Im Alter von 90 Jahren ist der DDR-Maler Willi Neubert gestorben
Gestern, heute. Auf den ersten Blick wirkt Willi Neuberts Bild aus dem Jahr 1975 wie die getreue Bebilderung der Nationalhymne DDR: „Auferstanden aus Ruinen, Und der Zukunft zugewandt“. Links sieht man das zerbombte Dresden, rechts wächst das Paradies der Arbeiter und Ingenieure. Trotzdem kann in diesem, in offiziellem Auftrag gemalten Bild, von Sozialistischem Realismus im engeren Sinne nicht die Rede sein. So sehr fallen die Perspektiven hier ineinander, lösen sich die Figuren auf. 23 Jahre hing es in der Galerie des Palastes der Republik. Dass der Staat, der den 1976 eröffneten Bau unterhielt, sich zu diesem Zeitpunkt schon nur noch mit Hilfe einer Mauer am Leben erhalten konnte, kann man auf dem zweieinhalb mal drei Meter fünfzig großen Bild noch nicht einmal erahnen.
Der 1920 in Brandau, im heutigen Tschechien, geborene Neubert war als gelernter Schlosser ein Arbeitermaler wie aus dem Bilderbuch: Er malte die Produktion, er experimentierte in ihr, er entwickelte aus ihr seine Spezialität: Wandbilder aus Email, das auf eine Stahlplatte aufgetragen wurde. So idealisierend seine Bilder und Wandfriese meist waren: Ein Echo der frühen Moderne schwingt selbst durch ein staatsragendes Bild wie „Diskussion im Neuererkollektiv“, das eine 20-Pfennig-Briefmarke der DDR zierte. Und Spurenelemente von Braque und Léger kann man in dem Wandbild in der Nähe des sachsen-anhaltinischen Bahnhofs von Thale nachweisen, einem Standort von Eisen- und Hüttenwerken. In dem Harz-Städtchen wirkte Neubert seit 1953 als freischaffender Künstler. Hier hielt er auch eine externe Professur der Staatlichen Hochschule für industrielle Formgestaltung in Halle an dem von ihm mit gegründeten Institut für Architekturemail.
Seine Formensprache trug ihm in den sechziger Jahren – zusammen mit Willi Sitte, unter dessen Einfluss er den italienischen Realismus und den Futurismus studiert hatte – kurzzeitig den Vorwurf des „Formalisten“ ein. Zum Abweichler oder ästhetischen Rebellen wurde er aber nicht. Schon 1963 erhielt er dann doch den Nationalpreis des Arbeiter- und Bauernstaates. Der der Kunst in der DDR stets wohlwollend zugetane FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp nannte ihn einst einen „bewährten Parteipathetiker“. In Wahrheit war er wohl eher eine brave Durchschnittsgestalt des ästhetischen Mainstreams in der DDR. Im Nachhinein verwundert es doch, warum die DDR-Legende Fritz Cremer den „Ikonenmaler des DDR-Kleinbürgertums“ (Christoph Tannert) als einen von „16 profilierten Künstler“ seines Landes mit der Ehre auszeichnete, die Galerie des Palastes der Republik mit zu bespielen. Vergangenen Sonntag ist er in einer Klinik in Ballenstedt im Alter von 90 Jahren gestorben.
© Ingo Arend
großes Bild oben: CC BY-NC-SA Berlin, Palast der Republik, Gemälde „Gestern – Heute“ (Ausschnitt) Willi Neubert, Deutsches Bundesarchiv
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