Die Hitze des Marktes und das Gute Brot von Istanbul: Vasif Kortun, Kurator und Direktor von „Salt-Istanbul“ im Gespräch mit Ingo Arend
Getidan: Herr Kortun, erinnern Sie sich noch an das Jahr 1992?
Vasif Kortun: Sehr gut sogar.
Sie kuratierten damals die Istanbul-Biennale. Sie gilt als ein Nukleus der neuen türkischen Kunstszene. Wie sah die damals aus?
Die Kunstszene damals war ganz anders konstruiert. Es gab damals nur sehr wenig Institutionen, die zeitgenössische Kunst unterstützt haben: Ein paar Galerien, eine Akademie für Bildende Künste, die Marmara-Kunsthochschule, die sich am Bauhaus orientierte. Trotzdem war es eine sehr gute Zeit. Ich kam aus Amerika, hatte meine Ausbildung beendet. Hüseyin Alptekin, der 2007 verstorbene Künstler war ganz wichtig. Ali Akay begann in der Stadt als Kurator und Soziologe zu arbeiten.
Heute ist Istanbul eine international gefragte Kunststadt. Wie erklären Sie sich diesen Aufstieg?
Ich bin nicht sicher, ob es wirklich so spezifisch mit Istanbul zu tun hat. Es hatte auch mit der generellen Situation nach 1989 zu tun. Die Mauer in Berlin war gefallen. Es war das Ende vieler Diktaturen. Überall begannen sich die Menschen mehr an der Gesellschaft als am Staat zu orientieren: in Russland, auf dem Balkan. Die Globalisierung hatte einen starken Einfluss.
Die Türkei öffnete sich auch…
Sie hatte sich schon seit einer ganzen Zeit geöffnet. Einige Staatsinstitutionen begannen, sich aufzulösen. Es war vieles in Bewegung damals. Es entstanden viele unabhängige Initiativen.
Ist denn die Akzeptanz für Kunst in der Gesellschaft derart gewachsen?
Sagen wir so: Kunst ist auf jeden Fall mehr zu einer Mainstream-Haltung geworden.
Hatte die damals die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit?
Seit der Gründung der Republik zu Beginn der 20er Jahre dominierte der klassische öffentliche Intellektuelle linkshumanistischer Prägung die türkische Öffentlichkeit…
Und in den 90ern änderte sich das?
Ja. Die Essentials der Republik wurden damals in Frage gestellt. Die Leute reisten mehr. In den 70er Jahren war das unmöglich. Es war die Zeit der Ölkrise, des Embargos nach der Zypern-Krise. In den Achtzigern begann sich das zu ändern. Zu Beginn der 90er Jahre kam dann René Block aus Deutschland, Beral Madra kuratierte 1994 ihre wichtige Ausstellung „Iskele“ in Deutschland. Es folgten die Staatsausstellungen für Kunst. Mit dem Beginn der Gespräche über die EU-Beitritt der Türkei normalisierte sich die Situation vollends. Die Kunstszene orientierte sich an feministischen, politisierten und postkolonialistischen Ansätzen, begann Fotografie, Installation und Alltagsgegenstände in ihre Arbeit zu integrieren. Das regte zur Veränderung und zum Dialog an. Es entstand ein neuer, international erfahrener Künstlertypus.
War die Szene damals nicht kritischer?
Ja. Damals hatten wir noch Zeit. Wir saßen oft zusammen und sagten Nein zu einer Menge von Dingen. Wir kehrten die Dinge von innen nach außen, stellten uns die Frage: Wo stehen wir in dieser Welt? Wir, das waren Künstler wie Bülent Cangar, Aydan Murtezaoglu oder der Autor Erden Kosova.
Zu was haben Sie am lautesten Nein gesagt?
Ich weiß nicht so genau, was Sie mit am lautesten meinen. Aber es gab unzählige Verweigerungen. Aber das erfolgreichste und organisierteste Nein war ganz klar der Widerstand gegen die Ausstellung „Urbane Realitäten: Fokus Istanbul“ 2005 im Berliner Martin Gropius-Bau. Massenweise zogen sich Künstler sich aus ihr zurück. Sie hatten genug von Exotik-Projekten.
Diese Expansion hat mit vielem zu tun. Ein Grund ist die Liquidität. Es ist mehr Geld im Spiel. Es klärten sich auch viele Institutionen selbst auf: Die Yapi KrediBank zum Beispiel, die Borusan Kunst-Galerie oder die Plattform der Garanti-Bank. Aber das beschränkte sich doch sehr auf die Szene und nicht auf eine weitere Öffentlichkeit.
In Westeuropa grassiert die Furcht vor einer Islamisierung der Türkei. Die Kopftuch-Politik, die Alkoholverbote. Wie bringt man diese gegenläufigen Tendenzen auf einen Nenner – mehr Kunst, aber auch mehr Repression?
Ich habe viele Probleme mit der Regierung. Aber der Islam ist ehrlich gesagt keins davon. Wir betrachten die Regierung hier nicht als eine islamische. Und das Wort Islamisierung beziehungsweise die Angst vor ihr, das ist kein hilfreicher Begriff, um die Komplexität dieses Landes zu erklären. Die Religion spielt überall in Europa eine immer größere Rolle: Von Polen über Ungarn bis nach Russland. Und bei dem Streit um das Kopftuch geht es um Freiheit. Sie wollen den Leuten erlauben, zu tragen, was sie wollen. Die Türkei hat einen religiösen Kern, der wieder einen ethischen Kern hat. Und der ist gar nicht so schlecht. Damit muss man hier leben. Meine Sorgen begännen erst, wenn jemand mein Alltagsleben zu regulieren begänne. Aber ich sehe nicht, dass das passiert.
Aber die Regierung begünstigt die religiösen Strömungen. Die Predigerschulen zum Beispiel…
Damit hat nicht die gegenwärtige Regierung angefangen. Sondern die des Premierministers Suleyman Demirel. Das resultiert schon aus der Zeit unmittelbar nach der Militärdiktatur. Natürlich unterstützt die Regierung solche Bestrebungen. Aber schauen Sie sich die Kulturszene dieser Stadt an. Keine der großen Institutionen, die hier entstanden sind, favorisiert irgendetwas Religiöses. Natürlich könnte der Staat mehr für die Kultur und den öffentlichen Sektor tun. Aber die Idee der alten Öffentlichkeit ist überall verschwunden. Die Niederlande eingeschlossen. Wir erleben ein seismisches historisches Beben. Wir leben in einem Zeitalter der Nachöffentlichkeit.
Was soll das heißen?
Wir leben in einer Ära Prä-1750 und Post-89. Das müssen wir realisieren. Die Öffentlichkeit und der öffentliche Sektor sind keine gegebenen Größen mehr. Wir müssen sie neu erfinden. Aber das ist kein lokales oder regionales Problem.
Und was kann die Kunst dazu beitragen?
Das ist eine komplizierte Diskussion. Aber die Nach-1750-Erfindung der Öffentlichkeit, oder präziser: Die Nach-Weltkrieg II-Politik der Unterstützung von Kunst und Kultur durch öffentliche Institutionen zusammen mit den sozialen Klassen, die diesen Kontext stützen, hat sich in Westeuropa und den Vereinigten Staaten aufgelöst. Andere Länder mögen andere Erfahrungen haben. In dem globalisierten Kontext von heute sieht es aber überall ähnlich aus. Als Institutionen, die diese Probleme ernst nehmen, gehen wir jetzt in unterschiedliche Formen von Allianzen hinein. Wir sind an einem Punkt, wo keine einzelne Institution, egal welcher Größenordnung, allein agieren kann.
Zurück zur Türkei. Sie sehen auch nicht die Gefahr eines autoritären Regimes? Jetzt will die AKP-Regierung sogar ein Präsidialregime einführen.
Ich hasse es, zugeben zu müssen, dass in der Türkei mehr Demokratie existiert als jemals zuvor: Was Institutionen anbetrifft, was das Recht anbetrifft, seine Rechte vor Gericht zu verfolgen, das Unterrichten der kurdischen Sprache ist erlaubt. Wir bewegen uns nach vorne. Die Abwesenheit von Gegenmacht hat etwas damit zu tun, dass die Mehrheit im Land sehr glücklich mit dieser Regierung ist. Aus dieser Haltung bezieht die Regierung ihre Arroganz und ihre Stärke.
Oppositionelle kritisieren die willkürlichen Verhaftungen. Ist die Türkei eine heimliche Diktatur?
Es gibt nichts, was nicht besser gemacht oder geändert werden könnte. Aber es ist nicht die Zeit für generelle Opposition. Jedes Problem, jedes Thema muss einzeln ausgehandelt werden. Es geht um Allianzen und Oppositionen gleichzeitig. Es gibt gute Politiken der Regierung. Wir haben zum Beispiel keine genetisch manipulierte Nahrung in der Türkei. Neuerdings gibt es gutes Brot in Istanbul, weil die städtischen Bäckereien organisches Brot herstellen. Die Fischereipolitik. Da stehe ich auf Seiten der Regierung. Aber was sie mit unserem Wasser machen und den Staudämmen in Südostanatolien, das ist schlecht. Man muss die guten Sachen unterstützen und die schlechten bekämpfen.
Die Verhaftung von immer Journalisten zum Beispiel? Rund 90 sitzen in der Türkei immer noch in Haft.
Wenigstens ist die Türkei an einer Front die Nummer Eins in der Welt. Die Unterdrückung abweichender Stimmen mit allen und allen möglichen Mitteln war der eherne Standard dieses Landes für eine sehr lange Zeit. Das hat etwas Erstickendes und blockiert enorme Potentiale.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem ausgeweiteten Kunstsystem der Türkei und deren Regionalmachtambitionen?
Man kann diese Dinge nicht voneinander trennen. Aber der imperiale Reflex der Politik und der Reflex der Kunstszene – das sind zwei verschiedene Dinge. Wir haben mit vielen Künstlern der Region kooperiert, bevor die Regierung sich dieser Politik zuwandte. Dabei habe ich viel über die arabische Moderne gelernt. Ich weigere mich im Übrigen auch, alles mit der Kategorie Türkei zu diskutieren. So schauen wir nicht auf die Welt. Unser Haus hier, Salt, ist eine internationale Institution, based in Istanbul.
Zumindest die Istanbuler Kunstmesse ist von einer Expansionssucht getrieben.
Das stimmt. Der Markt nimmt überhand. Auf die eine oder andere Seite sind wir sogar Teil davon, auch wenn uns das vielleicht nicht gefällt. Aber wir versuchen, dem entgegenzuwirken. Indem wir zum Beispiel mit nichtkommerziellen Institutionen, Künstlern und mit Initiativen arbeiten. Unsere Archive für die Öffentlichkeit öffnen. Trotzdem sind wir nicht das Korrektiv des Marktes. Das hat sich entkoppelt. Das ist eine neue Situation. Der Markt hat seine Logik. Er ist vollgestopft mit überteuertem Mist. Und es gibt die Logik der guten Sachen.
Wie sehen Künstler und Intellektuellen diese neue Politik?
Wenn ich außerhalb dieses Systems wäre, wäre ich extrem misstrauisch, was da vorgeht. Was sich im Moment abspielt, das ist wie der Unterschied zwischen Martha Rosler und Damien Hirst.
Meine Beobachtung bei der neuen Kunstszene ist: Es ist plötzlich sehr viel mehr Geld im Spiel.
Ja. Natürlich. Aber ich bin auch etwas stolz auf diese Situation. Denn es sind viele gute Leute dabei. In unserer historischen DAN gibt es eine Geschichte der Großzügigkeit. Natürlich gibt es da einen muslimischen Hintergrund. Da geht es um so etwas wie: Den Reichtum teilen.
Ein Bild des türkischen Künstlers Halil Altindere heißt „Portrait of a Dealer“. Es zeigt den Künstler, der dem Galeristen Baras ein Werk über den Kopf haut, das einen Rekordpreis auf einer Auktion erzielt hat. Das ist eine Kritik an der Kapitalisierung der Szene …
Das ist fast eine liebevolle Kritik. Denn diese Kapitalisierung basiert auf einem Konsens. Der Konsens zwischen dem Dealer, der erlaubt hat, dass ihm das passiert. Und dem Künstler. Also betrachten Sie das mehr als einen Kommentar als eine Kritik.
Ist die Kunst inzwischen auch in der Türkei das liebste Spielzeug der Bourgeoisie?
Das ist auf jeden Fall so. Man hofft natürlich trotzdem, dass sie durch diesen Prozess lernt. Dass die Dummen wegbleiben und einige etwas lernen, was besser für ihr Leben ist wie auch für das Leben anderer Menschen.
Aus dem Englischen von Ingo Arend
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