Aufklärung: Auf der 54. Kunst-Biennale von Venedig bemüht sich Bice Curiger um eine überfällige Kurskorrektur
Time-Capsule, Zeit-Kapsel. Roman Ondáks Arbeit ist eine Metapher wie sie stärker kaum sein könnte. In tiefstem Dunkel steht die Skulptur, die einer Rakete zu ähneln scheint, zu Beginn der Arsenale, Venedigs immer wieder großartigem Ausstellungs-Parcours durch die leeren Hallen des ehemaligen Marine-Hauptquartiers. Der 1966 geborene Künstler aus der Slowakei hat zwar nur den schlanken Stahlkörper Fénix 2 nachgebaut, der im vergangenen Jahr 33 chilenische Bergarbeiter nach ihrer zweimonatigen Gefangenschaft aus 700 Metern Tiefe wieder an die Erdoberfläche gehievt hat. Aber natürlich muss man das Werk auch programmatisch lesen, so wie es zum Auftakt der 54. Biennale platziert wurde.
Ondáks Werk verbindet zwei Ebenen. Die der Jetzt-Zeit und die unter Tage, ohne Beziehung zur Außenwelt plötzlich zeitlos gewordene Existenz der eingeschlossenen Bergleute, die der Zeit der Kunst ähnelt. Und natürlich ist die Arbeit ein Signal für einen nicht nur geologischen Weg. Sie kehrt Novalis’ in Heinrich von Ofterdingen entwickeltes, romantisches Motiv vom Hinabsteigen in die Tiefen der Erde als Weg zur Erkenntnis quasi um: Nach oben, zur Rettung, zum Licht, zur Aufklärung.
Ist in Venedig der Durchbruch zur gefährdeten Aufklärung zu erwarten? Oder wenigstens ein neuer Zugang zu ihr? Schon Monate vor ihrer Eröffnung hatte Bice Curiger, die unorthodoxe Ausstellungsmacherin des Kunsthauses Zürich, Mitbegründerin der Kunst-Zeitschrift „Parkett“, für das Konzept der von ihr in diesem Jahr verantworteten Kunst-Schau geworben. Verbindlich im Ton, sanft im Auftreten, entschieden in der Sache: Für die „Begegnung mit einer Kunst, welche die Instrumente der Wahrnehmung schärft“ und ein „Begreifen in Epiphanien“.
Die Anspielungen auf das große Leit-Motiv der Schau sind überall quasi mit den Händen zu greifen. Denn Licht spielt eine große Rolle in dieser Biennale. Ob es Josh Smiths Aufschrift „Illuminations“ ist, das der Künstler mit hellblauen Buchstaben an die Wand des zentralen Pavillons geschrieben hat. Ob es Philippe Parrenos „Marquee“ ist, die der französische Künstler über seinen Eingang gehängt hat. Ein von vielen Glühbirnen erhellter, wie eine Hängebrücke dem eigentlichen Eingang vorgehängter Baldachin, der ebenso als Pforte der Erleuchtung wie des Spektakels dienen könnte. Ob es die Neon-Pyramide der Schweizer Künstlerin Mai-Thu Perret ist, die die Augen so seltsam überreizt. Man steht davor und beginnt lebendigen Auges zu erahnen, was das sein könnte, was Sigmar Polke in einem seiner Bild-Titel „Strahlen sehen“ genannt hat.
Es bleibt rätselhaft, warum die meisten Kritiker in diesem Jahr eine Schau ohne kuratorische Klammer oder roten Faden beklagten. Denn wer durch Curigers Parcours streift, kann sich einen klaren Reim darauf machen, was die Schweizer Kunstwissenschaftlerin antreibt. Noch nie waren in einer der letzten Biennalen so wenig Arbeiten zu sehen, die auf die sattsam bekannten Dokumentarismen und Feldforschungen setzten. Sieht man von David Goldblatt ab. In der „Ex-Offenders“-Porträtserie des südafrikanischen Fotografen lernt man eine distanzierte Form von Empathie mit Menschen, die straffällig geworden sind: Kleinen Warenhauskriminellen oder Einbrechern.
Noch nie waren auch so wenig Arbeiten zu sehen, die auf vordergründig politische Animierung setzten. Die 25-Euro-Münze, die der britische Künstler Ryan Gander im zentralen Ausstellungspavillon in den Gardini in den Fußboden eingelassen hat, ist eine der wenigen Ausnahmen. „We never had a lot of euro around here“ hat er seine Arbeit ironisch genannt, die auf die galoppierende Inflation in Europa anspielt. Sie wirkt geradezu störend. So wie es Curiger überall zuerst auf die Frage nach der Wahrnehmung und genuin ästhetische Qualitäten ankommt.
Manchem wird hier der große Paukenschlag, der Schlagzeilen machende Eye-Catcher fehlen. Es zeichnet Curiger aus, dass sie sich der Sensations-Ästhetik verweigert, wie sie zuletzt Harald Szeemann bediente, als er 2001 die Skulptur eines unter einem Steinblock kauernden Knaben des bis dato kaum bekannten australischen Künstlers Ron Mueck an den Beginn seiner Schau setzte. Die ausgestopften Tauben, die Maurizio Cattelan überall auf die Balken unter den Decken gesetzt hat, sind nicht viel mehr als ein Gag. Oder wollte er mit dem Remake einer Arbeit aus dem Jahr 1997 die vielen Kunst-Touristen veräppeln, die hier oft genauso dicht auf dicht auf der Stange der Stadt und der Kunstwerke hocken?
Curiger setzt lieber auf verhaltene Arbeiten, deren Erkenntnispotential sich erst beim näheren Betrachten erschließt. Dabei können ihr die Referenzen oft gar nicht fein gesponnen genug sein. Man muss schon ihren Katalogtext gelesen haben, um auf die Konvergenz von Nicolas Hlobo und und Jacopo Robusti alias Tintoretto zu kommen. Der südafrikanische Künstler hat sein „Limpundulu Zonke Ziyandilandela“, einen mythischen Vampir der afrikanischen Sage ausgestellt – eine mit tentakelartigen in den dämmrigen Raum greifende Skulptur aus Lack, Gummi und Organza. Von Curigers Säulenheiligem stammt das Bild „Die Erschaffung der Vögel“ (1550). Zusammen mit seinen Werken „Das Abendmahl“(1592-94) und „Der Diebstahl des Leichnams des Heiligen Markus“ (1562-66) empfängt der Barockmaler die Besucher im großen Eingangsraum des zentralen Pavillons in den Giardini – Verbeugung vor einem frühen Experimentellen, der wegen seiner Licht- und Perspektivführung berühmt wurde.
Mit solchen Referenzen und Querverweisen bekommt die Ausstellung mitunter etwas von einer subtilen Geschichts- und Lehrstunde, wo sich eins im anderen wechselseitig aufs raffinierteste erhellen und herleiten soll. Schon Kathrin Rombergs Berlin-Biennale 2010 „Was draußen wartet“ litt unter dem Versuch, den neuen Realismus in der Kunst bei Adolf Menzel historisch rückzuversichern. Das bremst den Schwung des Rituals Biennale, bei dem der Kunstfreund immer das Neueste erwartet. Ist aber womöglich nachhaltiger als der atemlose Hype, mit dem dem staunenden Publikum in Venedig oft vorgegaukelt werden soll, es werde zum Zeugen der Geburt einer neuen, bis dato völlig unbekannten Kunst. Die dann doch nur wieder den Kunstmarkt beflügelt.
Trotzdem vermisst man ein paar Werke, die das Potential sinnlicher Erkenntnis auf eine neue, schockierende, alte Sehgewohnheiten hinter sich lassende Weise ausreizen. Viele der ausgestellten Arbeiten sind eben doch bloß gute alte Bekannte. Die endlosen Besucherschlangen vor James Turrells „The Ganzfeld Piece“, zwei vollkommen leere, miteinander verbundene Räume, die langsam mit wechselndem Farblicht gefüllt werden, sind zwar ein Indiz dafür, dass diese Form der Erkenntnis potentiell viele Fans hat. Doch selbst wenn Turrell seine Arbeit für die Biennale entwickelt haben sollte. Neu ist das Konzept nun wirklich nicht.
Mit seiner Idee „seeing as feeling“ ist der 1943 geborene Künstler schon seit mehr als 30 Jahren unterwegs. Auch Gianni Colombos preisgekröntes Werk „Spazio elastico“ wurde schon einmal, 1968, auf der Biennale ausgestellt. Der Raum, in dem sich fluoreszierende Stoffbänder in einem von ultraviolettem Licht erfüllten Raum – durch Motoren getrieben – ständig verschieben, ist ein Musterbeispiel für die Emanzipation der Sinne durch subtile Desorientierung.
Am schwersten tut sich Curiger mit ihrer – im Biennale-Titel ILLUMInations anklingenden – Idee, das oft kritisierte Nationen-Konzept der Biennale und eine Aufklärung, die über die Sinne funktioniert, zu verschmelzen, dort, wo diese Nationen zu Hause sind – in den Pavillons. Das ist nicht ihre Schuld. Denn hier regieren die nationalen Kuratoren. Da mag man es immerhin als markantes Zeichen werten, dass die USA sich von dem Künstlerpaar Allora & Calzadilla vertreten lässt, dessen einer Teil mit dem 1971 in Havanna geborenen Guillermo Calzadilla aus Kuba stammt.
Der laufende Mann in Sporthose und nacktem Oberkörper, den die beiden auf den Panzer vor dem US-Pavillon gestellt haben, ist ein eher grober Wink mit dem Zaunpfahl, um den Zusammenhang zwischen Sport, Militarismus und den Kämpfen der Demokratie zu demonstrieren. Für amerikanische Verhältnisse ist es ein ungewohnt selbstkritischer Auftritt. So weit ist der Iran noch nicht. In dem kleinen Pavillonraum unweit des Palazzo Grassi am Canal Grande darf Morteza Darehbaghi seine Bilder der Märtyrer des iranisch-irakischen Krieges in einem Spiegellabyrinth ausbreiten – hier wird ein nationaler Mythos befestigt.
Ob Germania jemals wieder aus einem solchen herausfindet? Der posthume Auftritt Christoph Schlingensiefs hinterließ die Kunstfreunde gespalten. Die Installation „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ aus dem Jahr 2008, die Kuratorin Susanne Gaensheimer in den Nazi-Bau gestellt hatte, erwies sich zwar als erstaunliche geschlossene Komposition. Allein: Es fehlte ihr inszenierender Derwisch. Trotzdem bleibt die Frage berechtigt, ob die grandiose Bühne für das Modell eines deutschen Selbstexorzismus mit seinem religiösen Rahmen, diese Requiem-Kulisse für einen toten Künstler, in dem baulichen Relikt einer todesverliebten Ideologie wirklich am richtigen Ort steht.
Das deutsche Team hatte den Schriftzug Germania über dem Gebäude mit schwarzer Schrift zur „Egomania“ verballhornt. Doch ob man die deutschen Gespenster mit dem Wechsel von den kollektiven zu den individuellen Obsessionen vertreibt, bleibt die Frage. Überzeugender, weil disziplinierter choreographiert, wirkte der ebenfalls posthume Auftritt Ahmed Basionys, einem jungen Künstler, der in der Nacht des 28. Januar auf dem Kairoer Tahrir-Platz starb. Im ägyptischen Pavillon waren Videos seines Projekts „30 Days of Running in the Place“ zu sehen. Die Arbeit, bei der Basiony die Anzahl seiner Schritte und den Schweiß maß, der bei dem Lauf produziert wurde, während er an 30 Tagen jeweils eine Stunde auf der Stelle lief, war nicht weniger egomanisch als Schlingensiefs Arbeiten. Zugleich wurden sie zu einem Symbol des Auf-der-Stelle-Tretens in 30 Jahren Mubarak-Herrschaft. Direkt neben diesen Aufnahmen flimmerten Basionys Live-Videos von Aufständen der „Arabischen Rebellion“ in der Stadt am Nil.
Von Strohfeuern und Highlights der nationalen Identität einmal abgesehen: Bice Curiger gelingt es in Venedig durchaus, ein paar neue und unbekannte Künstler in den Kunstbetrieb einzuführen. Dazu zählt der 1939 in Äthiopien geborene Künstler Gedewon mit seiner Talisman-Kunst. Dessen faszinierende, mit Kugelschreiber gezeichneten, filigranen Labyrinthe orientieren sich an einer Jahrhunderte alten Tradition des piktorialen Exorzismus: Hier wird das Bild zum Medium einer Heilung. Dazu zählen auch die Stickereien der Schweizer Künstlerin Jeanne Natalie Wintsch. In den drei Jahren, die sie in der Psychiatrie Bürghölzli verbrachte, entwickelte sie mit okkulten Symbolen und Textfragmenten ein ganz eigenes Alfabet.
Was dagegen an der – von der Biennale sogar preisgekrönten – Arbeit der 1979 geborenen schwedischen Künstlerin Klara Lidéns dran sein soll, die in Berlin lebt, fragt man sich denn doch. Ihren schönen Effekt, Alltagsgegenstände, wie öffentliche Müllbehälter etwa, so in den Kunstkontext zu transferieren, dass sie zur autonomen Skulptur werden, beherrschte bekanntlich schon Marcel Duchamp.
Jedenfalls: Mit solchen und anderen KünstlerInnen steckt Curiger der Gegenwartskunst ein paar neue Lichter auf. Was ihr aufklärerisches Grundthema anbetrifft, ist es letztendlich aber nur bei ein paar schönen Blinklichtern geblieben. So werden wir also noch einige Zeit warten müssen bis die Kunstwelt einmal mehr zu der Erfahrung durchgebrochen ist, für die Altmeister Sigmar Polke eine vielversprechende Formel gefunden hat. „Jenseits des Regenbogens“ hat er ein Bild aus dem Jahr 1967 genannt. Natürlich hängt es auch in der 54. Biennale.
Text und Fotos: Ingo Arend
ILLUMInations. Venedig.
Noch bis zum 27. November 2011. Katalog, Marsilio Editori, 604 S., 65 Euro
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