Die Erfindung des Schwaneneis
Das Märchen von der verstörten Seele im nicht erklärten Klassenkampf

Echte Jungen heulen nicht, sagte man noch zu Beginn der 1960er Jahre. Mit elf Jahren haben sie Hänsel und Gretel, Peterchens Mondfahrt und Winnetous Tod hinter sich und sind daher auch was literarische Tränendrückerei anbelangt genügend abgehärtet. Aber dann bekommt man aus Versehen eine reich illustrierte Ausgabe von Andersens Märchen in die Hände, liest sich in der Schneekönigin fest. Und dann ist es passiert. Spätestens an der Stelle, wo endlich die Eissplitter im Herzen des Jungen schmelzen, der von der Schneekönigin in ihr kaltes Reich entführt wurde, und wo die Eiswürfel wie von selbst das Wort „Ewigkeit“ bilden.

Später, wenn man Hans Christian Andersens Märchen noch einmal liest, nun mit einem literarischen Interesse vielleicht, dann fällt einem nicht nur auf, wie großartig das geschrieben ist. Wie dieser Autor mit seinem rhythmischen Parlando den Leser ergreift und wie er, nie ein Wort zuviel, doch ganz anders, seelenvoll und atmosphärisch erzählt, als es die harten und abstrakten Volksmärchen der Brüder Grimm zum Beispiel tun. Bei den Grimms darf man fasziniert auf eine grausame und ziemlich suggestive Welt sehen, deren Symbole einen noch in die Erwachsenen-Träume verfolgen. Bei Hans Christian Andersen aber ist man mitten drin. Man kann diese Märchen nicht ohne weiteres nacherzählen, man muss sie lesen oder vorlesen, Wort für Wort. Es handelt sich, mit anderen Worten, um Literatur. Um bürgerliche Literatur, um genau zu sein.

Und noch etwas fällt einem beim Wiederlesen der Schneekönigin auf. Dass dahinter nicht so sehr eine sittliche Moral steckt, Gott sei Dank, sondern eine poetisch vermittelte Idee. Der gefangene Junge Kay muss nämlich in dem kalten Verließ das „Eisspiel des Verstandes“ lösen und kriegt es doch nicht hin. Dass er gerettet wird, verdankt er einzig und allein seiner Schwester, die Natur und Gefühl zu bewahren wusste. Durch ihre Tränen wird sein eisiges Herz gerettet, und durch ihre Liebe werden die Eisstücke belebt. Ein Märchen zwischen Traumspiel und philosophischem Essay: Es ist eine Geschichte, die gegen die Entzauberung der Welt protestiert. Oder auch gegen eine Schule, in der nur kaltes Wissen vermittelt wird und die ein eiskaltes Gefängnis ist. Wenn man Hans Christian Andersens Märchen genauer liest, dann verfällt man nicht nur ihrer Poesie und ihrer süßen Traurigkeit, sondern auch ihrer subversiven Kraft. Es steckt so viel Traurigkeit, so viel Tod in den Geschichten von der Meerjungfrau, vom Mädchen mit den Schwefelhölzern, vom standhaften Zinnsoldaten. Aber auch eine gehörige Portion Wut.

Wo beides herkommt, das erfährt man aus der Biographie dieses Autors. Kaum ein Schriftsteller ist ja so aus einem biographischen Impuls heraus erklärt, durchleuchtet und dann auch wieder missverstanden worden wie Hans Christian Andersen. Natürlich ist der Kerl vor allem selber daran schuld. Er hat ja nicht nur in seinen großen autobiographischen Legenden, in seinen Romanen und auch in seinen Märchen dazu reichlich Material geliefert. Andersen hat sich vielmehr auf dem Altar der Subjektphilosophie geopfert: Seine magische Biographie erzählt vom einzelnen, der aus dem sozialen Elend erlöst werden kann, der sich mit Hilfe der Vorsehung selber erlöst, weil, wie es im Selbstportrait des Dichters als hässliche Ente heißt, wer in einem Schwanenei gelegen ist, alle schmerzlichen Erfahrungen überwindet. Das war zu Zeiten skandalös und utopisch genug, aber es schrieb sich auf fatale Weise ins Bürgertum ein, als Kindertraum von der Vorsehung und als Zuflucht des Kunst-Zaubers.

Hans Christian Andersen hat eine Emanzipations- und Erlösungsgeschichte gelebt und geschrieben, die so viel Erkenntnis wie Übermalung enthält; unter den romantischen Bastarden der Aufklärung ist er einer, von denen man am wenigsten weiß, ob man die literarische Selbstrettung bewundern oder vor dem untröstlichen Narzissmus einer schwer verwundeten Seele erschrecken soll. Dass Andersen ins Gedächtnis der Literatur vor allem als Märchendichter einging, hat nicht nur mit der überwältigenden Popularität dieser seiner Kunstgattung zu tun, die er selber anfänglich eher gering schätzte. Es ist selber eine Metapher. Nur als Märchen schrieb sich jene romantische Weltsicht in die Geschichte ein, die eine Klassengesellschaft sehen und zugleich nicht sehen durfte, die gegen die Herrschaft protestierte und zugleich dankbar für jede Zuwendung schien, die von der Aufklärung für die niederen Stände und die verlorenen Subjekte vor allem die Techniken der Zurichtung entnahm. Die Wiederverzauberung der Welt wurde durch Andersen ein strategisches Programm.

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Seine Lebensgeschichte ist ja nur zu bekannt, die interessanterweise literarisch ihren Weg durch Deutschland nehmen musste, bevor man sie auch in seinem Heimatland Dänemark akzeptieren konnte. Märchen meines Lebens, geschrieben zur Zeit, da der Dichter in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner internationalen Anerkennung angelangt war, schildert, bei aller persönlichen Verschleierung, ziemlich genau das Leben in den niederen Schichten der dänischen Provinz zur Zeit der ersten Industrialisierung. Armut, schräge Familienromane, Alkoholismus, Unwissenheit und Aberglaube, ein Leben in den drohenden Schatten von Kirche, Zuchthaus, Schule, Fabrik und Irrenhaus. Es ist eigentlich nichts anderes als die Geschichte vom Überleben der menschlichen Deformationen, die man damals Erziehung nannte.

Neben der sozialen gibt es jedenfalls eine deutliche sexuelle Komponente in der inneren Traumatalogie von Andersens Werk. Muss er sich nicht später von der verschlampten Frau seines Schullehrers, in dessen Familie er lebt, sagen lassen: „Sie sind, scheint´s, gar kein richtiger Mann“, als er ihren Verführungsversuchen widersteht? Die Beziehung zur Tochter seines Gönners Wulff blieb „brüderlich“, alle seine Liebesgeschichten sind denkbar konsequent aufs Unglückliche hin konstruiert. Das Märchen dieses Lebens hat die ersehnte menschliche, künstlerische und soziale Anerkennung zum guten Ende, das Glück der Liebe gehört nicht dazu.

Andersen wächst auf im Elend des armseligen Alltags der fünischen Abgeschiedenheit, und in der großmütterlichen Traumwelt, zusammengesetzt aus alten Märchen und hemmungslos größenwahnsinnigen Flunkereien über eine Familiengeschichte, in der es von adeligen Fräuleins wimmelte, die mit Schauspielern durchgebrannt wären, oder von um ihr Erbe betrogenen Grundbesitzern. In Wirklichkeit war das Milieu von der rapiden Verelendung des kleinen Handwerks geprägt, das noch konsequenter als der Bauernstand von den sozialen Umbauprozessen abgekoppelt wurde. Und dieser Stand war nicht in der Lage, sich zum Widerständigen, gar Revolutionären zu bilden, die Sehnsucht ging stattdessen zurück, ins Dunkle. Diese Verelendung ist nicht bloß materieller Mangel, es ist vor allem auch eine Form der moralischen Verelendung. Instabile Familien, erbarmungslos ausgestoßene und verlorene Menschen noch hier, der Suff (an dem seine Mutter zugrunde gehen wird), der Wahn (der Großvater, der in grotesker Verkleidung brüllend durch die Straßen irrt, das Irrenhaus, an dessen Mauern die Großmutter den Garten bestellt, und aus dem die Schreie der „Tollen“ klingen), und die Unerfüllbarkeit aller Träume (der Vater Andersens, der in Napoleonischer Begeisterung oder nur unstillbarem Fluchtdrang zu den Soldaten gehen will, und sich doch nur die tödliche Krankheit holt). Wenn man Andersens Familie beschreiben möchte, dann vermutlich in verschiedensten Arten, über der Ausweglosigkeit der Situation den Verstand zu verlieren. Wenn man ihre Klasse beschreiben will, dann ist es eine, die keinen Platz mehr hat, nicht einmal unten.

Beiden zu entkommen muss Hans Christian Andersen das fünische Odense, den topographischen Ort dieser Gefangenschaft verlassen, wo womöglich noch die alten Lebensformen mit der neuen Industriegesellschaft zu synchronisiert waren, wo aber vor allem das alte Elend dem neuen von Ausbeutung und Gewalt sich verband. Nach Kopenhagen gelangte er als blinder Passagier in einer Postkutsche, im Alter von 14 Jahren. Sein träumerisches Ziel war es, beim Theater Karriere zu machen, zuerst als Schauspieler, Sänger oder Balletttänzer. Daraus wurde nichts. Doch immer fand Andersen einige Gönner und Freunde, auch wenn er in verhältnismäßig elenden Umständen lebte. Und immer wieder musste er „Erziehungsprozesse“ dafür durchlaufen. Die Gesellschaft der aufgeklärten Stadt verlangte von dem so sonderbaren wie offensichtlich gewinnenden Ankömmling für jede noch so kleine Zuwendung das Recht auf Zurichtung und Demütigung. Im strikten Bürgertum war die Aufklärung nur noch als sadistische Erziehungsgeilheit angekommen, die sich immer neue Instanzen schuf. Die furchtbarste mag die Lateinschule gewesen sein, wo Andersen immer wieder an den Rand des Selbstmords gedrängt wurde und sich offenbar fürs Leben neurotisch infizierte: „wie ein wilder Vogel, der in einen Käfig gesteckt ist“, fühlte er sich (und die Metapher wird beständig, in den Märchen wie auch in seinen „realistischen“ Romanen, wieder aufscheinen). Das sadistische Spiel der Zurichtung, durch das sich Andersen offensichtlich weitere psychische Schäden holte, Hypochondrie und manische Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Zurückweisung, um nur die harmlosesten zu nennen, machte aus ihm den Bürger, der auch in dieser Klasse nicht zu Hause war. Zu Zeiten war ihm hier sogar die letzte Zuflucht, das Dichten, verboten.

Glücklichere Zeiten folgten; nennenswerter Erfolg stellte sich aber auch für den dramatischen Dichter nicht ein, vielleicht gerade, weil er es seinem Publikum so leicht machen wollte, weil er danach suchte, dazuzugehören. Aber man achtete ihn, auch in den höheren Kreisen, als liebenswerten Erzähler und gebildeten Gesprächspartner: Hans Christian Andersen wurde zum sozialen Nomaden; Ersatzfamilien und Ersatzstände gaben ihm Wert, aber keine Geschichte. In einigen seiner Theaterstücke, wie zum Beispiel Der Mulatte hat Andersen seinen Status als Paria unter den Mächtigen dezent aber kräftig beschrieben. In die Schilderung von Dankbarkeit und Fremdheit mischen sich da auch wenig schmeichelhafte Beobachtungen. Und wie anders als durch die Liebe hätte Hans Christian Andersen zum wirklichen Mitglied der neuen Familien und der neuen Klasse werden können? Das sexuelle Trauma ließ die Lösung des sozialen nicht zu, und umgekehrt. Die Lösung war der öffentliche Ruhm, der Genuss der höchsten Gastfreundschaften. Die Lösung war die Kunst selber, eine Sprache, wiegend und fordernd, die die eigene Existenz in tausend Spiegelungen, tausend Maskierungen wiedergab.

In seinen Märchen mag sich Hans Christian Andersen zwei Wünsche erfüllen: Den vom sozialen Aufstieg, vom endlichen Erkennen seiner Auserwähltheit, und den Traum von der (ausgesprochen komplizierten) „Herstellung“ der richtigen Frau. Das „Däumelinchen“, das aus einer Tulpe wächst, wird von den Falschen begehrt, von der hässlichen Kröte für ihren Sohn, vom Maikäfer und vom Maulwurf, bis sie endlich den Blumenprinzen findet (der ihr erst den Namen gibt: Maja), der genau so weit entfernt vom Schmutz des realen Lebens ist. Und in Der Reisekamerad muss die Geliebte gar von einer Hexe in die Braut verwandelt werden (und die Verwandlung in der Brautnacht erscheint als eines der merkwürdigsten Deflorationsrituale der Märchengeschichte – wie überhaupt dieses Märchen vom Reisekameraden am meisten Ähnlichkeit mit einem wilden Traum hat). Die Liebe ist eine Verschwörung gegen die Wirklichkeit. Oder: Die Wirklichkeit ist eine Verschwörung gegen die Liebe.

An den Wert seiner Märchenhefte glaubte Andersen zunächst selber nicht so recht. Zuerst ging es um Nachdichtungen von überlieferten Märchen, dann erfand er mit wachsendem Enthusiasmus selbst. Märchen zu schreiben war in dieser Zeit literarisch in Mode, und seine Moral war an der Oberfläche durchaus dieselbe, die Dutzende von anderen Märchen-Dichtern auch vermittelten. Was Andersen zunächst unterschied war das direkte biographische Herzblut, das er in seine Geschichten steckte; die Wiederverzauberung der Welt ging nicht auf der Ebene der Zeichen und der Narrative allein vor sich. Andersen kehrte nicht zu den Abstraktionen und Übertreibungen des Volksmärchens in die Vormoderne zurück, sondern er machte die Erzählweise nutzbar für das Heimliche und Unheimliche des neuen Menschen. Das Spielzeug wurde lebendig, ein standhafter Zinnsoldat zum Inbegriff des unglücklich Liebenden, und je mehr der Autor seine eigenen Phantasien in diesem Format verwirklichte, desto mehr verwandelten sich noch die phantastischsten Wesen in deutliche Abbilder bürgerlicher Individuen. Und damit blieb auch die abstrakte Moral bald hinter ihm; das Ende eines Andersen-Märchens stellt in der Regel die Ordnung der Welt nicht wieder her.

Andersen führte das kollektive Erzählen in einem vergleichsweise unverdächtigen Genre zu einem Selbstausdruck des bürgerlichen Subjekts, das in der „normalen“ Literatur so noch nicht möglich war. Und er machte nicht zuletzt aus einer Form, die von der Grausamkeit der Welt erzählte (und deren Erzählung schon im Happy End verblasste) eine Wunscherfüllungsmaschine und, was später häufig übertüncht wurde, eine soziale Trauermaschine. Das „Und sie lebten glücklich bis an ihrer Tage Ende“ ist bei Andersen nicht garantiert, stattdessen sind viele seiner Märchengeschichten, wenn auch nicht immer so deutlich wie im Mädchen mit den Schwefelhölzern, auch als Todesträume lesbar. Während die Märchen der meisten seiner romantischen Kollegen zurück, in eine unschuldig grausame vormoderne Welt der Magie und der Bewährungen führte, beschrieb Andersen seine Phantasien als Vorwärtsdrang. Hans Christian Andersen ist das missing link zwischen dem Volksmärchen und dem modernen Sozialmärchen. Und in seiner Biographie, auch das durchaus eine Modernisierung, wird die Erlösung verwandelt in die soziale Karriere. Das Märchen seines Lebens ist die Aufnahme durch die hohen Kreise; und die Erfindung des Schwaneneis im bürgerlichen Familienroman wird ab nun ein Überlebensmittel, bis zu Thomas Mann und Sigmund Freud. Hans Christian Andersen teilte dem bürgerlichen Publikum den Wechsel von Scheitern und Größenwahn in so kleiner Münze mit, dass man es sich bis in den Alltag und bis in die Kinderstuben zur Lebensstrategie formen durfte: Standhafter Zinnsoldat, Meerjungfrau, des Kaisers neue Kleider und natürlich das hässliche Entlein wurden zu gebräuchlichen Rollen- und Situationsbeschreibungen in der bürgerlichen Sozialisation.

Die soziale Metapher war dabei auch für die Zeitgenossen leicht zu dechiffrieren: Der wahre Adel eines Menschen kommt weder von seiner Herkunft noch von seinen Insignien (wie man an des Kaisers neuen Kleidern sieht), sondern aus dem Inneren des Menschen, seiner Empfindsamkeit (wie sich in Die Prinzessin auf der Erbse zeigt) und seiner Klugheit (mit der der kleine Klaus den großen Klaus überwindet, der Prolet den Grundbesitzer). So leidet „Klodhans“ (Tölpelhans) darunter, dass er weder das Lateinlexikon auswendig zu lernen versteht, noch die Gesetze der Innung (wie seine Brüder), also weder Wissen noch Handwerk besitzt, und in der Konkurrenz um die schöne Prinzessin bekommt er kein Pferd, sondern muss einen Geißbock nehmen. Was ihn rettet und erhöht, das ist seine Neugier, sein Blick: er allein sieht die Krähe, den Holzschuh und gar den Straßendreck, die sich als unentbehrliche Hilfsmittel erweisen. Was Andersens Märchen immer noch subversiv macht, das ist eben der Mangel an Glauben an die bürgerlichen Instanzen der Erziehung, „das Leben“ selber eingeschlossen. Am Ende erhält übrigen auch Klodhans die ersehnte weibliche Zuwendung: „Das war fein gemacht“, sagt die Prinzessin, eher von der sozialen Effizienz als von sexueller Attraktion fasziniert.

In der einen Hälfte der Andersen-Märchen geht es um einen wundersamen Aufstieg des Wesens (scheinbar) niederer Herkunft. Der kleine Klaus bezwingt den großen Klaus noch mit einer Mischung aus Intelligenz und schierer Brutalität. Das Feuerzeug erhebt seinen Besitzer mit seinen magischen Kräften über alle Schichten, und während es das tut, ersetzt es das Machtmittel Geld durch ein noch probateres: die Angst. Aber im Hässlichen Entlein wird schon jene Vorbestimmung angenommen (und Andersen vergisst hier zu fragen, was mit seinem kleinen Helden geworden wäre, wenn er nicht in Wirklichkeit ein Schwan gewesen wäre), die als neue Metaphysik des Subjekts durch seine Werke geistert: Das Subjekt, jenes hässliche Entlein, das von allen verlacht wird und an allen Aufgaben scheitert, die den anderen so einfach erscheinen, trägt die Erhöhung schon in sich. „Es macht nichts, dass man in einem Entenhof geboren wurde, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat“! Wieviel gepeinigte Bürgerseelen zogen sich seitdem an diesem Sinnbild der kommenden Verwandlung aus den Niederungen des mangelnden Selbstbewusstseins (und den Schrecken der pädagogischen Zurichtung). Das Märchen vom hässlichen Entlein, das dazu bestimmt ist, seiner wahren Natur nach Schwan zu sein, ist nichts anderes als die Seele, was dem neuen Bürgertum Macht, Sexualität und Ökonomie zusammen bringen soll: Karriere.

Das große Projekt das von Andersen ausging war die Versöhnung von Zauber und Kapital, von Karriere und Glück, aber auch die von Vorsehung und Subjekt. Auch darin revoltiert der zweite Impuls in Andersens Werk: die Dankbarkeit für die vollbrachte Verwandlung und die Anklage gegen eine Gesellschaft, die die Verwandlung des Entleins in den Schwan eben nicht zulässt. Andersen beschreibt das Subjekt als außengelenkt aber mit unverlierbarem inneren Wert. Auch aus diesem Grund müssen die Andersen-Märchen so nachhaltig durch die Romane von Thomas Mann spuken. In einer Bürgerwelt, in der man von früh an die Verschlüsselung gewöhnt wird, und in der der Schmerz des Verzichts im Narrativ verborgen und aufgehoben werden muss. Der große Bürgerdichter selbst nannte den standhaften Zinnsoldaten das „Symbol meines Lebens“. Diese Kreisbewegung des Unvollendeten durch das niedrige Leben, der seine wahre Liebe bis in den Hitzetod nicht erfüllen kann. Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, bei Hans Christian Andersen zu heulen.

„Das Leben ist das schönste Märchen, denn darin kommen wir selber vor“. Das klingt auf den ersten Blick wie das Statement eines gütigen Märchenonkels, der weiß Gott genug vom schlechten Leben gesehen hat, um an seiner Verbesserung wenigstens im Text zu arbeiten. Aber auf den zweiten sagt dieser Trostsatz zu viel über die Tücke des Subjekts im Text der Vorbestimmung aus. Das Schwanenei ist ein dunkler, einsamer Ort, der Zauber wird das Kapital nicht bezwingen, und das Subjekt kann nicht siegen, wo die Klasse verliert.

Autor: Georg Seesslen