Endlich angekommen im 21. Jahrhundert
Straßenschlachten, Mai-Demonstrationen, die Enthüllung des Republik-Denkmals. In Gülsün Karamustafas Videoarbeit „Memory of a square“ glaubt man, Szenen aus der jüngsten Vergangenheit zu sehen. Dabei ist die Arbeit aus dem Jahr 2005. Auf einer Leinwand flimmern Bilder aus der Geschichte des Taksim-Platzes im Herzen Istanbuls. Auf einer anderen sieht man Szenen aus dem Alltagsleben einer Familie. Der Taksim war immer die nationale Ikone, in der sich kollektive und individuelle Erinnerung vermischen.
Dass die Unruhen der letzten Wochen wieder genau dort ausbrachen, hat die Künstlerin nicht überrascht. Die zierliche Frau mit der dunkelbraunen Mähne und der schwarzen Hornbrille sitzt in drückender Hitze in ihrem Atelier in Balat, einem Kiez des Istanbuler Stadtteils Fatih am Goldenen Horn. „Der Taksim ist voller Geschichte. Erdogan möchte, dass er steril wird“. Und bekennt sich ohne Umschweife als Unterstützerin der Protestierenden vom Gezi-Park. „Ich habe mich sofort heimisch darin gefühlt“ erklärt sie ihre spontane Sympathie für die über Nacht entstandene Bewegung.
Überraschend ist das nicht. Denn die Studentin Karamustafa, Jahrgang 1946, saß 1971 selbst einige Monate wegen politischer Umtriebe im Gefängnis, ebenso wie ihr Mann. Politisch unbotmäßig war ihre ganze Familie. Schon ihr Vater, ein linker Intellektueller, der beim Türkischen Radio arbeitete und ihr kommunistischer Onkel wanderten hinter Gitter. 16 Jahre behielt der Staat den Reisepass von Gülsün Karamustafa ein. Erst 1986 durfte sie wieder ins Ausland reisen.
In den Siebzigern begann sie an der Istanbuler Kunstakademie mit Gouachen und Wasserfarbe zu arbeiten. Mühsamkämpfte sie sich damals von den Dogmen der Moderne frei: Malerei und Abstraktion. Mit Installationen und Arbeiten wie „Memory of a Square“ wurde sie zu Beginn der neunziger Jahre schließlich zur gefeierten Pionierin der kritischen Gegenwartskunst in der Türkei. Seitdem stehen ihre Werke in den großen Museen der Welt.
Fatih ist das krasse Gegenteil zum Touristenmagnet Beyoglu mit seiner pulsierenden Konsum- und Flaniermeile und den schicken Cafés. In dem armen, religiös geprägten Stadtteil stehen windschiefe alte Holzhäuser. Schwarz verschleierte Frauen behüten Kinderscharen, beäugen skeptisch die Fremden. Ausgerechnet hier hat sich die atheistische Avantgarde-Künstlerin vor ein paar Jahren ein schmales, vierstöckiges Gemäuer zur Arbeitswohnung umgebaut
Vom Dachbalkon kann man bis hinauf zum Taksim auf der europäischen Seite schauen. Vom ersten Stock sieht man auf eine enge Gasse, die hinauf nach Fener führt. Zwischen die Häuser sind Wäscheleinen gespannt. Ein Filmteam dreht in der pittoresken Kulisse. „Das sind Erdogans Söhne“ scherzt Karamustafa mit Blick auf ihre Nachbarn. Immer wenn sie nach den Zusammenstößen am Taksim hierher kam, seien die Fenster mit türkischen Flaggen verhängt gewesen, erzählt sie. „Aber diese einfachen Leute sind mir lieber als Atatürks Söhne“, sagt die 67-Jährige lachend.
Mit der alten Militärparole versuchten die bedeutungslos gewordenen Republikaner auf dem Feuer der Gezi-Proteste ihr kemalistisches Süppchen zu kochen. Für die türkische Intelligenz sind sie längst keine Alternative mehr. Wir entkorken eine Flasche Weißwein und trinken ein Glas auf den regierenden Abstinenzler, der Ayran zum türkischen Nationalgetränk erklärt hat, jetzt seine Macht aber mit einer anderen milchigen Reizflüssigkeit verteidigen muss: Tränengas
Karamustafa fühlt sich bei der Gezi-Bewegung an die türkischen `68-er erinnert. Doch den Unterschied zu damals erklärt sie so: „Wir waren gegen etwas. Und diese jungen Leute wollen alles teilen: Den Computer, ihr letztes T-Shirt. Wir waren eingeschlossen im eigenen Land. Und sie sind international vernetzt“
Trotz ihres schweren Asthmas besuchte Karamustafa regelmäßig die Protestler. Immer noch begeistert sie sich dafür, dass die Gezi-Leute keine nationalistischen Parolen geduldet hätten, schwärmt von ihrer Toleranz und der kreativen Atmosphäre im Park. „Zum ersten Mal hatte ich wirklich das Gefühl, ich lebe im 21. Jahrhundert“.
Zur Euphorie-Fraktion gehört auch Halil Altindere. Der Multimedia- und Aktionskünstler, Jahrgang 1971, ist die Leitfigur der politischen Kunst in der Türkei. Kaum einer hat so nachhaltig an Tabu-Themen der Türkei gerührt wie der kurdische Künstler. 1998 erinnerte er mit der fiktiven Briefmarken-Serie „Welcome to the land of the lost“ an 12 junge Aktivisten, die nach dem Militärputsch 1980 spurlos verschwanden. 2005 stand er selbst wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht.
Wir treffen uns in der Galerie Pilot. Vor ein paar Tagen zogen noch dichte Tränengaswolken durch die steile Sirasilveler-Straße, die durch den Bohème-Kiez Cihangir führt. Der Taksim ist nur einen Katzensprung entfernt. Den einstigen Nachtclub im Tiefgeschoß eines Einkaufshauses hat Altindere eigenhändig zu seiner eigenen Galerie ausgebaut, die er mit seiner Frau Azra Tüzünoglu führt. Gerade läuft eine Ausstellung seines Generationsgenossen Cengiz Tekin.
Ganz will ich Altindere nicht abnehmen, dass der Aufstand vom Gezi-Park „ein Schock für uns alle“ war, wie er sagt. Wir sitzen auf dem Sofa und schauen uns seine, schon im Februar entstandene Arbeit „Wonderland“ an. In dem Video streifen drei junge Rapper durch das vor kurzem ebenfalls über Nacht abgerissene Istanbuler Viertel Sulukule. 1000 Jahre lebten hier Istanbuls Roma.
„They’re at the gates/to knock down our neighbourhood/today it’s Sulukule/tomorrow Balat, Okmeydanı/Tarlabaşı, Gezi Parkı/time’s running out” singt das wütende Trio prophetisch. Zum Schluss taumelt ein lichterloh brennender Polizist durch das marode Viertel. Altinderes Video zeigt die Kunst als Seismograph: Ein Hauch von Rebellion lag schon vor den Gezi-Kämpfen in der Luft.
An der Gezi-Bewegung fasziniert den Künstler aber gerade das Unmartialische und Antiautoritäre: „Mit Humor und Ironie hat sie die alten religiösen und politischen Grenzen überwunden”. Altindere begeistert sich: „Es war eine Revolution ohne Revolutionäre. Sie haben die Revolution gemacht, die unsere Väter und Onkel nicht machen konnten”.
Wenn es in dieser Bewegung „Helden” gab, sieht Altindere sie unter den Frauen, Transvestiten, Schwulen und Lesben: „Sie hatten eine unglaubliche Energie”. Und fügt hinzu: „Vielleicht haben wir in diesem Land endlich einmal gelernt, die ‘Identität des Anderen’ zu akzeptieren”.
In einem Interview hatte der Künstler einmal seine Ästhetik mit den Worten verteidigt: „Das Leben ist dermaßen stark, dass Du dich dem als Künstler nicht entziehen kannst“. Wie recht er damit hatte, zeigte sich, als er Ende Mai nach den ersten Nachrichten aus der Heimat der Venedig-Biennale sofort den Rücken und nach Istanbul zurückkehrte.
Erst war er erschüttert, als er am Taksim stand: „Das war wie Ground Zero“. Doch schnell kam die Begeisterung, auch über einen typischen Rollenwechsel: „Im Gezi-Park war das Leben selbst zur Kunst geworden. Für drei Wochen war die klassische Kunst suspendiert. Man musste neidisch werden über die tollen Ideen der vielen anonymen Künstler“.
Die Euphorie über das Gezi-Erlebnis ist Karamustafa und Altindere noch immer anzumerken. Doch wie soll es jetzt weitergehen? Gegen eine Gezi-Partei, die den historischen Moment in zähe politische Prozeduren übersetzt, hätten beide nichts einzuwenden. Aber „vielleicht entsteht ja auch etwas, was wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können“ antwortet Gülsün Karamustafa auf meine Frage nach den Strategien
Stattdessen verweist sie auf die Foren in den Parks im ganzen Land, auf denen allabendlich heiß diskutiert wird. Sie verspricht sich mehr von der „leisen Form, die Dinge zu besprechen“. Angst vor der Hexenjagd auf Künstler und Intellektuelle, die jetzt alle befürchten, hat sie nicht. „Ich will einfach keine Angst mehr haben“, hat Karamustafa beschlossen.
Haben die Ereignisse die beiden Künstler auch ästhetisch inspiriert? Altindere schüttelt stumm den Kopf auf die Frage, als wir uns auf den Weg zum Gezi-Park machen. Karamustafa hat Hunderte Bilder aus dem Fernsehen und dem Internet gesammelt. „Ich weiß noch nicht genau, was ich damit machen werde“, sagt sie, als wir uns verabschieden. Doch bestimmt wird sie der „Memory of a Square“ ein paar entscheidende Episoden hinzufügen.
Text und Fotos: Ingo Arend
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