ eine „Synthesis“ voraus (13, 130).

Durch die synthetische Verknüpfung von Vorstellungsinhalten können aber nicht ohne weiteres Anschauungen oder Erkenntnisse von real existierenden Gegenständen gewonnen werden, denn auch bei Einhaltung der grundlegenden Anschauungs- und Urteilsformen können Vorstellungsinhalte noch willkürlich auf verschiedene Weise miteinander verknüpft werden. Eine bloße „Synthesis überhaupt“ ist nach Kant lediglich eine „Wirkung der Einbildungskraft“ (B, 103); und die „Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (B, 151). Die „Synthesis“ des „Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft … gibt … noch keine Erkenntnis“; erst die „Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen“, führen „zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes“ (B, 104).

Der Schritt von der Einbildung von Gegenständen zur Anschauung und Erkenntnis von real existierenden Gegenständen wird nach Kant mit dem Schritt von einer willkürlichen Verwendung der Urteilsformen zu einer Einhaltung der Urteilsformen als universelle Prinzipien der Verknüpfung aller uns insgesamt bewussten Vorstellungen vollzogen; und in dieser speziellen normativen Bedeutung verstärken sich die Urteilsformen zu den Kategorien. Seines Erachtens ist die Überzeugung, eine uns subjektiv bewusste Vorstellung oder ein uns subjektiv bewusstes Urteil beziehe sich auf objektiv existierende Gegenstände, mit der Überzeugung identisch, dieses Urteil oder das Urteil, durch das diese Vorstellung gebildet wurde, müsse unter den durch das sinnliche Erleben gegebenen Bedingungen notwendig in genau seiner Form gebildet werden:

Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, dass sie nichts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen“. (B, 242 f.)

Um in dem Bewusstsein zu urteilen, angesichts der gegebenen Vorstellungen notwendig auf bestimmte Weise urteilen zu müssen, muss man die Urteilsformen als „Prinzipien“ (B, 168) verwenden; und diese Prinzipien, d. h. die „Kategorien …, welche allen Verstandesgebrauch in der Erfahrung leiten“, werden gebildet, indem die „Form der Urteile … in einen Begriff von der Synthesis der Anschauungen verwandelt“ wird (B, 378).

9. Die Natur als Gesamtheit der empirischen Realität

Unter Voraussetzung der Geltung der Anschauungsformen und der Kategorien lässt sich Kants Behauptung, real existierende Gegenstände könnten nur als Teile einer Natur erkannt werden, auf folgende Weise begründen:

Da zum einen Gegenstände ausweislich der Befunde der transzendentalen Ästhetik nur in Raum und Zeit identifiziert werden können und alle möglichen Räume und Zeiten nur Teile genau eines Raumes bzw. einer Zeit sind (vgl. B, 39 u. 47), müssen alle Gegenstände möglicher Erfahrung in dem einen Raum und der einen Zeit lokalisiert werden. Und da wir zum anderen ausweislich der Befunde der transzendentalen Logik stets sämtliche Urteilsformen verwenden müssen, um Dinge unterscheidend kennzeichnen zu können, und nur dadurch Bezug auf real existierende Gegenstände nehmen können, dass wir die Urteilsformen bei der Verknüpfung des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit als Prinzipien befolgen, können Gegenstände nur durch die Bestimmung ihrer urteilsförmigen Struktur und ihres urteilsförmigen Gesamtzusammenhangs in dem einen Raum und der Zeit erkannt werden. Folglich muss jede Erkenntnis real existierender Gegenstände als Erfahrung genau eines kontinuierlichen und nach allgemeinen Gesetzen ablaufenden Naturgeschehens ausfallen.

Zweifelhaft scheint bisher aber noch, ob eine kategoriale Bestimmung der urteilsförmigen Struktur und des Gesamtzusammenhangs von Gegenständen in genau einer Natur hinreicht, diese Gegenstände objektiv, d. h. als eindeutig bestimmt zu erkennen, denn noch scheint es dem Belieben überlassen, welche Strukturen und welchen Gesamtzusammenhang man als kategorial korrekt auswählt.

Der Gesichtspunkt, unter dem Verknüpfungen sinnlich gegebener Vorstellungsinhalte als notwendig korrekt ausgezeichnet werden, ist, wie Kant in der Transzendentalen Deduktion erklärt, die Vereinigung dieser Inhalte in einem durchgängigen Bewusstsein insgesamt. Erst „die Einheit des Bewusstseins“ ist nach Kant „dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich dass sie Erkenntnisse werden, ausmacht“ (B, 137). Nur zum Zweck der Integration gegebener Empfindungen in ein durchgängiges Bewusstsein können bestimmte Verknüpfungen des Mannigfaltigen der Anschauungen a priori von Raum und Zeit als notwendig korrekt gebildet ausgezeichnet werden; und so „korrespondiert“ erst den insgesamt bewussten „Empfindungen“ das „Reale, … dessen Begriff … ein Sein enthält“ (B, 217). Der Begriff der Realität bedeutet nach Kant „nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein überhaupt“ (B, 217).

Ohne Rücksicht auf die uns erst im Verlauf unserer Erfahrung gegebenen Empfindungen können die uns a priori gegebenen Vorstellungen von Eigenschaften oder Teilen des Raumes oder der Zeit ganz willkürlich zu Vorstellungen von Gegenständen beliebiger räumlicher und zeitlicher Struktur und Ordnung verknüpft werden. So sind die Gegenstände der Geometrie, die nach Kant in der reinen Anschauung willkürlich konstruiert werden (B, 757), keine real existierenden Gegenstände, sondern als Erkenntnisse können diese Konstruktionen in den Anschauungsformen a priori nur insofern gelten, „als diese, mithin auch die Verstandesbegriffe vermittelst ihrer auf empirische Anschauungen angewandt werden können“ (B, 147).

Allerdings gehören unsere Vorstellungen „in der empirischen Anschauung“ nicht schon als solche „notwendig zueinander“ und geben nicht schon mit der zeitlichen Ordnung, in der sie uns bewusst werden, die besonderen Formen ihrer Verknüpfung vor, sondern notwendig korrekt sind diejenigen Verknüpfungen, deren Formen angesichts der zeitlichen Ordnung, in der uns unsere Vorstellungsinhalte bewusst werden, als allgemein gültige Ordnungsprinzipien gelten können. So wird etwa bei der Erkenntnis einer zeitlichen Abfolge von Ereignissen auch „in der Wahrnehmung eine Regel des Verhältnisses angetroffen, die da sagt, dass auf eine gewisse Erscheinung eine andere (obgleich nicht umgekehrt) beständig folgt“; ist dies der Fall, so hat man sich der Form „des hypothetischen Urteils zu bedienen und z. B. zu sagen: wenn ein Körper lange genug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm“; dieser Satz drückt zunächst „bloß eine subjektive Verknüpfung der Wahrnehmungen“ aus und ist noch nicht unter Verwendung der Kategorie der Ursache gebildet; wenn dieser Satz aber ein „Erfahrungssatz sein soll, so muss er als notwendig und allgemeingültig angesehen werden“ und in der Form gebildet werden: die „Sonne ist durch ihr Licht die Ursache der Wärme“ von Körpern; erst mit diesem Urteil liegt eine „Erkenntnis von Erscheinungen und ihrer Zeitfolge“ vor (vgl. Prol., 29, 312).

Erkenntnissen gleichzeitig existierender Gegenstände hingegen liegt keine regelmäßige Aufeinanderfolge von Wahrnehmungen bestimmten Inhalts zugrunde, sondern sie sind immer dann berechtigt, wenn bestimmte qualitativ identische Wahrnehmungen in wechselnder Aufeinanderfolge gegeben sind und sie daher keine bestimmte zeitliche Ordnung indizieren. Bei der „Apprehension des Mannigfaltigen in der Erscheinung eines Hauses“ (B, 235) etwa kann „meine Wahrnehmung … von der Spitze desselben anfangen und beim Boden endigen, aber auch von unten anfangen und oben endigen, imgleichen“ kann ich auch von „rechts oder links das Mannigfaltige der empirischen Anschauung apprehendieren“ (B, 237 f.), d. h. meine Wahrnehmungen können „wechselseitig“ aufeinander folgen (vgl. B, 256 f.). Folglich kann das kategoriale Prinzip der notwendigen Korrektheit der Verknüpfung dieses Mannigfaltigen keine zeitliche Reihenfolge der Aufnahme dieser Wahrnehmungen in das Bewusstsein als notwendig festlegen, und ich kann von dem „Mannigfaltige[n] dieses Hauses selbst“ nicht sagen, dass es „sukzessiv sei“ (B, 235), sondern ich muss von den Teilen dieses Hauses behaupten, dass sie „zugleich“ existieren (vgl. 13, 256 f.).

Eine Erkenntnis real existierender Gegenstände ist nach Kant also nicht nur ausschließlich als Erfahrung eines kategorial strukturierten Naturgeschehens möglich, sondern die kategoriale Ordnung der Gesamtheit unserer Wahrnehmungen, d. h. das Konzept der Natur bildet sogar das Kriterium der Wahrheit von Aussagen mit gegebenem Wahrnehmungsgehalt: Die Anschauungsformen von „Raum und Zeit“ sollen „in Verbindung mit den reinen Verstandesbegriffen … a priori aller möglichen Erfahrung ihr Gesetz vorschreiben, welches zugleich das sichere Kriterium abgibt, in ihr“, d.h. im Verlauf sinnlicher Erfahrung, „Wahrheit von Schein zu unterscheiden“ (Prol. Anh., 375). Erst das Gegebensein von Empfindungen macht das allgemeine Kriterium der Wahrheit für die Entscheidung im Einzelfall hinreichend.

Aus den Kategorien ergeben sich in Verbindung mit den Anschauungsformen die von Kant im Anschluss an die transzendentale Deduktion aufgestellten transzendentalen Grundsätze (vgl. B, 187); und diese Grundsätze machen ebenso wie die Urteilsformen und die Kategorien ein „System“ aus (vgl. B, 187) und bilden so „zugleich allgemeine Gesetze der Natur, welche a priori erkannt werden können“ (Prol., 23, 306). Alle „besondere[n] Gesetze“ können von diesen Grundsätzen aber „nicht vollständig abgeleitet werden“ (B, 165), sondern ihre Gültigkeit hängt von der zeitlichen Ordnung ab, in der uns unsere Empfindungen gegeben werden, und ein Wechsel in den Regularitäten unserer Wahrnehmungen macht die Revision bisher anerkannter besonderer Naturgesetze erforderlich.

In einer unserer Erfahrung nach von uns zusehends entdeckten und sich sogar entfaltenden Natur suchen wir also zum Zwecke der Orientierung und sogar der Bildung eines Bewusstseins unserer selbst nach – im Ideal – deterministischen Prinzipien des Geschehens. Alle deterministischen Naturgesetze bleiben aber angesichts der unendlichen Möglichkeiten neuer Erfahrungen Hypothesen von mehr oder weniger zweifelhaftem prognostischem Wert. Und höchst zweifelhaft muss der Wert von Naturgesetzen bleiben, die den Menschen selbst in seiner Fähigkeit betreffen, kreativ Naturgesetze aufzustellen, um seine Wahrnehmungen untereinander und durch kommunikative Abgleichung mit denen anderer zu einer Gesamtheit von Naturerfahrungen zu verbinden. Das Naturgeschehen ist – soweit wir wissen – nicht an sich, sondern für uns und unseren Erkenntnisleistungen nach mehr oder weniger determiniert.

In unserem erkenntnisbasierten kreativen Handeln gestalten wir die natürliche Welt, deren Gesetze wir immer wieder neu suchen müssen, mit. Insbesondere in Bezug auf menschliche Handlungen lassen sich natürliche Erklärungen oft erst im Nachhinein finden. Immer neue Überzeugungen, für deren Gewinnung uns zunächst nur Gründe zugänglich sind, müssen von uns als psychische oder auch neurophysiologische Zustände in das Netz des Naturgeschehens integriert werden.

Teil III: Praktische Freiheit – Kant, Bieri und das Grundgesetz

Intention

Trotz der Verschiedenheit ihrer Ansätze1 sind Immanuel Kant und Peter Bieri übereinstimmend der Ansicht, dass wir unsere Absichten insofern frei wählen, als wir uns dabei an Gründen orientieren. Bieri beruft sich hierfür auf die Unverzichtbarkeit unseres Selbstverständnisses als handelnde Personen. Kant versucht darüber hinaus die Berechtigung dieses Selbstverständnisses in seiner Moralphilosophie nachzuweisen, nämlich mit unserer Fähigkeit, uns rein rational zu motivieren. Beide Autoren trennen unser Selbstverständnis strikt von der prinzipiell deterministischen Beschreibung des Menschen aus naturwissenschaftlicher Perspektive, versuchen aber zu zeigen, dass diese beiden Auffassungen sich nicht widersprechen. Bieri erklärt, dass wir meinen, frei zu handeln, wenn unsere bewussten Absichten mit zu den Ursachen unseres Verhaltens gehören. Kant versucht zu zeigen, dass unsere Absichten nicht vollständig empirisch erklärt werden können, weil Überlegungen in sie eingehen, die nicht durch sinnliche Bedürfnisse oder Ereignisse motiviert sind.

Im Anschluss an die Darstellung der Argumentation der Autoren soll die Kritik Bieris an einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtung unseres Handels unter Berufung auf Kant verschärft werden: Es ist nicht nur aktuell und womöglich vorübergehend unmöglich, bei der Beschreibung unseres Handelns Überlegungen und Absichten durch neurophysiologische Beschreibungen zu ersetzen, sondern dies ist grundsätzlich ausgeschlossen, weil Gründe keineswegs nur die subjektive Innensicht individueller Gehirnzustände, sondern kommunikativ und historisch konstituiert sind. In Wirklichkeit beruht unsere Willensfreiheit auf sozial etablierten Normen. Abschießend soll gezeigt werden, dass das dargelegte Freiheitsverständnis in unserem Leben tatsächlich eine Rolle spielt. Dies wird durch Bezugnahme auf die Grundrechte des GG geschehen.

  1. Die Frage nach der Willensfreiheit

Die Frage nach der Möglichkeit der Willensfreiheit hat zwei Wurzeln, nämlich zum einen die Annahme eines durchgängigen Zusammenhangs alles Weltgeschehens nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung und zum anderen die christliche Auffassung, der Mensch könne sündigen, indem er sich für das Böse statt für das Gute entscheidet. Schon der Vorsokratiker Heraklit hat Prinzip des Determinismus um 500 v. Chr. mit „Alles geschieht nach dem Verhängnis“ dunkel formuliert, und um 400 v.Chr. nimmt es Demokrit in seine Theorie auf, dass unser Kosmos durch die zufällige Zusammenklumpung frei schwebender Atome entstanden ist, die jetzt ehernen Gesetzen folgen. Seine „Atomistik bietet die erste Formulierung eines durchgängigen mechanistischen bzw. kausalen Weltbildes, das ganz auf dem Gesetz von Ursache und Wirkung aufbaut“. (Helferich 1998, S. 12) Dieses Atommodell hat wiederum ca. 100 Jahre später Epikur aufgenommen, aber dahingehend modifiziert, dass Abweichungen einiger Atome von ihren gewohnten Bahnen häufiger vorkommen, um so die willkürlichen Eingriffe von Mensch und Tier in das Naturgeschehen zu erklären. Sein prominentester Anhänger, der Römer Lukrez gibt um etwa 50 v.Chr. diese Lehre so wieder:

Schließlich, wenn immer wieder jede Bewegung verknüpft ist und aus der alten Bewegung immer wieder die neue in bestimmter Ordnung entsteht und die Urkörper nicht durch Abbiegen vom Wege einen Anfang der Bewegung machen, der die Gesetze des Fatums bräche, dass nicht Ursache auf Ursache folge seit unendlicher Zeit, woher kommt dann den lebenden Wesen über die ganze Welt hin, woher kommt, frage ich, dieser freie, vom Fatum losgerissene Wille […]?“ (Lukrez 1972, II, Z. 250-255).

Im Altgriechischen gab es allerdings noch kein Wort für den Willen als motivierende Kraft hinter allen möglichen Absichten. (vgl. Frede 2007, 25) Für Platon besitzen alle drei Seelenteile, die Begierde, der Mut und die Vernunft, eine eigene motivationale Kraft. Die Vernunft ist kein reines Erkenntnisvermögen, sondern zu ihr gehört der rationale Wunsch; und Aufgabe der Vernunft ist es, das Begehren der niederen Seelenteile so zu mäßigen und zu steuern, dass sie harmonische Erfüllung in einem guten Leben finden. (vgl. ebd. 33) Diesen Endzweck des Lebens kann der Mensch zwar verfehlen, aber nicht abändern. Frei kann der Mensch nur in dem Sinne sein, dass er bei der Suche nach dem guten Leben keinerlei Zwängen oder Beschränkungen unterworfen ist. (ebd. 27)

Das sieht Aristoteles ganz ähnlich. Die Klugheit (phronesis) unterscheidet sich vom rein instrumentellen Scharfsinn dadurch, dass sie auf das gelungene Leben ausgerichtet ist. (Höffe 1996, 202) Über dieses Endziel kann der Mensch nicht disponieren, sondern nur durch die kluge Bestimmung seiner Präferenzen (prohairesis) die Mittel zu seiner Realisierung optimieren. (Höffe 1996, 209) Bei der prohairesis handelt es sich um eine pragmatische, nämlich dem Glück dienende Rationalität. (ebd. 200) Demjenigen, der sich von guten Vorsätzen abbringen lässt, fehlt es immer auch an Wissen, sei es, dass der Vorsatz ihm nicht deutlich vor Augen steht, dass ihm die Relevanz einer Klugheitsregel nicht klar ist oder dass er aus ihr falsche Schlüsse zieht. (vgl. Höffe 1996, 204ff.) Die Freiwilligkeit bezeichnet nur eine Vorbedingung des Handels, nämlich dass es einer Person zugeschrieben werden kann. (ebd. 209) Weder Platon noch Aristoteles vertreten ein deterministisches Konzept des Naturgeschehens, nach dem sich jedes Ereignis rein physikalisch aus vorhergehenden ergibt. Eine der vier Ursachenarten, die Aristoteles unterscheidet, ist das Worumwillen, d.h. der Zweck, dem eine Sache dient, z.B. das Kind als Zweck der Zeugung oder die Gesundheit als Zweck des Spazierengehens. (vgl. ebd. 113)

Die seit dem Mittelalter vorherrschende Auffassung des Willens als einer den Einzelabsichten übergeordneten motivierenden Kraft, dank derer man sich auch wider besseres Wissen für das Schlechte oder Böse entscheiden kann, wird erst in der Spätantike bei der Bibelauslegung von Bischof Aurelius Augustinus formuliert: „der Mensch müsse notwendig einen freien Willen besitzen, um sich eigenständig für das Gute oder das Böse, für falsches oder richtiges Handeln entscheiden zu können“ (Kahnert 2007, 88). Das gilt insbesondere unter der Voraussetzung der Allmacht Gottes, denn sie verbietet eine eigenständige Existenz des Bösen, sodass dieses nur in dem Mangel an Gutem bzw. in der Abwendung vom Guten bestehen kann. (ebd.) Augustin hat diese Auffassung später abgeändert, da sie kaum mit der Unabhängigkeit der Gnade Gottes von menschlichen Verdiensten vereinbar ist (vgl. ebd. 89), aber sie hat das Verständnis im christlichen Abendland nachhaltig beeinflusst (vgl. ebd. 87). Frei von theologischen Vorannahmen und bezogen auf die Hypothese eines durchgängigen Naturdeterminismus wird die Willensfreiheit erst zu Beginn der Neuzeit wieder erörtert.

Der Siegeszug der Mechanik infolge des epochemachenden Werkes ´Philosophia Naturalis Principia Mathematica´ von Isaac Newton aus dem Jahr 1687 nährte die Vermutung, auch der Mensch könne nichts als ein mechanischer Apparat sein. Leidenschaftlich und absichtlich provokativ bejaht wurde dies vom dem französischen Arzt und Gelehrten Julien de La Mettrie, der von Friedrich II zu seinem Leibarzt erkoren und an die Tafelrunde nach Potsdam eingeladen wurde, also in Preußen bekannt war. In seinem Werk ´L´Homme-Machine´ von 1748 argumentiert er mit Beispielen dafür, dass alle Empfindungen und Gedanken letztlich nur Reaktionen auf Außenreize sind.

Dies hatte bereits John Locke in seinem ´Essay Concerning Human Understanding´ von 1689 behauptet. Seines Erachtens wird uns „das gesamte Material des Denkens“ durch die „Beobachtung“ geliefert, und diese ist zunächst „auf äußere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet“ und erst dann auch „auf innere Operationen des Geistes“ im Umgang mit den äußeren Wahrnehmungen (vgl. Locke 1689, 108). Locke lässt die Selbstwahrnehmung aber durchaus als Erfahrungsquelle zu, und sie ist für unser Selbstverständnis als Handelnde von Bedeutung. So erhalten wir seiner Auffassung nach die „Idee des Beginnens einer Bewegung […] nur durch eine Reflexion auf das, was in uns selbst vorgeht, wo wir durch die Erfahrung finden, dass wir allein durch einen Willen, allein durch einen Gedanken des Geistes, die Glieder unseres Körpers, die sich vorher in Ruhe befanden, bewegen können“ (Locke 1689, 280). Nach Locke machen wir also die Erfahrung, dass Bewusstseinsakte Wirkungen in der physikalischen Welt haben. Die Annahme einer Willensfreiheit hält er aber für geradezu unsinnig. Wer von einem Willen spreche, vergegenständliche nur das mit jeder Absicht gegebene Streben sie umzusetzen. Die Frage, „ob der Wille des Menschen frei sei oder nicht“, sei „vollkommen falsch gestellt“, denn „die Freiheit lässt sich ebenso wenig auf den Willen anwenden wie die Geschwindigkeit einer Bewegung auf den Schlaf oder die Figur eines Vierecks auf die Tugend“; „jeder, der die Sache recht betrachtet“, müsse vielmehr „einsehen, dass die Freiheit […] lediglich handelnden Wesen zukommt“ (Locke 1689, 286f.). Und wenn man frage, „ob der Mensch die Freiheit habe zu wollen“, so müsse man feststellen, dass er „hinsichtlich des Willensaktes […] nicht frei“ genannt werden könne, denn „der Akt der Willensäußerung“ sei „für uns unvermeidlich“. (ebd. 293f.) „Der Geist“ habe in der Regel „nicht die Kraft, das Wollen zu unterlassen“, da er „nicht umhin“ könne, „irgendeine Entscheidung zu treffen“. (ebd. 295) Nach Locke sind wir psychologisch determiniert. (vgl. Kulenkampff 2007, 175) Wir streben stets nach Mehrung unserer Glückseligkeit, und im Einzelfall wird unser Wollen zumeist durch das Unbehagen bestimmt, das wir angesichts eines Mangels empfinden. (Locke 1689, 300) Nicht in unseren Zielsetzungen, sondern nur darin, sie planerisch oder technisch umzusetzen, können wir frei sein: Soweit die Bewegungen des Körpers und die Gedanken unseres Geistes „so beschaffen sind, dass wir sie je nach der Entscheidung […] annehmen oder abweisen können, soweit sind wir frei.“ (ebd. 285) Was man nach Locke unzutreffend den freien Willen nennt, ist s.E. lediglich die Fähigkeit, bei der Befriedigung unserer Wünsche „innezuhalten […], ihre Objekte zu betrachten, sie von allen Seiten zu prüfen und gegen andere abzuwägen“ (ebd. 315f.).

David Hume hat dieselbe Ansicht prägnanter formuliert: „Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein.“ (Hume 1748, 153) Sie „leitet“ den affektiven Impuls nur. (ebd. 152) Für die Vereinbarkeit unserer Handlungsfreiheit damit, dass alles Geschehen als verursacht erfahren wird, bietet Hume eine einleuchtende Erklärung an: Da wir „von jeglicher Verursachung nichts weiter … als lediglich die durchgängige Verbindung“ der Ereignisse kennen (vgl. ebd. 121), könnten auch affektive Zustände Ursachen sein. Und wenn unsere eigenen Affekte und die durch diese motivierten Überlegungen die ausschlaggebenden Ursachen unserer Handlungen sind, dann erleben wir diese Handlungen nach Hume als zwanglos und in diesem Sinne als frei. Wer meine, dass seine willentlichen Handlungen gar nicht verursacht seien, verwechsle Verursachung mit Zwang. (vgl. ebd. 125) Unser Handeln könne durchaus durch unser Begehren und Erwägen zwanglos verursacht und in diesem Sinne frei sein.

Immanuel Kant hat sich entschieden gegen La Mettrie und gegen die These Lockes und Humes gewendet, die Vernunft sei nur Dienerin der sinnlichen Motive. Die Perspektive Lockes hat Kant in dem Punkt weiter verfolgt, dass Vorstellungen Wirkungen in der Außenwelt haben können. Er übt aber Kritik an der Auffassung Lockes und Humes, dass unsere affektiven sinnlichen Empfindungen und Strebungen der alleinige Motor unseres Erkennens und Handelns sind. Hierbei setzt er an der empiristischen Erkenntnistheorie Lockes, d.h. seiner These an, „das gesamte Material des Denkens“ werde uns durch die „Beobachtung“ geliefert (vgl. Locke 1689, 108). Gleich im ersten Satz der Einleitung der ´Kritik der reinen Vernunft´ von 1787 (also in der zweiten Auflage, aber ganz ähnlich schon in der ersten Auflage von 1781) wendet Kant ein: „Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren“; dies bedeute aber nicht, dass unsere Erkenntnisse restlos aus der äußeren Wahrnehmung stammen; denn schon unsere Erfahrung äußerer Gegenstände ist seines Erachtens „ein Zusammengesetztes aus dem […], was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt“ (B 1).

  1. Kants Konstruktivismus

Da Kant zufolge alle Erfahrung mitbestimmt wird von unseren Veranlagungen zur Aufnahme und Verarbeitung von Außenreizen, erfahren wir die Dinge nicht, wie sie an sich beschaffen sein mögen, sondern in Gestalten und einer Ordnung, in denen sie für uns fasslich sind. Und diese Auffassung der Dinge als Erscheinungen ist der Weg, auf dem Kant unser Selbstverständnis als freie Akteure mit der kausalen Determination des Naturgeschehens zu vereinbaren versucht. Wir erschaffen die Dinge zwar nicht, sondern unsere Sinne verhalten sich beim Wahrnehmen offenbar rezeptiv, also passiv, aber bei näherer Analyse zeigt sich, dass es an einer Veranlagung unsererseits liegen muss, wenn wir Gegenstände grundsätzlich räumlich und Veränderungen als zeitliche Prozesse wahrnehmen. In der ´Transzendentalen Ästhetik´, also der Wahrnehmungstheorie der ´Kritik der reinen Vernunft´ liefert Kant hierfür jeweils drei Argumente (vgl. B 38ff., 46ff.):

1. Man könnte zwar meinen, das Konzept der Räumlichkeit werde im Verlauf der Erfahrung auf dem Wege der Abstraktion gebildet wie etwa der Begriff der Masse: Wir beobachten, dass jeder Gegenstand – in Erdnähe – die Kraft hat, andere zu verdrängen, und fassen diese Kräfte unter dem Begriff der Masse zusammen. Auf diesem Wege der Abstraktion können die Konzepte von Räumlichkeit und Zeitlichkeit nach Kant aber nicht gebildet werden, da man jeden beliebigen einzelnen Gegenstand oder Prozess und alle seine Teile schon als räumlich strukturiert bzw. mit einer gewissen Dauer wahrnimmt.

2. Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind keine Eigenschaften, die nur zufällig an den bisher wahrgenommenen Gegenständen oder Zuständen vorgelegen haben, sondern jede Wahrnehmung, die wir uns denken können, ist eine von körperlichen Dingen oder zeitlichen Ereignissen. Im Rahmen dessen, was wir für möglich halten, sind Räumlichkeit und Zeitlichkeit also absolut allgemeingültig; und diese universelle Gültigkeit lässt sich nur damit erklären, dass diese Strukturen der Erscheinungen auf Veranlagungen unsererseits beruhen. Und schließlich

3. versteht sich von allen Fällen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, dass sie nur Teile eines einzigen Raumes und einer einzigen Zeit darstellen. Das ist bei anderen Eigenschaftszuschreibungen nicht so. Fälle von Farbigkeit etwa lassen sich zwar nach Arten gruppieren, haben aber keinerlei Beziehung zueinander.

Ihre Allgemeingültigkeit besitzen Räumlichkeit und Zeitlichkeit also nicht dadurch, dass wir sie als Merkmale begrifflich universell anwenden, sondern schon der Art nach, wie wir sie sinnlich erleben. Sie sind Anschauungen a priori.2 Wie es wäre, eine Fledermaus oder eine Zecke zu sein, die offenbar über uns unbekannte Sinneswahrnehmungen verfügen, können wir uns nur annähernd nach Maßgabe der für uns unverzichtbaren Wahrnehmungsdispositionen vorstellen.

Damit ist nach Kant aber nur das eine Standbein unserer Erfahrung beschrieben. Durch die Anschauung allein haben die Dinge noch keine bestimmte Struktur oder Konstellation in Raum und Zeit. Die Anschauungsformen werden uns – wie gesagt – erst bewusst, wenn Empfindungen unser Sensorium zum Leben erwecken. Und bestimmte Gegenstände oder Zustände nehmen wir erst wahr, wenn wir diese Empfindungen miteinander in den Anschauungsformen verknüpfen. Das geschieht, indem wir Empfindungsqualitäten oder Aspekte von Raum und Zeit irgendwelchen Dingen als Eigenschaft zusprechen, z.B. ´Etwas Würfliges ist hart´. Die Subjekt-Prädikat-Form elementarer (sog. kategorischer) Urteile bringt das Gegenstandskonzept mit sich. Und je nachdem, ob wir anhand einzelner Empfindungen oder auf Grundlage mehrerer vorheriger Zuschreibungen urteilen, kennzeichnen wir Einzeldinge, Arten oder Gattungen. Einzeldinge fallen ihren Eigenschaften entsprechend unter Arten; und eine Art ist einer Gattung untergeordnet, wenn die Zugehörigkeit zu ihr immer hinreichende Bedingung dafür ist, dass der beurteilte Gegenstand der fraglichen Gattung angehört. Geschaffen wird diese Ordnung nach Kant durch die Verknüpfung von elementaren Urteilen in (sog. hypothetischen und disjunktiven) Urteilen zweiter Stufe. (vgl. Scheffer 1993, 12ff.) So werden Eigenschaften zu Unterscheidungskriterien von Einzeldingen nach Arten und Gattungen, wie z.B. in der botanischen Taxonomie von Carl von Linne´ aus dem Jahr 1753.

Dasselbe Verfahren hat jetzt eine zweite und dritte Anwendungsform. Nach Kant verwenden wir es auch, um das Auftreten von Gegenständen oder Eigenschaften in der Zeit zu verorten. (vgl. B 219) Wenn das Auftreten eines Ereignisses, z.B. des Feuers im Ofen, in aller Regel hinreichende Bedingung des Auftretens eines anderen, hier der Wärme, ist, so ist das erstere Ereignis Ursache des zweiteren. Wir legen Verknüpfungen in der Anschauungsform der Zeit (zumindest vorläufig) für alle möglichen Fälle des Auftretens der fraglichen Ereignisse fest, und das tun wir in Urteilen zweiter Stufe. Die bekannten kantischen Kategorien sind die Begriffe, mit denen wir Urteile erster Stufe als korrekt gebildet einstufen und so aus bloßen Wahrnehmungsurteilen (´Feuer zieht jetzt Wärme nach sich´) Erkenntnisurteile machen (´Feuer bewirkt Wärme´). Jede Erfahrung von etwas, das geschieht, folgt einer „Regel“, die „die Ordnung der einander folgenden Wahrnehmungen […] notwendig“ macht. (B 238). Bei statischen Zuständen ist die Reihenfolge der Feststellung ihres Auftretens beliebig. Erdgeschoss und Giebel des Hauses bestehen gleichzeitig, da man Ersteres, anders als bei Prozessen, jederzeit auch nach Letzterem wahrnehmen kann. (vgl. B 237f.)

Um die Gegenstände der Erfahrung identifizieren und zeitlich lokalisieren zu können, müssen wir sie also in der Anschauungsform der Zeit verknüpfen, und dies geschieht nach dem Grundsatz „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“ (B 232). Das Prinzip des Determinismus ist vielleicht nicht sofort in jedem Einzelfall realisierbar, es spannt aber den ideellen Rahmen auf, innerhalb dessen wir uns empirisch orientieren. Die von uns aufzustellenden Gesetzeshypothesen müssen der Art und Reihenfolge unserer Wahrnehmungen gerecht werden. Sie werden als universelle Prinzipien zwar spontan gebildet, erfassen aber – zunehmend differenzierter – Einwirkungen von Ereignissen auf andere, von denen wir wahrnehmend betroffen sind. Rückblickend können wir unsere Wahrnehmungen als Ereignisse auf die Einwirkung von Erfahrungsgegenständen zurückführen. Ob und wie die Dinge außerhalb unserer Erfahrung determiniert sind, wissen wir allerdings nicht. Unseres Erachtens rollt das Rad der Natur nicht nach ewigen Gesetzen auf immer gleiche Weise über uns oder mit uns als bloßen Werkzeugen hin. Wir leben nicht im Kosmos des allwissenden und unbeteiligten laplaceschen Dämons, sondern wir stellen immer wieder Neues über die für uns wahrnehmbaren Gegenstände, ihr Verhalten und ihre Ordnung fest.

Die Definition der Wahrheit als Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand kann nicht unmittelbar umgesetzt werden, da wir die Gegenstände nur in immer neuen Urteilen erfassen können. Kant versucht diese Definition anhand eines komplexen Kriteriums der Wahrheit zu erfüllen, nämlich der Kohärenz unserer Wahrnehmungsurteile. (vgl. B 236) Der Gesichtspunkt, unter dem wir die Reihenfolge unserer Wahrnehmungen als notwendig sukzessiv oder umkehrbar einstufen, ist die Bildung eines durchgängigen Bewusstseins der Erscheinungen nach allgemeinen Regeln. (vgl. B 246f.) Die Überzeugung, ein Urteil angesichts seines Wahrnehmungsgehalts im Kontext unserer Erfahrung in genau seiner Form bilden zu müssen, ist mit der Überzeugung von der Existenz seines Gegenstandes identisch. (vgl. Scheffer 1993, 211ff.) Und der Einheit des Bewusstseins meiner Erfahrungen korrespondiert in der von mir konzipierten Realität die Einheit der Erfahrungsgegenstände in der – einen – Natur.

Bei unseren Erkundungen der Natur verhalten wir uns – verglichen mit unserem Forschungsgegenstand – ziemlich unberechenbar. Die Anwendung des Grundsatzes der Kausalität bei der Orientierung in der Welt macht es nämlich erforderlich, Vermutungen über die universell-allgemeine Abfolge der Wahrnehmungen anzustellen. Diese können sich als unzutreffend erweisen, und Hypothesen können umstritten sein. Unsere Vernunft als Vermögen der Prinzipienbildung fungiert nicht rezeptiv, sondern spontan: „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden […]. Allein die Verbindung […] eines Mannigfaltigen überhaupt […] ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft“. (B 129f.)3

Die Spontaneität unserer Erkenntnisleistungen entzieht unsere Handlungen aber nicht dem Naturdeterminismus. Unser Interesse, unsere „Einsichten zu befördern“, setzt nach Kant stets „Absichten ihres Gebrauchs voraus“ (GMS 460, Anm.). Beim Gebrauch unserer Naturerkenntnisse verwenden wir die entdeckten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bei Mittel-Zweck-Planungen. Bei der rationalen Planung bilden wir – wie Kant sagt – Maximen, die zwar zweckbezogen formuliert sind, aber Kausalgesetze implizieren, z.B. ´Um nicht zu frieren, will ich heizen´. Mein Wunsch nach Wohlbefinden erklärt meinen Vorsatz und mein entsprechendes Verhalten auf ganz natürliche Weise. Da wir bei jeder Absichtsbildung einen bestimmten Zustand als Zweck und eine bestimmte Handlung als Mittel im Sinn haben, wird „deren Wirkung in der Erscheinung jederzeit beständigen Gesetzen gemäß sein“ (Prol. 345).

Es mag allerdings sein, dass der Handelnde in seinem Verfahren methodisch kreativ ist. Das Verhalten erkenntnisfähiger Wesen lässt sich oft erst im Nachhinein erklären. Die Motive anderer können wir nur mittelbar anhand ihres Verhaltens vermuten. Auch in Bezug auf unsere eigenen können wir uns irren, wenn wir uns z.B. nur aus Eitelkeit moralisch verhalten. Unsere Selbstwahrnehmung ist fehlbar. (vgl. GMS 451) Aber auch wenn wir unsere Psyche erforschen, tun wir dies nach Kant unter Anwendung des Grundsatzes der Kausalität.

Wollten wir also Handlungen entdecken, die wir außerhalb des Naturdeterminismus vollständig spontan aus uns heraus vollziehen, so müssten wir Motive und Zwecke finden, die keine psychischen Zustände bzw. Ereignisse sind, und das ist empirisch unmöglich. Willensfreiheit als Indeterminiertheit kann also keine natürliche Tatsache sein. Denkbar ist eine spontane Verursachung aber immerhin. Das Verfahren der Kausalerklärung drängt uns geradezu den Wunsch auf, eine selbstverursachende Ursache zu finden, denn eine perfekte hinreichende Bedingung für ein Ereignis wäre eine solche, bei der das Verfahren zum Abschluss kommt.

Die Vernunft fordert dies nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war.“ (B 436)

In der potentiell unendlichen Zeit und im Rahmen unserer stets – auch in Bezug auf die Vergangenheit – erweiterbaren Erfahrung ist dieser Wunsch freilich unerfüllbar. (vgl. B 511f.) Der Bereich des Denkbaren ist weiter als der des real Möglichen. Es lässt sich aber immerhin denken, dass die „Kausalität nach Gesetzen der Natur […] nicht die einzige“ ist, sondern es auch „eine Kausalität durch Freiheit“ gibt. (vgl. B 472)

Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den notwendig bestimmenden Einfluss der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit samt deren natürlichen Folgen […] eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist. Denn diese Entschließung und Tat liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen und ist nicht eine bloße Fortsetzung derselben“. (B 478)

In Bezug auf unser Handeln lässt sich denken, dass es Bewusstseinsinhalte ohne jede sinnlichen Antriebe motivieren. Gründe, an denen wir uns bei der rationalen Planung unserer Handlungen orientieren, sind keine psychischen Zustände oder Ereignisse, sondern zeitlose Abstrakta mit einer normativen Geltung. Bei unserem zweckorientierten Handeln spielen diese Abstrakta nur eine instrumentelle Rolle. Wir stellen mathematische Berechnungen an oder ziehen Naturgesetze heran, um unsere Zwecke sicher zu realisieren. Aber motiviert werden diese Handlungen – ganz wie Hume behauptet – immer durch zugrunde liegende Wünsche oder Bedürfnisse. Gesucht ist also ein Grund, der nicht auf die Erfüllung bestimmter Zwecke abzielt, sondern allein durch seinen Sinn motiviert. Und dieser Grund müsste eine Folge haben, die kein natürliches Ereignis ist, aber an den Wirkungen freier Handlungen ablesbar ist.

  1. Kants Universalismus

Kant ist überzeugt, auf dem Gebiet der Moral einen solchen motivierenden Grund mit entsprechender nichtnatürlicher Folge gefunden zu haben, nämlich in der Forderung nach Verallgemeinerbarkeit unserer Handlungsweise. Manche unserer Absichten und sicher viele unserer weiter gesteckten Ziele können wir auf verschiedene Weise realisieren; und Kant meint, die Moral fordere von uns, dies so zu tun, dass wir uns und den anderen die Option auf die zukünftige Verfolgung ihrer Ziele nicht verbauen. Richten wir uns danach, sind unsere Handlungen gemeinverträglich. Jeder könnte immer wieder nach der von uns gewählten Methode verfahren. Diese Tatsache ist kein Ereignis, sondern ein funktionaler Status, der für einen strukturellen Sachverhalt von Bedeutung ist, nämlich für die Schaffung eines universellen gleichberechtigten und konfliktfreien Zusammenlebens aller handlungsfähigen Wesen. Unter dem Gesichtspunkt nur meiner ureigenen Interessen würde ich auf die Entfaltungsmöglichkeiten der ganzen übrigen Menschheit keine Rücksicht nehmen.

Den Nachweis dafür, dass das Kriterium der Moralität in der Universalisierbarkeit der Handlungsweise besteht, versucht Kant in der ´Grundlegung zur Metaphysik der Sitten´ von 1785 zu führen, und zwar durch Analyse des Werturteils ´Die Handlung x ist gut´ in moralischem Sinn. Gleich zu Beginn der eigentlichen Untersuchung stellt er fest, dass wir in moralischen Urteilen etwas „ohne Einschränkung für gut“ erklären, und stellt die These auf, dass diese Beurteilung sich nur auf den Willen des Handelnden beziehen kann (vgl. GMS 393). Als Alternative zu ´uneingeschränkt gut´ betrachtet er „in mancher Absicht gut und wünschenswert“ (ebd.). Kant will also nicht zwischen mehr oder weniger moralisch guten Handlungen oder Absichten differenzieren, sondern zwischen Dingen, die an sich selbst, ´intrinsisch´, und solchen, die in Bezug auf irgendwelche Zwecke, instrumentell gut sind. Als Beispiele für instrumentell gute Dinge nennt er so unverzichtbare Fähigkeiten wie Verstand und Urteilskraft, also die Fähigkeiten, sicher schließen und treffend urteilen zu können, und behauptet, von ihnen könne man auch „äußerst böse und schädlich“ Gebrauch machen. (vgl. ebd.) Nach Kant kann also nicht jede rationale Planung einer Handlung als gut gelten.

Was aber sollte am Wollen uneingeschränkt gut sein können? Was bleibt vom Wollen übrig, wenn man von jeder besonderen Art der Zwecksetzung und damit auch von jedem entsprechenden Motiv absieht? Kant meint, dies sei „die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen“ (GMS 402). Jede Maxime, jeder Grundsatz, nach dem jemand handelt (vgl. GMS 420, Anm.), enthält eine Mittel-Zweck-Kalkulation, eine Methode, nach der der Zweck realisiert werden soll. Legt man jetzt bei der moralischen Begutachtung der Maxime Wert auf diese Methode, so fordert man nach Kant, dass sie in einem emphatischen Sinne rational, nämlich universell vernünftig sein soll: „so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll“ (GMS 421). Moralisch gut handelt man also, wenn man bei all seinen Vorsätzen mit bedenkt, „nach derjenigen Maxime“ vorzugehen, „durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (ebd.).

Kant nennt dieses fundamentale moralische Gebot den ´kategorischen Imperativ´. ´Kategorisch´ heißen in Kants Logik Urteile, die uneingeschränkt und das heißt in der Logik bedingungslos behauptet werden. Der Bedingungslosigkeit seiner Geltung wegen nennt Kant auch den fundamentalen Imperativ so. Seine Verbindlichkeit ist unabhängig davon, was ich beabsichtige. Jeder soll in einer entsprechenden Situation nach meiner Methode handeln können. Definiert sind die Bedingungen dieses ´Könnens´ implizit in der Formulierung des kategorischen Imperativs selbst: Es ist das Handeln nach Maximen, das bei der gedachten allgemeinen Praxis der von mir erwogenen Maxime unbeschadet bleiben muss, also nicht z.B. das Wohlergehen, aber auch nicht die bloße körperliche Unversehrtheit.

In Bezug auf konkrete Situationen ergeben sich aus dem fundamentalen Grundsatz konkrete kategorische Gebote. So sind Diebstahl oder Veruntreuung kategorisch verboten, weil sich bei einer entsprechenden allgemeinen Praxis niemand mehr seines Eigentums, d.h. der für sein Handeln reservierten Mittel sicher sein könnte. Das rational planvolle Handeln wäre massiv eingeschränkt. Aber auch sich selbst gegenüber hat man Kants Ansicht nach kategorische Pflichten. Den planvollen Suizid hält Kant für streng verboten. Dass man ihn planen kann, beweist, dass man die zu bewahrende Fähigkeit noch besitzt. Am heftigsten umstritten ist das von Kant in der kurzen Abhandlung ´Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen´ von 1797 eigens behandelte Lügenverbot. Seine Begründung leuchtet ein: Als allgemeine Praxis würde das willkürliche Lügen die Kooperation unter Menschen zerstören. Aber gilt das auch für Notlügen? Kant geht nicht darauf ein, dass es vielerlei Alternativen zur Lüge gibt wie die Auskunftsverweigerung, die Rückfrage usw. Er definiert die Lüge aber als Täuschung, und dadurch scheinen sogenannte Notlügen in Extremsituationen, nämlich wenn mir die erwünschte Auskunft abgezwungen werden soll, erlaubt zu sein. Wer mich zu einer Aussage zwingen will, vertraut mir nicht und kann folglich von mir nicht getäuscht werden. Kategorisch verboten aber bleibt die willkürliche, z.B. die fürsorgliche Lüge, mit der man mir zwecklose Sorgen ersparen oder mir eine Überraschung bereiten will.

An den bisher betrachteten Beispielen kategorischer Pflichten fällt auf, dass sie negativ, als Unterlassungen formuliert sind. Aber natürlich müssen wir nach Kant aus moralischen Gründen auch tätig werden, und sogar gerade, wenn wir gar nicht beabsichtigt hatten, auf eine Situation zu reagieren. Auch Unterlassungen sind Handlungen, und ich kann auch dann einer Maxime folgen, wenn ich sie mir nicht vollbewusst zurecht gelegt habe. Unterlassene Hilfeleistung in einer offensichtlich lebensbedrohlichen Lage ist auch nach Kant selbstverständlich streng verboten. Anders verhält es sich bei der „Wohltätigkeit“ (GMS 398) im dem Sinne, dass man „zu des anderen Glückseligkeit“ etwas beiträgt (GMS 430). Sie zählt zu den „verdienstlichen“ Pflichten, denn die Menschheit würde durchaus „bestehen können, wenn niemand zu des anderen Glückseligkeit was beitrüge“. (ebd.) Doch wenn unser ganz allgemeines Erkenntnisinteresse, wie Kant meint, durch den Wunsch nach Erweiterung unserer Handlungsoptionen motiviert ist, dann müssen wir auch daran interessiert sein, dass die Menschen nicht Not leiden, sondern zum Wohl aller kooperieren können. Meine Maximen sollen durchaus auch dazu beitragen, dass die Zwecke aller Menschen in einem ideellen „Reich der Zwecke“ zusammen bestehen und gemeinschaftlich verfolgt werden können. (vgl. GMS 433)

Kant meint zwar, dass unser moralisches Pflichtbewusstsein und der Handelsgeist im Interesse an einem ewigen Frieden übereinkommen (vgl. ZeF 368), dies sei aber nur langfristig und auch nur dann, der Fall, wenn die Akteure, seien sie „ein Volk von Teufeln“, „Verstand haben“, sich also zweckrational verhalten (vgl. ZeF 366). Moralische Gebote lassen uns diese Zeit nicht. Unsere moralische Motivation ist also kein Folgeinteresse, wie wir es am Wohlergehen unserer Firma oder unserer Nation haben können, weil wir selbst davon profitieren, sondern es muss am Inhalt des Gedankens des verallgemeinerbaren Handelns liegen, dass er uns motiviert. Das heißt unsere Vernunft muss hier handlungswirksam, praktisch werden.4

  1. Kants Kompatibilismus

Kant meint, es sei „nicht in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Widerstreit“ zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit „heben, oder ihn unangerührt lassen will“, denn „wenn sogar der Gedanke von der Freiheit […] der Natur […] widerspricht, so müsste“ die Freiheit „gegen die Naturnotwendigkeit durchaus aufgegeben werden“, und der „Fatalist“ könnte die Verbindlichkeit moralischer Pflichten erfolgreich leugnen (GMS 456).5

Die spontane Motivation durch die reine praktische Vernunft ist nach Kant jederzeit mit dem Determinismus alles natürlichen Geschehens vereinbar, weil sie eben nur die Methode der Zweckverfolgung betrifft. Es wird sich immer ein sinnlich wahrnehmbares Motiv auch für die moralischen Handlungen finden. Und wenn wir einmal ganz uneigennützig handeln, so zeigt sich die moralische Motivation darin psychologisch nicht in der gedachten begrifflichen, sondern in emotionaler Form als Gefühl der Achtung vor der Pflicht (vgl. KpV 73). Für den Menschen gibt es also „zwei Standpunkte“, aus denen er „sich selbst betrachten […] kann“. (GMS 452, vgl. 450) Empirisch kann er feststellen, dass seine Handlungen nach Naturgesetzen durch vorhergehende Ereignisse determiniert sind, und als vernünftiges Wesen kann er sich an Gründen orientieren. (vgl. ebd.)

Bei der gedanklichen Betrachtung von Normen ist die „Vernunft selbst keine Erscheinung“, und es „findet in ihr selbst in Betreff ihrer Kausalität keine Zeitfolge statt“; daher ist jede rein vernünftig motivierte Handlung eine „unmittelbare Wirkung […] der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, […] und diese ihre Freiheit kann man […] positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“. (B 580ff.) Dass wir uns einen Grund zu eigen machen, von der Geltung eines Grundes überzeugt sind oder ihn im Handeln umsetzen, sind mentale Ereignisse, die für ihre Dauer neurophysiologischen Körperzuständen korrespondieren mögen. Aber wenn die Inhalte unseres Überlegens für dessen Ausgang eine Rolle spielen, kommt es auf die Art und Güte der Gründe selbst an; und diese sind keine Ereignisse, sondern Abstrakta, die ewige Geltung beanspruchen. Wenn sie in einer bestimmten Situation nicht gelten, sind sie hier irrelevant; und wenn sie gar nicht mehr gelten, waren sie immer schon ungültig, und wir haben uns in ihnen getäuscht. Schon die Orientierung an einem Grund ist folglich kein rein natürliches Phänomen: „Das Sollen drückt […] eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt […]; ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung“ (vgl. B 574f.).

Wissenschaftlich gesehen sind nach Kant „alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt; und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten“. (B 577f.) Tatsächlich ist es nach Maßgabe der Erkenntnistheorie Kants aber nicht möglich, alle Erscheinungen der menschlichen Willkür bis auf den Grund zu erforschen. Kant zufolge ist unsere Hypothesenbildung konstitutiv für unser Bild der Natur als Gesamtzusammenhang aller Ereignisse; und wir können nicht absehen, ob und welche Gesetzeshypothesen den Menschen zur Erklärung der Naturphänomene einfallen und welche Techniken sie auf dieser Grundlage entwickeln werden. Folglich können wir Handlungen niemals auf der Grundlage der vollständigen Kenntnis ihrer Voraussetzungen sicher prognostizieren.6 Nur rückblickend lassen sich für unsere Handlungen deterministische Gesetze finden; und dabei werden wir für neue Handlungen oft neue Kausalhypothesen aufstellen müssen.

Kants Beispiel für eine freie Handlung, sich, ohne dazu gezwungen zu sein, von seinem Stuhle zu erheben (s.o.), ist im Zusammenhang seiner Argumentation so zu verstehen, dass mit der Bildung der Absicht zu ihr „in dieser Begebenheit samt deren natürlichen Folgen […] eine neue Reihe“ anfängt (vgl. B 478). Denn die Maxime der Handlung ist dabei der Prüfung auf ihre Verallgemeinerbarkeit unterworfen, und nur zu dieser werden wir wahrhaft zwanglos durch reine praktische Vernunft motiviert. Kommt uns diese Motivation zu Bewusstsein, so erleben wir sie als bedingungslose Gültigkeit eines guten Grundes, nämlich des kategorischen Imperativs. Auf ein Sein, auf ein natürliches Interesse, ist dieses Sollen nicht zurückführbar, weil die Universalisierbarkeit ein unverhältnismäßig umsichtiges Mittel zur Befriedigung unserer Interessen nur innerhalb unseres Lebens wäre.

Nehmen wir an, Kant verfolgte mit der Demonstration, sich vom Stuhl zu erheben, die Absicht, die Behauptung seiner Willensfreiheit durch die Tat zu belegen, so könnte dieses Interesse als die Ursache seiner Handlung verstanden werden, angesichts derer sie „nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe“ (vgl. B 478) ist. Der hinzutretende Grund, aus dem Kant dieses Vorgehen tatsächlich wählt, nämlich dass es schadlos von jedermann angewandt werden könnte, tritt nicht selbstständig, sondern nur als Teilgehalt seiner Mittel-Zweck-Kalkulation in Erscheinung. Die Berücksichtigung dieses Grundes ist nicht durch den konkreten Zweck motiviert, sondern beruht auf einer grundsätzlichen Disposition zur Schaffung einer harmonischen Interaktion, die in dem konkreten Interesse nur den Anlass ihrer Entfaltung hat. Diese Disposition wird nur dann für empirische Erklärungen interessant, wenn sie unabhängig von konkreten Zwecken rein moralische Handlungen motiviert. Dann wird sichtbar, dass der Handelnde aus dem guten Grund der Verallgemeinerbarkeit die persönliche Haltung eines guten Willens entwickelt hat.

  1. Bieris ´Handwerk der Freiheit´

Wie wir uns, unsere Entscheidungen und Verantwortung in unserer naturwissenschaftlich gesehenen Welt angemessen verstehen können, ist die Frage, der Peter Bieri in seinem vielbeachteten Werk ´Das Handwerk der Freiheit´ aus dem Jahr 2001 nachgeht. Auf dem Wege der Analyse arbeitet er aus einer Vielzahl realistischer Fallbeschreibungen heraus, welches Verständnis wir von der Freiheit der Akteure haben und von welchen Intuitionen wir dabei geleitet werden. Hierbei stößt er auf Spannungen und Widersprüche insbesondere zwischen der Grundüberzeugung, dass das Naturgeschehen durchgehend determiniert ist, und dem verbreiteten Selbstverständnis des Handelnden als spontaner Urheber. Zwischen diesen Extremen versucht er in einem dialektischen Wechsel zu vermitteln, um zu einer kompatibilistischen Beschreibung zu gelangen, die Determinismus und Spontaneität vereinbar macht. Hierbei geht er absichtlich nicht näher auf Thesen oder Argumente aus der philosophischen Debatte ein, um den Leser nicht „über die Schlachtfelder der Fachliteratur“ zu schleifen, sondern in „einfacher […] Sprache […] einfach über Phänomene und Gedanken“ zu sprechen (Bieri 2001, 9). Nur zwei Positionen aus der philosophischen Tradition werden zur Illustration des diskutierten Gegensatzes zitiert, nämlich Aristoteles´ Bezeichnung des spontanen Akteurs als unbewegter Beweger (vgl. ebd. S. 199) und d´ Holbachs deterministisches Diktum, jeder Mensch könne nun einmal nur genau eine Lebensspur in der Welt hinterlassen (vgl. ebd. 308).

Neue Aktualität hat die Frage nach der Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Naturnotwendigkeit durch die enormen Fortschritte der Neurophysiologie in den letzten 50 Jahren bekommen. Sie scheinen die Perspektive zu eröffnen, dass es sich beim menschlichen Geist der Sache nach um eine Art von körperlichen, nämlich nervlichen Zuständen handelt, zu denen uns unser Bewusstsein mit unseren oft undeutlichen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen bisher nur einen unzuverlässigen, nämlich rein subjektiven und individuellen vorwissenschaftlichen Zugang geboten hat. Wie es sich bei Hitze der Sache nach um Molekülbewegungen handelt und Licht in elektromagnetischen Feldern besteht, die mit einer Frequenz von einer Million Hertz schwingen, so besteht unser Geist für naturwissenschaftlich eingestellte Philosophen in physischen Zuständen des Gehirns, nämlich in den „neuronalen Analoga für alle intrinsischen und kausalen Eigenschaften des Mentalen“ (Churchland 2001, 242f.). „Wie uns Dinge erscheinen“, hat – so argumentiert z.B. der in den USA lehrende Paul Churchland – „nur zu oft unsere eigene Unwissenheit oder fehlende Vorstellungskraft“ widergespiegelt (ebd.):

So konnte man das sichtbare Licht und seine unsichtbaren Verwandten (Wärmestrahlung, Radiowellen, Gamma- und Röntgenstrahlung) erfolgreich als elektromagnetische Wellen unterschiedlicher Wellenlänge identifizieren (beziehungsweise es darauf reduzieren). Wer würde es wagen zu behaupten, dass den mentalen Phänomenen kein ähnliches Schicksal bevorsteht, gerade jetzt, wo erste neurophysiologische Daten am Horizont auftauchen?“ (Churchland 2001, 243)

Was also können Entscheidungen und Absichten wissenschaftlich gesehen anders sein als neuronale Zustände, die von anderen physikalischen Zuständen oder Ereignissen verursacht sind?

Bieris kompatibilistische These ist: „Die Freiheit des Willens liegt darin, dass er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen“; der „triumphierende Ausruf […] ´Ich hätte auch etwas anderes wollen können´“ sei also mit dem „verschwiegenen Zusatz“ zu verstehen „´wenn ich anders geurteilt hätte´“; und folglich sei die Freiheit, derer sich die Handelnden durch ihre „inneren Worte versichern, […] die Macht […], dasjenige zu wollen, was sie für richtig halten“. (Bieri 2001, 80f.) Aufgrund der Bedingtheit durch Motive und Gedanken sei das freie Handeln durchaus Bestandteil der determinierten Natur; deswegen sei es aber eben nicht von überwältigenden Umständen oder unbeherrschbaren Veranlagungen erzwungen. Wir sitzen nicht „am Ufer des reißenden Lebensstroms“, dazu verurteilt „resigniert und ergeben“ zuzusehen, „was er anrichtet“, sondern wir „sind der Strom, und sein Fließen ist oftmals – wenngleich nicht immer – die Ausübung unserer Freiheit der Entscheidung“. (vgl. ebd. 312)

Wenn unsere freien Entscheidungen Teil der nach deterministischen Gesetzen sich entwickelnden Natur sind, so sind sie durch die Gesamtheit ihrer Vorbedingungen festgelegt. Das braucht den Handelnden nach Bieri aber nicht in Fatalismus versinken zu lassen, denn sein „zukünftiger Wille kommt nicht auf [ihn] zu wie eine Lawine“, unabhängig davon, was er in der Zwischenzeit denkt, tut und entscheidet, sondern er „führ[t] ihn herbei“, er „erarbeite[t] ihn“ sich „von freier Entscheidung zu freier Entscheidung“. (vgl. Bieri 2001, 316) Solange man eine Überlegung zu einer Entscheidung anstellt, könne man „gar nicht anders, als an einen Spielraum echter“ alternativer „Möglichkeiten zu glauben“, denn sonst könnte man „den Begriff des Überlegens gar nicht“ auf sich „anwenden“ (ebd. 185).

Aber nach Bieri genügt es, daran zu glauben, dass es einen Spielraum von Alternativen gibt; es „muss nicht wahr sein“ (Bieri 2001, 288). Einen wirklichen Widerspruch zwischen der Entscheidung und ihrer Determination gibt es nach Bieri nicht, da diese beiden Auffassungen eine „unterschiedliche Reichweite“ besitzen: „Das eine Mal ist die Rede von den Möglichkeiten meines Wollens und Tuns, wie sie sich darstellen, bevor das Nachdenken über sie seine endgültige Wirkung auf den Willen entfaltet hat, das andere Mal sprechen wir von der Situation, wie sie bestehen wird, nachdem die Entscheidung gefallen ist.“ (ebd. 289f.) Und diese endgültige Entscheidung ist nach Bieri kaum vorhersehbar, weil jede neue Reflexion auf die Vorbedingungen als neue Vorbedingung in die Entscheidung miteinfließen wird. (vgl. ebd. 317) Da unsere freien Entscheidungen wesentlich durch unsere Überlegungen über unsere Präferenzen und verfügbaren Mittel bestimmt werden, lässt die „Einsicht, dass alles kommt, wie es kommt, […] die Freiheit selbst unangetastet“; und die Tatsache, dass „die Linie, die wir auf der Oberfläche der Erde ziehen, nur eine einzige Linie sein kann, […] nimmt uns kein Jota von unserer Freiheit weg“. (vgl. ebd. 318f.)

Damit ist Bieri am Ziel seiner kompatibilistischen Beschreibung der Entscheidungsfreiheit. Mittel der Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen freier Wahl und Determination ist die Anerkennung der subjektiven Wünsche und Überlegungen als Determinanten des Verhaltens. Im Unterschied zu Hume fasst Bieri Gedanken als Mitursachen auf, da wir heute wahrnehmen können, dass sie nur bei bestimmten neurophysiologischen Zuständen auftreten. Bieri meint, es gebe „tausend Belege dafür, dass gilt: Keine psychologische Veränderung ohne physiologische Veränderung“; dennoch folgten „die neurobiologischen und psychologischen Geschichten“ unseres Handelns „ihrer jeweils eigenen Logik“ und man dürfe diese „verschiedenen Perspektiven nicht vermischen“. (vgl. Bieri 2005) Aus psychologischer Sicht werde dem Menschen vieles zugeschrieben, was aus neurobiologischer Sicht „nicht Thema sein kann“, weil diese Perspektive „dafür gar nicht die begrifflichen Mittel hat: Wille, Überlegungen, Entscheidungen“. (vgl. ebd.) „Es fühlt sich“ eben für uns „auf bestimmte Weise an, eine Person zu sein, die etwas will und durch Überlegen zu einem entschiedenen Willen findet.“ (Bieri 2001, 298) Aus der naturwissenschaftlichen Außenperspektive sind unsere subjektiven Überlegungen und Zielvorstellungen aber nur funktionslose Begleiterscheinungen unseres körperlichen Zustandes, der die Handlung bewirkt.

Letztlich ist unser Alltagsleben, in dem diese Perspektiven sich mischen, also so etwas wie ein Handwerk: Oft benutzen wir Werkzeuge, deren Wirkungen sich absehen lassen, insgesamt aber arbeiten wir uns pragmatisch voran und tun, was uns jeweils aktuell zweckdienlich erscheint. Wissenschaftlich betrachtet lässt sich unser Verhalten prinzipiell deterministisch beschreiben, nämlich insbesondere durch die Neurobiologie, die letztlich eine Anwendungsform der Chemie und Physik ist. Die Psychologie ist daran nicht beteiligt. Eine echte Einwirkung psychischer auf physische Phänomene gibt es nicht. Die natürliche Welt bleibt, was sie physikalisch ist: geschlossen.

Mit seiner näheren Erläuterung der Innenperspektive will sich Bieri aber von Auffassungen wie der Kants distanzieren. Diese scheint ihm entstellend puristisch. Es sei uns zwar durchaus möglich, uns lediglich als Besitzer unseres Bewusstseins aufzufassen: „Ich kann, so scheint es, meinen kritischen Abstand zu mir selbst so einsetzen, dass ich hinter all meine Wünsche und Überlegungen und überhaupt hinter alles zurücktrete, was in mir geschieht. Insofern ich das tue, könnte man sagen, bin ich ein reines Subjekt.“ (Bieri 2001, 268) Diese mögliche Selbsteinschätzung sei aber ungeeignet zur Beschreibung einer handelnden Person, denn in „dieser Lesart gibt uns die Innenperspektive mit ihrem flexiblen Fluchtpunkt eine gedankliche Position, von der aus die Bedingtheit des Willens doch wieder als Zwang und Ohnmacht erscheinen kann“ (ebd. 269). Zwar spiele das „unbestreitbare Phänomen des inneren Abstands zu uns selbst […] eine Schlüsselrolle bei der Freiheit der Entscheidung“, es genüge aber, nur „in Anspruch [zu] nehmen […], dass eine innere Distanzierung bestimmten Wünschen gegenüber […] vom Standpunkt anderer Wünsche aus möglich ist“. (ebd. 271) So könne man erleben, „dass sich antagonistische Wünsche […] eine Schlacht liefern“, und das könnte man „als Ohnmacht erleben“; diese sei aber „nicht die Ohnmacht eines reinen Subjekts angesichts der Bedingtheit von allem, was in [seiner] Innenwelt geschieht“, sondern „eine Ohnmacht, wie wir sie längst kennen: Es gelingt Ihnen nicht, das zu wollen und zu tun, was Ihrem Urteil entspricht“. (vgl. ebd. 272) „Um Subjekt“ unserer Handlungen „sein zu können“, müssten wir unsere „trügerische Reinheit abschütteln und [uns] in das zurückverwandeln, was [wir] ursprünglich waren: eine Person“ (ebd. 274) mit einem privaten und beruflichen Leben (vgl. ebd. 270).

Das sieht Kant zunächst durchaus ähnlich. Wenn man auf das Phänomen des Bewusstseins im Allgemeinen reflektiert und hinter dessen einzelne Inhalte zurücktritt, so können wir nach Kant unseren Bewusstseinszuständen „nichts anderes“ zu Grunde legen „als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet“; und „dieses Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt“, könne „nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt“ werden. (vgl. B 404) „Dass das Ich […] in jedem Denken ein Singular sei, […] liegt schon im Begriff des Denkens, ist folglich ein analytischer Satz; aber das bedeutet nicht, dass das denkende Ich eine einfache Substanz sei“. (B 407f.). Denn „ob dieses Bewusstsein meiner selbst ohne Dinge außer mir, dadurch mir Vorstellungen gegeben werden, gar möglich sei, und ich also bloß als denkend Wesen (ohne Mensch zu sein) existieren könne, weiß ich dadurch gar nicht“ (B 409). Selbst wenn wir unsere einzelnen Bewusstseinsinhalte und Gedanken mit in Betracht ziehen, „haben wir […] in der inneren Anschauung gar nichts Beharrliches […]; also fehlt es uns auch […] an der notwendigen Bedingung, den Begriff der Substanz, d.i. eines für sich bestehenden Subjekts, auf sich selbst als denkend Wesen anzuwenden“. (B 412) „Der Satz: Ich denke, oder: Ich existiere denkend, ist ein empirischer Satz“, dem „empirische Anschauung, folglich auch das gedachte Objekt als Erscheinung zum Grunde“ liegt. (B 428)

Wir handeln nicht, wie Bieri befürchtet, als reine Vernunftwesen. Wir sehen uns zwar im Besitz einer reinen praktischen Vernunft, aber diese bezieht sich immer auf Maximen mit inhaltlichen Handlungszielen und bildet mit diesen unsere gemischt motivierte Willkür. Handelnder ist die konkrete Person in ihrer Erfahrungswelt. Als ein „Sollen“ kommt uns die Orientierung an der Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen überhaupt nur deshalb zu Bewusstsein, weil wir „noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art affiziert werden“, so dass „nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein tun würde“. (GMS 449) Wir sollen allerdings bereit sein, Interessen aufzugeben, die sich auf keine verallgemeinerbare Weise erfüllen lassen, und unverzichtbare Bedürfnisse nötigenfalls anders zu befriedigen. Unsere Mitmenschen sind verpflichtet, uns dabei entgegen zu kommen. Sollte dies in Extremsituationen einmal nicht möglich sein, so greift der Maßstab der Moral nicht mehr. Wunder müssen wir nicht vollbringen. Wollen kann man nach Kant nur, wozu man die Mittel in seiner Gewalt weiß, was man also – nach zumutbarem Wissen – realisieren zu können meint. Jenseits des Machbaren ist man nicht verpflichtet.

  1. Institutionelle Freiheit

Bieris Unterscheidung der Außen- und der Innenperspektive entspricht im Ansatz derjenigen Kants, dass wir „einen anderen Standpunkt einnehmen, […] wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken“, als wenn wir unsere „Handlungen als Wirkungen […] vor unseren Augen sehen“. (vgl. GMS 450)7 Kant schränkt unser Freiheitbewusstsein allerdings ganz auf die moralische Perspektive ein, weil er in unserem Interesse an der Verallgemeinerbarkeit eine rein vernünftige Motivation gefunden zu haben meint. Ein „freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [sind] einerlei.“ (GMS 446f.) Der Freiheitsbegriff Bieris ist weiter und überzeugender als der Kants. Eine rein vernünftige Motivation und absolute Spontaneität scheinen nicht erforderlich zu sein, um echte Gestaltungsspielräume im menschlichen Handeln zu entdecken. Es ist nicht nur das uneigennützige Interesse an der Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen, sondern die Orientierung an Gründen überhaupt, die es uns ermöglicht, unser Leben selbstbestimmt zu führen. Schon die langfristig kluge Evaluation unserer Mittel und Wünsche scheint eine Freiheit unserer Handlungen von starren Mechanismen des Naturgeschehens zu ermöglichen.

Dennoch hat Kant recht damit, dass der Kern der Freiheit in der Aufstellung und Befolgung von Normen liegt, denn Gründe sind nicht nur individuell erwogene Sachverhalte, aus denen man aufgrund irgendwelcher Neigungen oder Bedürfnisse Konsequenzen zieht, sondern alle Arten von Gründen sind in ihrer legitimierenden Funktion sozial etabliert (vgl. Beck 1975, 103f.). Jeder echte Grund ist ein mehr oder weniger guter Grund nicht nur in den Augen desjenigen, der ihn hat, sondern auch für seine Mitmenschen. Wenn im alten Ägypten ein Pharao oder hoher Beamter einen Großteil seines Vermögens in die Errichtung und Ausstattung seines Grabmals investiert hat, so konnte die Sorge um das Weiterleben seiner Seele nach dem Tod ein guter Grund dafür sein. Im Mittelalter war seit der Krönung Pippins des Jüngeren zum fränkischen König 751 der päpstliche Segen ein guter Grund für die Anerkennung des Gottesgnadentums des Herrschers. Und wenn ein afrikanischer Ureinwohner im 18. Jh. im Glauben an die Wirksamkeit magischer Rituale einen Stein in eine Astgabel legte, um auf dem Rückweg von der Jagd schneller voranzukommen, so dürfte das in den Augen seiner Dorfgemeinschaft der Grund für sein rechtzeitiges Eintreffen gewesen sein. (vgl. Evans-Pritchard 1937, 450ff.) Nicht nur religiöse, politische oder Rechtsgründe, sondern auch naturwissenschaftliche und nach Willard v.O. Quine sogar mathematische Gründe (vgl. Quine 1969, 63ff.) hängen von der Anerkennung der Gemeinschaft ab, in der sie geltend gemacht werden.

Die Leistungen der modernen Neurophysiologie konnte Kant nicht erahnen, und daher geht er auf die Möglichkeit einer neurophysiologischen Beschreibung unserer psychischen Leistungen nicht ein, sondern geht wie Locke und Hume davon aus, dass physikalische Ereignisse psychische Ursachen haben können. Bieri sieht in der Physik offenbar die maßgebliche Naturwissenschaft. Das erinnert an die Auffassung des Neoempirismus, die in dem Titel des Aufsatzes von Rudolf Carnap „Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft“ aus dem Jahr 1931 zum Ausdruck kommt. Auch die Physik aber liest nicht einfach im Buch der Natur, sondern ist interessenabhängig und wird pragmatisch betrieben. Karl Popper hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Hypothesenbildung wegweisend für die Entwicklung der Wissenschaften ist; und Thomas Kuhn wies darauf hin, dass diese Entwicklung kein kontinuierlicher Erkenntnisfortschritt ist, sondern Sprünge auch zwischen inkompatiblen Paradigmen aufweist. Bieris metaphorische Einstufung unseres lebenspraktischen Umgangs miteinander als Handwerk und der Psychologie und Sozialwissenschaften als Handwerkskünste ist sympathisch, weil sie deren Pragmatismus hervorhebt. Sie verschleift aber Unterschiede und zieht eine zu harte Grenze zur vermeintlich einzig ernsthaften Wissenschaft der Physik. Denn auch sehr langfristig ist von der Physik nicht zu erwarten, dass sie aufarbeiten kann, was bisher angeblich rein pragmatisch und nur provisorisch in der Psychologie und den Sozialwissenschaften geleistet wird.

Wollte man versuchen physikalisch zu beschreiben, in welchem Zustand sich jemand befindet, der an einen bestimmten Grund glaubt, könnte man sich nicht nur auf seinen – dem Bericht aus der Innenperspektive korrespondierenden – neurophysiologischen Zustand beschränken, sondern die kommunikative Entstehungsgeschichte dieses Zustandes müsste mit berücksichtigt werden. Denn nur wenn eine entsprechende gesellschaftliche Praxis zu seinem Überzeugungszustand geführt hat, hat er einen echten Grund und stellt keine vermeintlichen Zusammenhänge zur Folge her, die niemand nachvollziehen kann. Die neurophysiologischen Zustände, in denen sich Menschen befinden, die – ihren Äußerungen nach – an dasselbe glauben, können sehr verschieden sein. Vergleichsmaßstab der Gemeinsamkeit bleibt ihr Äußerungsverhalten. In der langen Geschichte ihres Heranwachsens und ihrer Erfahrungen haben sie ihre subjektiven Erlebnisse und damit ihre Hirnzustände interaktiv und kommunikativ so miteinander koordiniert, dass sie Informationen austauschen und einander zustimmen können. Mit Gründen werden Bedingungen angegeben, die Handlungen – mir selbst oder anderen gegenüber – rechtfertigen. (vgl. Wingert 2004, 200) Wollten wir versuchen, die Ebene der Gründe und der in der Innensicht erlebten Bedeutungen zu meiden und nur neurophysiologisch über einander zu sprechen, würden wir uns so stark mit uns selbst befassen müssen, dass wir zu den Dingen, um die es uns geht, kaum kämen. Wir leben davon, dass wir interaktiv und kommunikativ einen Wertehimmel über uns aufgebaut haben, erlebnisförmige Einstellungen und Motive so koordiniert haben, dass wir uns in einer intersubjektiven Welt orientieren und kooperieren können.

Dem würde Bieri wahrscheinlich weitgehend zustimmen. Aber seine Einstufung dieser Praxis als bloßes Handwerk wird der tragenden Funktion unseres Erlebens in der Innenperspektive nicht gerecht. Entgegen der Unterscheidung Bieris nennen wir im alltäglichen Handeln häufig psychische Zustände als Ursachen für physische Ereignisse. Im gesamten ´Handwerk´ unseres Lebens gehen die Innen- und die Außenperspektive permanent ineinander über. Die Verbindung zwischen einem Täter und seiner Handlung betrachten wir nicht primär als physikalische Wirkungskette, sondern wir fragen uns, in wessen Interesse die Tat gelegen haben könnte, ´cui bono?´. Wir versuchen also, die Kalkulationen des Täters nachzuvollziehen. Unsere normativen Einstellungen haben den größten Einfluss auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Wenn wir überzeugt davon sind, dass wir anders hätten handeln können, dann meinen wir damit nicht nur, dass es mit unserem Handeln irgendwie hätte anders kommen können, sondern dass wir angesichts genau der gegebenen Umstände hätten anders entscheiden können oder sollen. Wenn wir uns als verantwortliche Personen behandeln, unterstellen wir einander also die Fähigkeit, über Gründe zu disponieren, sie gedanklich aufzusuchen und zwischen ihnen abzuwägen. Nicht nur die Lebensaspekte der Moral und des Rechts setzen dieses Persönlichkeitsbild voraus, sondern alle Institutionen auch im politischen Leben. Bieris Analogie ist ganz zutreffend: Wir könnten nicht von der Schönheit eines Gemäldes sprechen, wenn wir es nur als physikalischen Gegenstand betrachten würden. (vgl. Bieri 2005) Dasselbe gilt für alle Verkehrsschilder, Zahlungsmittel, Rathäuser und Texte jeder Art. Sie sind keine natürlichen Gegenstände. Auch das Ideal der Wahrhaftigkeit bliebe uns verschlossen, wenn wir nicht die Relevanz von Informationen für die Entscheidungen anderer und ein Konzept von Faktizität im Sinn hätten.

Aus diesem Grund geht Kant einen Schritt weiter als Bieri und charakterisiert den Menschen nichtnaturalistisch als intelligibles, d.h. rational zu verstehendes Wesen. Den Zusammenhang zwischen abstrakten Gründen, der psychischen Innenperspektive und der körperlichen Außenwelt sieht er dabei ähnlich wie der kritische Rationalist Karl Popper in seinem Modell der drei Welten (vgl. Popper 1972, 174f.). Nach Popper stellt unsere Psyche die Verbindung zwischen den Gründen und den Ereignissen her. Kant sieht darin eine Leistung der Urteilskraft, d.h. der Fähigkeit zum Umgang mit Begriffen, und als gemeinsamen Gesichtspunkt den der Zweckmäßigkeit:

Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs […] und dem des Freiheitsbegriffs […] befestigt ist, […] so soll doch diese auf jene einen Einfluss haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“ (KU 175f.) Die „Urteilskraft […] gibt den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe, der den Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen, von der Gesetzmäßigkeit nach der ersteren zum Endzwecke nach dem letzten möglich macht, in dem Begriffe einer Zweckmäßigkeit der Natur an die Hand“. (KU 196)

Warum wir in bestimmten psychischen Zuständen Bedeutungsgehalte erfassen und wie bestimmte psychische Zustände mit körperlichen Zuständen und Handlungen verbunden sind, dürfte ebenso unerforschlich sein wie die Entstehung des Stoffwechsels durch den Zusammenschluss von Makromolekülen oder das Gefrieren von Wasser bei Abkühlung auf null Grad.8 Bestimmte große Gehirne entwickeln eben eine Innenperspektive: „Bewusstsein […] ist eine Eigenschaft komplexer Entitäten und kann nicht weiter auf das Wirken noch grundlegenderer Eigenschaften zurückgeführt werden.“ (Koch 2014, 71) Und in der Kommunikation miteinander entwickeln Menschen in der Innenperspektive Vorstellungen abstrakter Gegenstände, mithilfe derer sie ihr Zusammenleben koordinieren und sich im Leben orientieren. Diese Sicht auf den Menschen ist kein ontologischer Dualismus im Sine von Descartes, aber ein Eigenschaftsdualismus, der die Erfahrung der Wirksamkeit unseres Wollens ernst nimmt.9

Durch die besondere menschliche Fähigkeit der symbolischen Kommunikation verdichtet sich die Kreativität der Individuen in der Gesellschaft so sehr, dass ihr Verhalten praktisch unkalkulierbar wird. Wir nehmen Innovationen auf und integrieren sie aufgrund der Plastizität unserer neuronalen Aktivitätsmuster in unser Verhaltensrepertoire. Es kommt zur Traditionsbildung. Handwerkliche Techniken und soziale Normen etablieren sich. Wenn man die menschliche Kulturgeschichte als eine Fortsetzung der evolutionären Entwicklung der Natur verstehen will, dann hätte die Evolution hier eine solche Geschwindigkeit angenommen, dass sich Handlungsmuster nicht mehr wie Naturmechanismen ständig wiederholen, sondern ihre Beschreibung in einen Entwicklungsbericht übergeht.

An dem Wechselspiel von Mutation und Selektion wären nicht mehr nur körperliche Veränderungen beteiligt, sondern auch gedankliche und sprachliche Gebilde in ihrer semantischen Bedeutung wären – wie Karl Popper es formuliert – Gegenstand der Bewährung (vgl. Popper 1972, 172ff.). Versuche, diesen Prozess rein physikalisch zu beschreiben, wären – wie gesagt – aufgrund des dafür nötigen völligen Perspektivwechsels auf das neuronale und kommunikative Geschehen hin aussichtslos. Kant hatte keine Ahnung vom Entwicklungsprinzip der Evolution. Aber was er als Spontaneität der Vernunft in der Bildung von Gesetzeshypothesen und von Maximen beschreibt, könnte als Grund der Unberechenbarkeit der Evolution der Menschheit verstanden werden. „Freiheit“ im Zusammenleben „besteht gerade in der Unberechenbarkeit“ unseres Verhaltens. (Lesch 2022, 160)

Frei ist unser Wille nicht in dem Sinne, dass er wirklich eine erste Ursache wäre, die unabhängig von allen sinnlichen Stimuli eine Handlung anstößt, sondern darin, dass der Akteur sich zwanglos für eine Handlungsweise entscheidet. Niemand macht ihm zwingende Vorschriften, und niemand ist in der Lage, sicher vorauszusagen, was er tun wird. Um das aus der Innenperspektive erlebte Abwägen und Umentscheiden als reale Leistungen gelten lassen zu können, muss angenommen werden, dass wir zu einer Redetermination unserer neurophysiologischen Verfassung in der Lage sind. Reiz-Reaktions-Mechanismen müssen durch das Großhirn registriert und unterbrochen oder umgeformt werden können. Dass wir hätten anders handeln können, ist – in begrenztem Umfang – eine alltägliche Erfahrung. Vor allem Unterlassungen wären uns häufig möglich gewesen. Natürlich hätten die Räuber der Juwelen Augusts des Starken den Einbruch in das dresdner Grünen Gewölbe unterlassen können. Sie haben sicher schon vielerlei Pläne, die sie erwogen haben, dann doch nicht ausgeführt. Auch zum besseren oder richtigen Tun scheinen wir oft fähig gewesen zu sein. Wir hinterfragen unsere affektiven Neigungen und erwägen Alternativen. Über wichtige Entscheidungen schlafen wir noch eine Nacht oder befragen Freunde, die sich mit der Sache auskennen.

Nach Rechtsprechung des BGH wird dem Täter mit dem „Unwerturteil der Schuld […] vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können“ (BGHST 2 (1952), 200). Grundsätzliche Fähigkeiten verliert man nicht plötzlich, und das Vermögen, sich zwischen Alternativen richtig zu entscheiden, besitzt man meist auch dann noch, wenn dies im Einzelfall nicht gelingt. Es hängt, wie Bieri feststellt, von unseren veränderlichen Überlegungen ab, was wir tun. Ob wir bei derselben Motivlage und unter denselben Rahmenbedingungen auch andere Überlegungen hätten anstellen können, ist eine unbeantwortbare Frage. Ausgeschlossen scheint dies nicht, denn durch unsere Entscheidungen bilden wir unseren Charakter mit seinen längerfristigen Einstellungen erst – und zwar unser Leben lang. Wenn wir uns in einer bestimmten Situation in bestimmter Weise entschieden haben, haben wir unserem Charakter und dem Aktivitätsmuster unseres Gehirns in diesem Moment eine bestimmte Form gegeben, die bei einer deterministischen Beschreibung unseres Verhaltens als Gesetz dienen kann. Aber das bedeutet nicht, dass wir auf irgendeine Weise durch die Vorbedingungen zu dieser Entscheidung gebracht worden wären. Erfahrung und Kommunikation schließen Bedeutungserleben ein und sind für die Willensbildung unverzichtbar. (vgl. Wingert 2004, 203)

Strafen haben zwar immer auch einen erzieherischen Zweck, sie verfolgen ihn aber nicht nur auf dem Wege der Konditionierung, indem sie durch – schlechte – Erfahrung klug machen, sondern die Strafe wird dem Täter gegenüber unter Hinweis auf bestehende Gesetze begründet. Er wird also nachdrücklich zur Orientierung an diesen Gesetzen und an ihrem Zweck ermahnt. Willkürliche Bestrafungen rufen auch bei offensichtlichen Vergehen Empörung hervor. Durch Strafen werden wir nicht nur zu Verhaltensweisen wie Unterlassungen bestimmter Art erzogen, sondern zu Rechtsgehorsam und Rücksichtnahme, also zur Beachtung guter Gründe. Strafen sind nur sinnvoll, wenn der Täter grundsätzlich zur Selbststeuerung in der Lage ist. Moralische Kompetenz, also Unparteilichkeit und eine Orientierung am Gemeinwohl, scheint keine Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit von Strafen zu sein. Aber jemanden, der die Regelhaftigkeit des Zusammenhangs zwischen Tatbestand und Sanktion gar nicht erkennt, würde man nicht bestrafen, sondern von der Öffentlichkeit fernhalten und therapieren.

  1. Bedingungen der Freiheit

Die gleichberechtigte Beteiligung am Diskurs über annehmbare Gründe und an der Schöpfung von Formen des Zusammenlebens machen die Basis der Entscheidungsfreiheit aus.10 Würden wir uns rein gewohnheitsmäßig nach Regeln richten, die andere gegeben haben, besäßen wir nur „die Freiheit eines Bratenwenders, […] der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (KpV 97). Daher impliziert Freiheit ein Mindestmaß an Fairness im Umgang miteinander.11 Die für die persönliche Freiheit grundlegenden Normen der Respektierung, der Gleichberechtigung und der Abstimmung miteinander kann man als soziale Institutionen auffassen, die durch Konventionen geschaffen werden. Diese institutionellen Voraussetzungen verbieten es, die Willensfreiheit als eine unhistorische menschliche Eigenschaft zu verstehen, sondern lassen sie als Ideal neuzeitlicher Gesellschaften erscheinen. In bloßen Familienverbänden und Zweckgemeinschaften gibt es Freiheit als Persönlichkeitsrecht nur in Ansätzen, da die Befugnisse hier weitgehend durch die Funktionen und Aufgaben der Personen bestimmt sind. Eine relative Gleichberechtigung mit gegenseitiger Anerkennung der Autonomie des Individuums gibt es erst seit Auflösung der mittelalterlichen Ständegesellschaft mit ihren Zunft- und Gildezwängen und religiösen Dogmen. Erst die Anfänge der Naturwissenschaften und die Verdrängung der scholastischen Buchgelehrsamkeit lassen die aktive Erforschung der Natur und die vorausgreifende Entwicklung von Techniken als Problemlösungsformen allgemein möglich erscheinen. Und erst das Konzept einer rationalen Begründung persönlicher Standpunkte, die dennoch auf Intersubjektivität auszurichten ist, konnte zu dem Stolz der freien Person führen, wie ihn der Götz von Berlichingen, Wilhelm Tell oder Michael Kohlhaas besitzen.

Der Umfang der Willensfreiheit wird nicht wie der der Handlungsfreiheit durch die Zahl der verfügbaren Optionen bestimmt, sondern durch die Reichweite der rationalen Planung und der Modulation der eigenen Wünsche. Man kann auch eine alternativlose Maßnahme entschieden ergreifen, wenn man sich mit ihr arrangieren kann. (vgl. Steinvorth 1987, 266) Eingeschränkt wird die Willensfreiheit durch geistige Trägheit, Unbeherrschtheit, Desinformation, Indoktrination und seelische Zwänge wie u.a. Süchte, also insgesamt durch Charakterschwächen und Laster, die von den Aufklärern bekämpft worden sind. Verführung, z.B. durch Karriereversprechen, und anhaltender körperlicher Zwang wie beim militärischen Drill oder gar unter der Folter können den Willen gängeln oder abtöten.

Willensschwäche dürfte als ein Mangel der Fähigkeit zu verstehen sein, Normen zu befolgen. Gründe verstehen sich als Sachverhalte, die aufgrund sozial etablierter begrifflicher, technischer oder verhaltenssteuernder Regeln andere Sachverhalte als Folgen nach sich ziehen. Wer einen Grund für sein Verhalten anführt, versteht ihn als Quelle der Motivation und der – zumindest technischen – Legitimation seines Verhaltens. Gründe haben von sich aus normative Bedeutung und bedürfen keines Umsetzungsbeschlusses. Wer wirklich weiß, warum er etwas tun will, tut es auch. Es kann aber sein, dass konkurrierende Gründe ihn schwanken lassen oder er die Güte des entscheidenden Grundes nicht erkennt. Das können ihm andere dann unter dem Gesichtspunkt des erwünschten Erfolgs vorwerfen – und er sich selbst auch. Auch wer willensschwach ist, besitzt Willensfreiheit. Kant meint sogar, dass wir bereit wären, das eigene Leben zu riskieren, wenn wir gezwungen würden, mit einem falschen Zeugnis ein Todesurteil zu ermöglichen, obwohl wir uns „vielleicht nicht getrauen“ würden, „zu versichern“, dass wir dies nicht tun werden (KpV 30).

Die praktischen Konsequenzen dieser Überlegungen zur Willensfreiheit sind rasch genannt. Sie finden sich fast alle in Kants berühmtem Aufsatz ´Was ist Aufklärung?´. Nur durch Teilnahme am öffentlichen Diskurs, nur als Mitglied eines Publikums, dem es möglich ist, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (WA 36), kann der Einzelne seine Freiheit entfalten. Nicht nur die politischen Verhältnisse müssen diesen Diskurs zulassen (vgl. WA 40), sondern auch im Privatleben dürfen z.B. familiäre „Vormünder“ niemandem Vorschriften machen, der sich selbst Kompetenz erwerben würde (vgl. WA 35). Die staatliche Gesetzgebung muss der Kritik unterzogen werden dürfen. (vgl. WA 41) Und es darf keine Indoktrination religiöser oder anderer dogmatischen Natur geben, sondern die Meinungsbildung muss unbehindert sein. Jeder Einzelne muss sich an der Aufstellung von gesetzlichen oder moralischen Normen und der Auswahl von guten Gründen beteiligen können. Bei der Abwägung von staatlicher Sicherheit und gedanklicher Freiheit räumt Kant letzterer sogar den Vorrang ein: „Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volkes vorteilhaft“ zu sein. (WA 41)

Leider gibt es eine Reihe psychischer Krankheiten, die die Willensfreiheit einschränken oder unmöglich machen. Kant unterscheidet in seiner vorkritischen Schrift ´Versuch über die Krankheiten des Kopfes´ von 1764 Störungen verschiedenen Grades von der Dummheit bis zum Wahnsinn. Die milderen Formen würden oft verachtet und verspottet, wohingegen man die schwereren „gemeiniglich mit Mitleiden ansieht“. (vgl. KdK 263) Ihre „Wurzel“ liege „eigentlich wohl im Körper“. (KdK 270) Es komme aber auch vor, dass „gewisse Chimären […] gleichsam eine oder andere Organe des Gehirns verletzt“ haben und so zu einer gewissen „Verrückung“ im Bewusstsein führen. (vgl. KdK 265) Je nachdem, ob die Krankheiten auf „eine glückliche Genesung hoffen“ lassen oder „erblich sind“, könne man den Beistand des Arztes suchen (KdK 271) oder es müsse sich „die obrigkeitliche Vorsorge“ der Leidenden annehmen (KdK 263).

Von der Größe der natürlichen Hindernisse der Willensfreiheit hängt nach Kant die Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen ab. Je kleiner das Naturhindernis und je größer die Pflichtverletzung, je mehr wird die Übertretung ihm als Verschulden zugerechnet. (vgl. MdS 228) „Daher der Gemütszustand, ob das Subjekt die Tat im Affekt, oder mit ruhiger Überlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht“. (MdS 228) Mit der Zunahme der wissenschaftlichen Einsicht in die menschliche Psyche ist die Zurechnungsfähigkeit differenzierter betrachtet worden. Das grundsätzliche Merkmal der Willensfreiheit, dass nämlich anhand erwogener Gründe entschieden wird, ist dasselbe geblieben; und diese Fähigkeit gilt es zu beachten bzw. zu fördern.

  1. Die Wirklichkeit der Freiheit

Bei philosophischen Untersuchungen kommt es nach Kant besonders darauf an, den belachenswerten Eindruck zu vermeiden, dass man einen Bock melkt und dabei noch ein Sieb unterhält, um die erwartete Milch der Erkenntnis aufzufangen. (vgl. B 82) Es muss also geprüft werden, ob das hier entwickelte Freiheitverständnis in unserem Leben eine Rolle spielt.

Zunächst bestanden die sogenannten Freiheiten nur darin, dass man von üblichen Bindungen oder Belastungen ausgenommen war. ´Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag´ war ein Rechtsgrundsatz des 11. und 12. Jahrhunderts. Erst durch das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 wurde die Unterwerfung unter die Leibeigenschaft verboten. Tatsächlich bestanden grundherrliche Abhängigkeiten aber bis zum Ende des Kaiserreiches 1918.

Die erste Verfassung für Deutschland entwarf die Nationalversammlung, die nach dem revolutionären Aufstand im März 1848 in die Paulskirche nach Frankfurt einberufen wurde. Sie wurde am 28. März 1849 verabschiedet und enthielt als vierten Abschnitt einen Grundrechtsteil mit dem Artikel 3, Satz 1: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ In den näheren Ausführungen geht es dann insbesondere um den Schutz vor willkürlicher Verhaftung. Am 3. April 1849 wurde dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone der zu gründenden konstitutionellen Monarchie des Deutschen Reiches angetragen, aber er lehnte sie ab, da an ihr der ´Ludergeruch der Revolution´ hafte. Er machte der Nationalversammlung jede weitere Arbeit unmöglich, bis deren Reste sich am 23. Juli 1849 auflösten.

Eine echte parlamentarische Demokratie wurde Deutschland erst mit der Gründung der Weimarer Republik am 31. Juli 1919. Auf Drängen des Kanzlers Friedrich Ebert wurden in deren Verfassung Grundrechte in einen zweiten Teil hinter die Staatsorganisationsprinzipien aufgenommen. Ebert ging es besonders um die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Eine ´allgemeine Handlungsfreiheit´ gewährleistet erst das Grundgesetz der BRD vom 23. Mai 1949 in seinem Artikel 2, Satz 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Tatsächlich sind alle diese politischen Freiheiten Handlungsfreiheiten. Und nach Gottfried Wilhelm Leibniz kann sich der Wille auch nur auf das Handeln richten, denn „sonst könnte man auch sagen, wir wollen den Willen haben, zu wollen, und das würde ins Endlose fortgehen“ (Leibniz: Die Theodizee (1710), zit. nach Keil 2009, 23). Auch nach Arthur Schopenhauer kann der Mensch bestenfalls tun, was er will, aber nicht wollen, was er will. (vgl. Keil ebd.) Dennoch gewährleisten einige unserer Grundrechte offensichtlich nicht nur Handlungsspielräume; und einige der zugesicherten möglichen Handlungen sind von besonderer Bedeutung offenbar für die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der Menschen. Artikel 4 garantiert nicht nur die „ungestörte Religionsausübung“, sondern auch die „Freiheit des Glaubens“ und „des Gewissens“. Die Meinungs- und Pressefreiheit besteht nicht nur darin, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“, sondern auch darin, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ (Art. 5). Die Berufsfreiheit wird in Art. 12 ausdrücklich als „Freiheit der Berufswahl“ gewährleistet, und auch die in Art. 11 garantierte Freizügigkeit schließt die Wahl des Aufenthalts- oder Wohnortes ein.

Letztlich gewährleistet jedes Grundrecht auch die Möglichkeit, sich informiert für oder gegen das geschützte Tun oder Unterlassen zu entscheiden, denn Handlungen unterscheiden sich von bloßem Verhalten dadurch, dass sie unmittelbar oder mittelbar mit Absichten verbunden sind (vgl. Steinvorth 1987, 273). Die Willensfreiheit ist von der Handlungsfreiheit nicht zu trennen; und sie besteht nicht in dem sich immer wiederholenden Entschluss, einen bestimmten Willen haben zu wollen, sondern in der Fähigkeit, sich informiert und abwägend zu entscheiden.12 Der Wille, seine Einstellungen in bestimmter Hinsicht zu ändern, etwa das Rauchen aufzugeben, enthält eine besondere Absicht zweiter Stufe und ist nicht, wie Harry Frankfurt meint (vgl. Steinvorth 1987, 265), die Grundform der Willensfreiheit.

Die Tatsache, dass unsere Freiheit eine Geschichte hat und durch verschiedene Konventionen und Rechtsbestimmungen realisiert wurde, weist darauf hin, dass sie keine natürliche Eigenschaft ist wie die Handlungen, die man im Status der Freiheit vollziehen kann. Zu suchen ist sie nicht in körperlichen Verhaltensweisen oder geistigen Leistungen allein, sondern in den Konventionen, Gesetzen, Kompetenzen und Befugnissen, die unsere Freiheiten gewährleisten.

Das GG unterscheidet sich von der WRV vor allem dadurch, dass die Grundrechte den Staatsorganisationsprinzipien vorangestellt sind. Darin soll zum Ausdruck kommen, dass der Staat um seiner Bürger willen da ist und nicht umgekehrt. Art. 1, Abs. 1 GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Bundesverfassungsgericht hat Art. 1, Abs. 1 GG als oberstes Verfassungsprinzip bezeichnet, das den „Kern“ aller Einzelgrundrechte bilde. Das „darum“ in Art. 1, Abs. 2 weist darauf hin: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ In den folgenden Artikeln wird die Menschenwürde zunächst in ihren Hauptaspekten Freiheit und Gleichheit gewährleistet (Art. 2 u. 3). Damit setzt das Grundgesetz den Artikel 1 der Menschenrechtskonvention der UNO vom 10. Dezember 1948 um „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten“. In den weiteren Grundrechtsartikeln des GG wird die Freiheit dann in den Einzelgrundrechten für Standardsituationen konkretisiert (vgl. Richter 1987, 70).

Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht die Entscheidungsfreiheit in alle Einzelgrundrechte aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1, Abs. 1 ein. In Verbindung mit der Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 begründet Art. 1, Abs. 1 das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das nach Rechtsprechung des BVerfG als sog. Auffanggrundrecht fungiert:

Kommt […] eine Verletzung von Einzelgrundrechten nicht in Betracht, so bleibt als Prüfungsmaßstab […] das durch Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht“. (BVerfGE: 54, 148 (153); vgl. Richter 1987, 70f.)

Das Bundesverfassungsgericht hat das Menschenbild des Grundgesetzes auf dieser Grundlage dahingehend beschrieben, dass es nicht das eines „isolierten und selbstherrlichen“, sondern eines „gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums“ sei, das „darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“ (BVerfGE: 30, 1 (20); vgl. Richter 1987, S. 69). Zur Würde des Menschen gehört es also nicht nur, vom Staat in seinem äußerlichen Verhalten nicht unnötig eingeschränkt zu werden, sondern auch die freie Meinungsbildung und die Möglichkeit, sich nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, zählen dazu (vgl. BVerfGE: 8, 274 (328); 6, 32 (41f.)).

Dass das Menschenwürdekonzept des Grundgesetzes im Kern demjenigen Kants entspricht, geht besonders klar aus der Entscheidung des BVerfG zum Luftfahrtsicherheitsgesetz vom 15.2.200613 hervor:

Art. 1 Abs. 1 GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>; 107, 275 <284>; 109, 279 <312>). Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <227f>), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>); 45, 187 <228>; 96, 375 <399>).“ (BVerfGE 115, 118-166 (Rdnr. 121))

Dieses Verbot, den Einzelnen vollständig zu instrumentalisieren, ist ein Kernbestandteil der Ethik Kants:

Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (GMS 428)

Mit der Feststellung des Anspruches des Einzelnen auf Autonomie unter Berücksichtigung seiner Bindung an die Gemeinschaft gewährleistet das Grundgesetz also durchaus eine Freiheit im Sinne des kantischen Würdebegriffs, der die Selbstbestimmung nicht in das völlige Belieben, sondern in die Entscheidung zwischen gemeinverträglichen Maximen setzt. Es ist also durchaus Freiheit im kantischen Sinne, eine individuelle Freiheit, die nach allgemeinen Gesetzen soweit wie zu ihrem Erhalt nötig eingeschränkt werden darf, der oberste Wert unserer Verfassung.

Anmerkungen

1. Am 27. Juni 2023 ist Peter Bieri im Alter von 79 Jahren gestorben. Obwohl er in den letzten Jahren unter dem Pseudonym Pascal Mercier vor allem mit seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ aus dem Jahr 2004 als Schriftsteller bekannt geworden ist, war er als Professor der Philosophie einer der Hauptvertreter der Analytischen Philosophie in Europa bei der Debatte um das Verhältnis von Geist und Gehirn. Er hat ein achtjähriges DFG-Forschungsprojekt zu diesem Thema geleitet und zahlreiche eigene Arbeiten dazu veröffentlicht. Ein Bestseller wurde hier sein Buch „Das Handwerk der Freiheit“ aus dem Jahr 2001. In ihm zieht Bieri in populärer Form Bilanz seiner philosophischen Erfahrung, und es scheint für eine einführende Darstellung der Problemlage besonders geeignet. Bieri argumentiert als analytischer Philosoph, d.h. indem er von verbreiteten Meinungen und Sprechweisen ausgehend einen verständlichen Kern unserer Auffassungen zu rekonstruieren versucht. Weiter gehende Vermutungen über das Zustandekommen unserer Auffassungen und das Wesen der Dinge versucht er dabei zu vermeiden. Hierin unterscheidet sich sein Vorgehen von dem der klassischen Erkenntnistheorie von Descartes bis Kant, die auch das Fundament unserer Erfahrung und allgemeine Prinzipien für sie aufzudecken versuchten. Die tief greifenden Überlegungen Kants haben die philosophische Debatte nachhaltig geprägt und sind auch Bezugspunkte Bieris.

2. Von einigen Vertretern der modernen Wissenschaftstheorie wird Kants These der Anschauungsformen a priori mit der Begründung für überholt erklärt, dass „im Falle der Richtigkeit von Kants Theorie die Physik dieses Jahrhunderts undenkbar“ wäre (Stegmüller 1968, 27). Das Gegenteil, nämlich dass die Transformation der raumzeitlichen Messungen eines bewegten Beobachters in die eines anderen im Sinne der Relativitätstheorie die Ideale einer einheitlichen Zeit und eines einheitlichen Raumes voraussetzt, hat bereits 1911 z.B. der Physiker Max Laue gesehen: Die Eindeutigkeit der Zuordnung ist dasjenige, was vom Gedanken der ´Einheit der Zeit´ zurückbleibt. Mit der Aufhebung der Dingeinheit von Raum und Zeit in der Relativitätstheorie ist nicht zugleich ihre Funktionseinheit aufgehoben, sondern befestigt. (vgl. Cassirer 1921, 73f.) Markus Willaschek behauptet, Kants Argumentation in der transzendentalen Ästhetik beruhe „auf der Annahme, dass der Raum der euklidischen Geometrie … derselbe ist wie der physikalische Raum, der uns umgibt“; seit „Einsteins Relativitätstheorie“ wisse man aber, „dass das nicht der Fall ist“ (Willaschek 2023, 319). Tatsächlich geht Kant nur davon aus, dass unser Anschauungsraum der dreidimensionale euklidische Raum ist. Dass die physikalische Wirklichkeit über die uns unmittelbar anschaulich zugänglichen Phänomene hinausgehen kann, ist Kant anhand des Magnetismus, der Wärmestrahlung und der Gravitation bekannt gewesen. (vgl. MAN, 498)

3. Der in diesem Punkt an Kant anschließende kritische Rationalist Karl Popper hat seit Erscheinen seiner ´Logik der Forschung´ im Jahr 1934 Wert auf die Feststellung gelegt, dass selbst Hypothesen nicht induktiv gebildet werden, sondern oft schon vor jedem Beobachtungsversuch. (vgl. Popper 1972, 36f.)

4. In Kants Ethik ist die Unparteilichkeit die Schlüsseltugend. Aber auch in utilitaristische Konzeptionen wird sie aufgenommen, um gerechte Folgerungen generieren zu können. Der Utilitarist Peter Singer meint, es sei gleichsam eine „Rolltreppe der Vernunft“, die unsere Nächstenliebe zum Standpunkt konsequenter Unparteilichkeit entgrenzt: „Die Fähigkeit des Denkens […] könnte auch zu einer merkwürdigen Abweichung von dem führen, was wir als die gerade Linie der Evolution erwarten würden. […] Wir könnten schließlich sogar an einen Punkt kommen, der zu Spannungen mit anderen Seiten unserer Natur führt. In dieser Hinsicht könnte also doch an der Kantischen Vorstellung etwas Richtiges sein, die eine Spannung zwischen unserer Fähigkeit zum vernünftigen Denken und seinen Ergebnissen hinsichtlich des Rechten einerseits und unseren tiefer liegenden Bedürfnissen andererseits annimmt.“ (Singer 1993, 254f.)

5. Ein schwacher Trost ist diesbezüglich die Versicherung, „die Annahme einer strikten Determiniertheit untergrabe“ Entscheidungsprozesse nicht, weil „die Wege des Determinismus für den Entscheider unergründlich sind“ (Fink 2019, 73). Die Undurchsichtigkeit des physikalischen Zustandekommens unserer Entscheidung in dem Augenblick, in dem sie getroffen werden, macht es sicher unmöglich, ihr Ergebnis durch eine physikalische Prognose vorwegzunehmen (vgl. ebd.), aber das Bewusstsein, dass der Inhalt unserer Überlegungen nach neuesten und gesicherten neurophysiologischen Analysen grundsätzlich rein gar nichts zu ihrem Ausgang beiträgt, muss unsere gedanklichen Anstrengungen doch zwecklos erscheinen lassen. Die Unhaltbarkeit einer rein neurophysiologischen Auffassung des Entscheidens wird deutlich, wenn man sich die tragende Bedeutung der symbolischen Kommunikation und Tradition für die Entwicklung der menschlichen Kultur vor Augen führt. Das erlebnismäßige Verstehen scheint dafür unverzichtbar, und dieses Erleben scheint bei der Entwicklung unserer Hirnzustände eine Rolle zu spielen. Die Psychologie scheint eine gleichberechtigte empirische Wissenschaft zu sein.

6. Julian Nida-Rümelin ist der Ansicht, unser Handeln sei daher schon ganz unabhängig von jeder selbstlosen moralischen Motivation nicht deterministisch beschreibbar: „Die vollständige naturwissenschaftliche Beschreibung der Ausgangsbedingungen belässt einen Spielraum der Freiheit, einen Spielraum der Effektivität von Deliberation, einen Spielraum alternativer Möglichkeiten des Beabsichtigens und des Handelns.“ (Nida-Rümelin 2005, 95) Diese Abwägungen von Alternativen seien „epistemisch unauffällig“, da durch sie „kein einziges physikalisches Gesetz verletzt“ werde. (ebd. 74f.)

7. Diese Unterscheidung von Perspektiven der Betrachtung ist auch in die moderne analytische Philosophie eingeführt worden, insbesondere von Donald Davidson (1970), Lewis White Beck (1975) und Gunter Gebauer (1979).

8. Noch im Jahr 2014 resümiert Brigitte Falkenburg ihr Referat über die Erforschung der Entstehung des Bewusstseins: „Die mechanistischen Erklärungen der Physik, Chemie und Biologie greifen zu kurz, um die Entstehung des Bewusstseins im Gehirn zu erklären; und die Erklärungsleistung der informationstheoretischen Ansätze lässt ebenfalls gewaltig zu wünschen übrig. […] Ohne Methodenreflexion und ohne die kritische Suche nach völlig neuartigen Denkansätzen kommt man hier wohl nicht weiter.“ (Falkenburg 2014, 129)

9. Am 17. Juli 1990 hat US-Präsident George H.W. Bush in seiner Presidential Proclamation 6158 die Dekade des Gehirns ausgerufen. Dies hat zu einer Intensivierung der neurophysiologischen Forschung weltweit geführt. Dass unsere mentalen Leistungen an neuronale Strukturen gebunden sind, ist heute unstrittig. Umstritten zwischen einigen Philosophen und Neurophysiologen ist allerdings, ob mentale Vorgänge ausnahmslos durch neuronale Prozesse verursacht sind oder sich auch umgekehrt mentale Leistungen in neuronalen Aktivitätsmustern realisieren (vgl. das Streitgespräch zwischen Singer und Nida-Rümelin 2008). Einige Neurophysiologen gestehen psychischen Zuständen Einfluss auf das Verhalten zu. So erklärte Wolf Singer schon 2004: „Wir bezweifeln nicht, dass sich höhere Säugetiere und insbesondere alle Primaten ihrer Empfindungen gewahr sein können und dass dieses Gewahrsein handlungsrelevant ist.“ (Singer 2004, 42) „Eine naheliegende Vermutung ist, dass bewusstes Verhandeln von Variablen Vorteile gegenüber den unbewussten Entscheidungsprozessen bietet. Ein offensichtlicher Gewinn könnte die Mitteilbarkeit der Gründe sein. […] Diese Mitteilbarkeit hat vermutlich entscheidend zur Entwicklung und Stabilisierung sozialer Systeme beigetragen.“ (Singer 2004, 61) „Natürlich sind diese beobachtbaren kognitiven Leistungen mit den zugrundeliegenden neuronalen Prozessen nicht identisch. Wir verwenden deshalb unterschiedliche Beschreibungssysteme zur Darstellung von Verhaltensleistungen und neuronalen Prozessen, und wir sagen, Verhaltensleistungen seien emergente Eigenschaften neuronaler Vorgänge. Damit soll ausgedrückt werden, dass kognitive Funktionen mit den physiko-chemischen Interaktionen in den Nervennetzen nicht gleichzusetzen sind, aber dennoch kausal erklärbar aus diesen hervorgehen.“ (Singer 2004, S. 35f.) „Weitaus problematischer ist die Frage, wie sich auf der Basis neuronaler Erregungsmuster die subjektiven Konnotationen unserer Wahrnehmungen und Empfindungen konstituieren. Diese Frage führt uns gegenwärtig noch an die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens, da sich in ihr die noch unvereinbaren Beschreibungen begegnen, die wir aus den unterschiedlichen Perspektiven der ersten und der dritten Person gewonnen haben.“ (Singer 2004, 45f.)

Ganz ähnlich fasst sein Kollege Gerhard Roth 2018 seine Position mit den Worten zusammen: „Wir nehmen […] eine naturalistische Sichtweise ein und sehen im Rahmen der ´Einheit der Natur´ das Geistig-Psychische als einen Naturprozess an, ohne jeden Bezug auf eine metaphysische ´mentale Kausalität´. Gleichzeitig lehnen wir einen reduktionistischen Standpunkt ab und sehen das Geistig-Psychische als einen emergenten Zustand an, der unter sehr spezifischen physikalisch-chemisch-physiologischen Bedingungen stammesgeschichtlich entstanden ist und individualgeschichtlich in jedem Menschen entsteht und bestimmte Eigengesetzlichkeiten entwickelt. Diese Eigengesetzlichkeiten […] führen im Gehirn zu einer gewissen Autonomie geistiger Prozesse. Diese Prozesse zeigen sich insbesondere bei der Verarbeitung neuer und für das Leben und Überleben wichtiger Informationen als ordnungsstiftende und gestaltende Faktoren.“ (Roth 2014, 440)

Der deutsch-amerikanische Neurophysiologe Christof Koch bekennt 2014 entschiedener: „Ich glaube, dass Bewusstsein eine fundamentale, eine elementare Eigenschaft lebender Materie ist. … Es ist eine Eigenschaft komplexer Entitäten und kann nicht weiter auf das Wirken noch grundlegenderer Eigenschaften zurückgeführt werden.“ (Koch 2014, 70f.)

Der englische Philosoph Ted Honderich hat schon 1993 ein Konzept der deterministischen Beschreibung von Handlungen vorgelegt, das mentale Zustände integriert:

Jedes geistige Ereignis einschließlich der Entschlüsse oder Entscheidungen ist mit einem gleichzeitigen neuronalen Ereignis verbunden, denn die beiden sind nomische Korrelate. Da das neuronale Ereignis eingetreten ist, ist unabhängig vom übrigen Geschehen auch das geistige Ereignis eingetreten, und ohne das geistige Ereignis wäre das neuronale nicht eingetreten. […] Jede in einem allgemeinen Sinne des Wortes aufgefasste Handlung ist die Wirkung einer Kausalreihe, zu deren erstem Bedingungskomplex ein psychoneurales Paar gehört, das seinerseits eine aktive Absicht umfasst.“ (Honderich 1993, 80)

Will man eine Handlung näher durch den Inhalt der zugrunde liegenden Absicht erklären, muss man über ihre wertfreie empirische Beschreibung hinaus allerdings die wertgebundenen Gründe des Akteurs zu erkunden versuchen.

10. Hier ist Birgit Recki zuzustimmen: „Für Kant steht schon die Erkenntnis in ihrer Bindung an das Medium des Begriffs durch dessen Anspruch auf allgemeine Geltung im Horizont intersubjektiver Verständigung und Kritik; wo er die begriffliche Allgemeinheit als allgemeine Mitteilbarkeit der Urteile anspricht“, nämlich in KU § 9, S. 17 und § 21, S. 239, „macht er die Einsicht in deren öffentlichen Charakter explizit“. (Recki 2022, 95) Prinzipien der Erkenntnis besitzen allerdings nicht denselben Verbindlichkeitsgrad wie moralische Pflichten, sondern als technische Vorschriften den Charakter hypothetischer Imperative: Wenn Du Dich im Leben kognitiv orientieren willst, suche nach universell gültigen Konzepten und Gesetzen und stimme Dich dabei mit allen anderen erkenntnisfähigen Subjekten ab! Kategorisch gilt allerdings der besondere Imperativ, sich der Erhaltung des Lebens eines selbst und anderer wegen über die Umstände und ihr Befinden zu informieren.

11. Otfried Höffe hat in seinem aktuellen Beitrag ´Der wahre Weltbürger´ eindringlich dargelegt, dass Kant nicht nur einen staatsphilosophischen, sondern auch einen epistemologischen und moralischen Kosmopolitismus vertritt. Zahlreiche ähnlich lautende Formulierungen in der ´Grundlegung´ besagen, dass „die vernünftige Natur […] als Zweck an sich selbst“ existiert und daher „die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ behandelt werden soll (GMS 429). Die Vernunft sei eine Naturgabe (GMS 396) und an ihr unterschieden sich die theoretische und die praktische Vernunft nur als verschiedene Formen ihrer „Anwendung“ (GMS 391). (vgl. Höffe 2022, 107ff.)

John Rawls hat in seinem folgenreichen Werk ´A Theory of Justice´ von 1971 nachzuweisen versucht, dass die meisten Mitglieder moderner Industriegesellschaften einen Sinn für Gleichberechtigung haben. Sie fänden es nämlich angemessen, die Grundsätze der Verfassung eines zu gründenden Staates von einem Standpunkt der Unparteilichkeit aus zu wählen. Jeder wäre damit einverstanden, sich die Ausgangslage der Staatsgründung, den Urzustand, so denken, dass die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung nur die allgemeinen Bedingungen des Wirtschaftens und der Staatsorganisation kennen, nicht aber ihre eigene Identität. (vgl. Rawls 1971, 140ff.) Unter diesen Bedingungen würde man sich nach Rawls für Grundsätze entscheiden, die die größtmögliche gleiche Freiheit für alle garantieren; und sogar die Verteilung der materiellen Ausstattung würde so gewählt werden, dass jedermann die Nutzung seiner Freiheit möglich ist. (vgl. Rawls 1971, 226ff.) Bei der Suche nach Regeln des Zusammenlebens sehen wir Freiheit also immer mit Gleichberechtigung gepaart.

12. Daher erfasst das bekannte Libet-Experiment, das die Wirksamkeit bewusster Entscheidungen in Zweifel stellt, keinen vollständigen Willensbildungsakt. In den Experimenten des Psychologen Libet wurden Probanden, deren Gehirnaktivität man über Elektroden beobachten konnte, aufgefordert anzugeben, wann genau sie sich entschieden haben, einen Finger zu heben. Tatsächlich kann die Einleitung des Hebens mit dem Aufbau des neuronalen Aktionspotentials jedes Mal um Bruchteile einer Sekunde früher beobachtet werden als der Proband sich zur Bewegung entschlossen haben will. Ganz unabhängig vom Bewusstsein scheint der Körper selbst die Handlung und dann auch das ganz unwirksame Erlebnis des Entschlusses zu erzeugen.

Die Anordnung der Versuche lässt daran zweifeln, dass hier wirklich ein Entschluss gefasst worden ist. Die Probanden kannten die Aufgabenstellung von vornherein. Sie hatten sich entschieden, bei einer bestimmten Zeigerstellung einen Finger zu heben und die Stellung zu melden. Sie waren während des gesamten Experiments bereit dazu. Sie haben sich nicht zwischen Alternativen entschieden und weder Vor- oder Nachteile noch die Verhältnismäßigkeit eines Mittels erwogen. Ihre möglichen Entschlüsse hatten gar nicht den Charakter von Maximen. Sie hatten keine Gründe für das Fingerheben und konnten sich nicht fragen, ob sie mit dem Heben etwas falsch oder richtig machen. Ihr Handeln ist „nicht weniger freiwillig als die habitualisierte Parade eines geübten und warmgeschossenen Torwarts“, ihm fehlt „ein Urteil“ der Art, dass es „besser [ist], das und das zu tun, als es zu unterlassen“. (Wingert 2004, 197)

Sigmund Freud betrachtet in seiner Instanzenlehre die Maßstäbe, aufgrund derer das Über-Ich die Handlungen des Ichs bewertet, als Internalisierungen von zunächst fremden Anforderungen. Wenn die guten Gründe eines Handelnden immer auch die soziale Anerkennung seiner Mitmenschen erfordern, dann ist jedes Nachdenken eines Handelnden über seine Gründe immer auch eine Reflexion über die Richtigkeit seines Tuns oder Lassens. Sobald man eine solche Überlegung aber in das Libet-Experiment integriert, wird es unglaubwürdig. Der Kontrollschritt der Überprüfung kann zwar automatisiert erfolgen, aber die Internalisierung des Maßstabes setzt einen Lernschritt ganz außerhalb der neuronalen Verfassung der Person selbst voraus. Es mag sein, dass man als Kind geradezu dressiert worden ist, aber dem Bewusstsein eines Erwachsenen ist jede Anerkennung von Maßstäben prinzipiell zugänglich.

Besonders deutlich wird die mangelnde Repräsentativität des Libet-Experiments, wenn man planerisches Handeln betrachtet. Ein Ingenieur, ein Arzt, ein Apotheker oder ein Koch mögen automatisiert handeln, aber in ihre Handlungen gehen in hohem Maße Überlegungen und sogar semantisch und kommunikativ tradierte Gedanken ein: mathematische Berechnungen, Anleitungen oder Rezepte. Und jeder Grund, dessen Güte und Gewicht von einem Handelnden erwogen wird, ist ein Stück weit eine Bedingung, die Folgen legitimiert. Die Vermittlung von Kulturtechniken erfolgt nicht nur, aber immer auch auf dem Wege des Verstehens. In Bezug auf sie muss die Geschichtsschreibung hermeneutisch werden. Eine neurophysiologisch-informationstechnische, also physikalische Kulturgeschichtsschreibung lässt sich noch nicht einmal denken.

13. In dieser Entscheidung hat das Gericht die Verfassungswidrigkeit des damaligen Luftfahrtsicherheitsgesetzes festgestellt. Es sah vor, dass entführte Passagierflugzeuge abgeschossen werden dürfen, wenn sie als Waffe gegen Unschuldige eingesetzt werden sollen. Ferdinand von Schirach hat diese Problemlage und die scheinbare Widersinnigkeit der Gerichtsentscheidung in seinem Theaterstück „Terror“ von 2015 veranschaulicht. Zwingt die verfassungsmäßige Unmöglichkeit, die Opferung von hier 170 Passagieren zu erlauben, nicht zur Inkaufnahme weit größerer Opfer durch die Terroristen, hier etwa von 40.000 Besuchern eines Fußballstadions? Unter dem Gesichtspunkt der Unaufwiegbarkeit der Menschenwürde jedes Einzelnen scheint die Abwägung in derartigen Situationen zu einem Patt zu führen. Kant hebt die absolute Würde vernünftig handelnder Wesen allerdings gegen den nur relativen Wert aller anderen Dinge ab (vgl. GMS 434) und scheint zu meinen, dass die Würde gegen nichts anderes abgewogen werden darf. Steht hingegen die Würde des einen gegen die eines anderen, scheinen durchaus weitere, zweckrationale Gesichtspunkte in die Abwägung mit eingehen zu müssen wie etwa die Anzahl oder die Lebensaussichten der Würdeträger. Dem Verfassungsgericht musste es bei seiner Entscheidung darauf ankommen, den Rang des höchsten Wertes der Verfassung klar zu stellen und der Forderung Betroffener an die Exekutive vorzubeugen, sie hätte zur Vermeidung größerer Übel Menschenleben opfern müssen.

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Der Autor

Thomas Scheffer, geb. 1954;

Studium der Fächer Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Uni Göttingen 1975 – 1982; Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes 1983 – 1985; Promotion in Philosophie 1991 an der Universität Göttingen bei Prof. Patzig mit „Kants Kriterium der Wahrheit“ (Kant-Studien Ergänzungsheft Nr. 127, Berlin 1993); Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Alexy (Juristisches Seminar der Universität Kiel) am DFG-Projekt „Die immanente Moral des Grundgesetzes“ 1989 – 1993; Lehraufträge in Philosophie an den Universitäten Kiel, Freiburg und Bielefeld 1993 – 1994; Zweites Staatsexamen 1996 und bis 2020 Lehrer für Philosophie, Deutsch und Geschichte an Gymnasien in NRW, Fachvorsitzender PL und D; Dozent der VHS Lippe-West seit 2021.

Veröffentlichungen

Kants Kriterium der Wahrheit; ´Kant-Studien´ Ergänzungshefte, Bd. 127, Berlin 1993. Kant´s Theory of Space as an a priori System of Relations; in: U. Majer u. H.J. Schmidt (Hg.): Semantical Aspects of Spacetime Theories; Mannheim 1994. Liberale oder kommunitäre Gerechtigkeit? Die Positionen von Rawls, Sandel, Mac Intyre und Taylor; in: ´Diskurs´ 2/94, herausgegeben vom Deutschen Jugendinstitut, München. Die erkenntnismethodologischen Grundlagen in Kants Naturbegriff; in: G. Harste, Th. Mertens u. Th. Scheffer (Hg.): Immanuel Kant über Natur und Gesellschaft; Odense-Universtity-Press 1996. Die Grundrechte als Grenzen einer kommunitaristischen Sozialmoral; in: A. Stephan u. K.P. Rippe (Hg.): Ethik ohne Dogmen – Aufsätze für Günther Patzig; Paderborn 2001. Wie ist unsere Freiheit wirklich? – Kompatibilismus bei Kant und Bieri; in: Volker Mueller (Hg.): Die Notwendigkeit von Freiheit; Schriftenreihe der Freien Akademie, Bd. 42, Berlin 2023.