Jenseits der Genres.
Anne Imhof gewinnt den Preis der Berliner Nationalgalerie. Die zeitgenössische Kunst löst die Grenzen auf.
Befehle über den Kopfhörer, Klangberieselung im Minimalenvironment, Geistertänze mit Buttermilch und Schaukeln auf Gebetsteppichen. „Kunst gibt es nur für und durch den anderen‘‘, Jean-Paul Sartres Weisheit wird dieser Tage in Berlins Hamburger Bahnhof auf eine einsame Spitze getrieben.
Zu sehen sind dort die vier Positionen, die für die Endrunde des „Preises der Nationalgalerie“ ausgewählt waren. Mit der 2000 ins Leben gerufenen Auszeichnung werden alle zwei Jahre mit einigem Aufwand innovative Ansätze junger Künstler unter 40 Jahren ausgezeichnet.
Eine Art deutscher „Turner-Prize“ wurde der Preis zwar nie. Doch was hier den zweistufigen Filter von rund hundert ExpertInnen in zwei Jurys passiert hat, sagt schon etwas aus über das abgegriffene Label „zeitgenössisch“. Und den überschießenden Marktlaunen der Berliner „Art Week“ in der vergangenen Woche hielt der Preis ein strenges, unparteiisches Qualitätsideal entgegen.
Man kann die dort präsentierten Positionen goutieren, man gerät sogar in Gefahr, sie zu hassen. Zumindest eröffnen sie „auf eindrückliche Weise Kunst und Kino neue Perspektiven“ – so haben die Veranstalter die Kriterien für die Auswahl definiert. Selten ist „Interaktion“ mit dem Werk so sehr zum integralen Bestandteil von Kunst geworden, selten fließen die Genres derart ineinander, verschmelzen Objekt, Rezeption und Kontext der Arbeit zu etwas Drittem, nahezu Immateriellen.
Am weitesten geht dabei Christian Falsnaes. Ob man nun den Anweisungen folgt, die der 1980 in Kopenhagen geborene Künstler einem gibt, wenn man ihm ins Angesicht schaut. Oder ob man ihnen folgt, wenn man in einen abgedunkelten Raum betritt und Teil einer Gruppen-„Performance“ wird. Die Typenbezeichnung ist fast zu schwach für die Versuchsanordnung, mit der Falsnaes die Dynamik von Spiel, Gruppe und Macht auslotet.
Vom Bildschirm an der Wand brüllen einen Aufforderungen entgegen, dazu kommen die Anweisungen eines Performers. Instinktiv wehrt man sich gegen das oktroyierte, optisch intensivierte Rollenspiel. „Eindrücklich“ ist noch untertrieben für das Moment der Unterwerfung, das in Falsnaes‘ Arbeit steckt. Gute Kunst macht aber aus, dass sie an die Grenzen geht. Und Falsnaes geht bis an diejenige, in der Neugier in Aggression umschlägt.
Auch bei Florian Hecker, 1975 geboren, gehört der Betrachter ins Set. Denn in seinen Räumen wird der kaum identifizierbare Sound, der aus den von der Decke hängenden Lautsprechern rieselt, von den Besuchern mit jedem Schritt neu „gemischt“. Um das synthetische Erlebnis dieser auditiven Konzeptkunst mit Minimal-Effekt perfekt zu machen wird er von den, mit Loden und Aluminiumflächen bestückten Wänden immer anders reflektiert.
Ohne Zuschauer geht es auch bei dem Körpertheater nicht, das Anne Imhof, Jahrgang 1978, inszeniert. Bei der Aufführung, eine Kombination ihrer früheren Arbeiten „Deal“ und „Rage“, bewegen sich Darsteller geisterhaft durch den Raum. Zwischen Betonbassins, über denen Boxersäcke schweben, und mit Graffiti überzogenen Pissoirs transportieren sie Buttermilch hin- und her. Schildkröten schleichen durch den Raum. Langsam verliert der Betrachter sein Zeitgefühl.
Die spannendste Position bietet das eurasische Kollektiv „Slavs and Tatars“. Die 2006 gegründete Gruppe war auf der letzten Berlin-Biennale 2014 bekannt geworden. Im Garten des Hauses am Waldsee tönte damals aus riesigen Lautsprechern zwischen zwei Grashügeln der elektronisch verzerrte, muslimische Gebetsruf in einer türkischen Fassung aus der Atatürk-Ära.
Dieses Jahr sind die Spezialisten für das produktive Cross-Over von Objekten, Historienbildern und Performance mit einem Gebetsstand präsent. „Qit Qat Qlub“ ist der verheißungsvolle Titel des Ensembles, in dessen Mitte eine aufgefaltete, mit Perserteppichen belegte Installation steht, die aussieht wie ein „Fliegender Teppich“.
Das demonstriert die – durchaus erotisch gemeinte – Lust des Künstlerduos am semantischen Doppelwert von Sprache. Auch auf den riesigen, wie Schaukeln von der Decke hängenden Gebetsketten verspricht der interkulturelle Dialog, um den es Payam Sharifi und Kasia Korczak geht, zu einer Swinger-Übung statt zum Dschihad zu werden.
Dass die letzte Jury vergangenen Freitag den Preis Anne Imhof zuerkannte, spricht für einen gewissen Nachholbedarf in Sachen Förderung junger Performance-Kunst, die synästhetisch und jenseits der Genres arbeitet, so wie ihre Arbeit zwischen Film, Theater und Skulptur mäandert.
Die 50.000 Euro Preisgeld früherer Jahre sind inzwischen gestrichen. Dafür winkt der Preisträgerin eine, langfristig womöglich lukrativere, Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof. Im nächsten Jahr werden wir uns in der mystischen Welt der Anne Imhof dann also final entgrenzen können.
Ingo Arend
AUSSTELLUNG
Preis der Nationalgalerie 2015. Hamburger Bahnhof.
Noch bis zum 17.1.2016
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