Die Ausstellung „Abschied vom Ikarus“ schlägt ein neues Kapitel im deutsch-deutschen Bilderstreit auf. Leider hat sie nur ein schwaches Echo gefunden
War die DDR eine gescheiterte Utopie? Oder startete sie schon als totgeborene Diktatur? Für den Zeithistoriker mag die Sache klar sein. Spätestens als die Gruppe Ulbricht Ende April 1945 aus Moskau nach Berlin zurückkehrt, platzt der Traum vom antifaschistisch-demokratischen Neuaufbau. Von da an führten alle Wege nach Bautzen oder zum Schießbefehl.
Wenn die Macher der jüngsten Ausstellung zur DDR-Kunst in Weimars Neuem Museum ihre Schau „Abschied vom Ikarus. Bildwelten in der DDR“ nennen, wollen sie nicht die DDR nachträglich zu dem utopischen Experiment verklären, dass sie vielleicht nie war. Indem sie auf den Mythos von dem Jüngling zurückgreifen, der nur deshalb abstürzte, weil er übermütig wurde und der Sonne zu nah kam. Sondern, weil der antike Mythos so gut als Medium taugte, das auszudrücken, was der Bildhauer Werner Richter mit Blick auf die Verhältnisse in der DDR einmal die „Dialektik unseres Daseins“ nannte. Mit ihm ließ sich der sozialistische Aufstieg ins Weltall ebenso darstellen wie das Grenzregime, in dessen Fadenkreuz die DDR-Flüchtlinge gerieten.
Kreativer Umgang mit der Metapher, versteckte Kritik, Vielfalt der Bezüge und Stile – an diesen Leitlinien entlang wollen Eckhart Gillen, Paul Kaiser und Karl-Siegbert Rehberg, die Kuratoren der 260 Werke starken Schau, demonstrieren, dass mit dem Totschlag-Klischee von der Einheitskunst nicht weiterkommt, wer das ästhetische Erbe des untergegangenen Staates beurteilen will.
Gleich zu Beginn sollen zwei Gemälde diese Spannbreite verdeutlichen: Bernhard Kretzschmars sommerliches Panorama der DDR-Retorte Eisenhüttenstadt mit rauchenden Schornsteinen von 1955 hängt neben Wolfgang Mattheuers „Freundlicher Besuch im Braunkohlenrevier“ von 1974. Darauf schreiten schweigsame Arbeiter über eine düstere Abraumfläche, während ihnen seltsame Wesen im Anzug mit Kastengesichtern begegnen.
Die ästhetische Produktion in der DDR pauschal als parteikonforme Nichtkunst abzukanzeln, war nie ein sehr überzeugender Ansatz. Doch überzeugender als in dieser Schau sind die periodischen Versuche, ein ungeliebtes Erbe zu delegitimieren, bislang noch nicht widerlegt worden. So gut gelingt es ihren Machern, den real existierenden Kosmos ästhetischer Vielfalt zu rekonstruieren. Zugleich ist sie eine überfällige Wiedergutmachung. 1999 hatte in Weimar ein Gruselkabinett namens „Aufstieg und Fall der Moderne“ die Kunst aus der DDR und die der NS-Zeit als zwei Seiten derselben Medaille einer forcierten Antimoderne parallelisiert.
Wer die Scheuklappen des 20 Jahre erbittert geführten deutsch-deutschen Bilderstreits versuchsweise beiseite legt, kann nun schon in dem Raum mit dem Titel „Neu erstanden aus Ruinen“ nachvollziehen, wie viele Spielarten eines ernstzunehmenden Realismus es gab: von den Proletarierbildnissen eines Kurt Querner in der Tradition der Neuen Sachlichkeit bis zu Gabriele Mucchis Versuchen, den Wiederaufbau Ost mit den Mitteln des italienischen Nuovo Realismo zu fassen.
Gerade das geschmähte Königsgenre des Sozialismus spiegelt am Ende am deutlichsten die Ikarus-Linie vom utopischen Aufbruch bis zu seinem Verglühen. Blickte Willi Neuberts „Stahlwerker“ noch 1968 tatendurstig in die Zukunft, wirken seine Kollegen auf Eberhard Heilands Bild „Die Aura der Schmelzer“ von 1988 wie die Protagonisten des Rechts auf Faulheit.
Zu den Entdeckungen der Schau gehören die Arbeiten, die Verbindungen zur globalen Moderne belegen: Die Wandreliefs des spanischen Muralisten Josep Renau, die „Modelli“ genannten Architekturobjekte des großen Abstrakten, Hermann Glöckner, und die Performances und Fotoübermalungen des Untergrundkünstlers Klaus Hähner-Springmühl aus Karl-Marx-Stadt.
Als die Schau Mitte Oktober eröffnete, sah der Spiegel ob der ungewohnten Perspektive sein Weltbild ins Wanken geraten. Und sprach gleichwohl von „einer der wichtigsten Ausstellungen des Jahres“. Drei Monate später, kurz vor ihrer Schließung, überrascht, dass sie nur ein schwaches Echo gefunden hat – trotz eines international besetzten Symposiums.
Schwer zu sagen, ob das ein Zeichen dafür ist, dass die neue Republik, 22 Jahre nach dem Mauerfall, ein ungeliebtes Erbe angenommen hat: Die meisten Besucher kommen aus den neuen Bundesländern. Und die wichtigen deutschen Museen reihen dieses Erbe immer noch nicht in ihre Sammlungen ein. Möglich ist aber auch, dass selbst westdeutschen Besuchern ein Bild wie Wolfgang Mattheuers „Talsperre Pöhl mit Sturz des Ikarus“ aus dem Jahr 1975, auf dem ein Spielzeugvogel vom Himmel herab in eine Abenddämmerung stürzt, mehr einleuchtet als vor zwanzig Jahren. Zwischen Bankenkrise und Klimawandel herrscht auch in den siegreichen Demokratien der nicht mehr zweigeteilten Welt eine gewisse Ermüdung in Sachen Utopie.
Ingo Arend (taz, 15.01.2013)
Bis 3. Februar, Neues Museum, Weimar, Katalog (Verlag der Buchhandlung Walther König) 34,80 Euro
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