Die USA verlieren ein flexibles Feindbild
Auch wenn die martialische Rhetorik aufstößt: „Ein Sieg für Amerika“, wie George W. Bush das plötzliche Ende von Amerikas Staatsfeind Nr. 1 in einer Erklärung nannte, ist es zweifellos. Und für die amerikanische Nation mag sich mit der Tötung von Osama bin Laden auch eine Wunde schließen. Wie gut den USA der Abgang dieses Schurken tatsächlich bekommen wird, muss sich erst noch zeigen. Denn mit ihm verlieren sie so etwas wie einen nützlichen Idioten. Bin Laden, vom dem man nur verwackelte Videos kennt, dessen Gesicht so ungreifbar schien wie der Dschinn in orientalischen Märchen, war immer mehr ein politischer Schemen als eine real greifbare Gestalt. Das Unlesbare des Netzwerkes namens al-Qaida war für den auf den Autor, auf den Täter fixierten Westen nur schwer auszuhalten. Selbst seiner „größten“ Tat haftete etwas Unwirkliches an, schon weil sie so sehr auf das Symbolische setzte. Denn auch wenn der amerikanische Romancier Don DeLillo von der „strafenden Wirklichkeit“ sprach, die er erfuhr, als ihn das durch die Luft segelnde Papier aus den Twin Towers wie Peitschenschläge traf: Von den meisten der 3.000 Toten fehlt bis heute jede Spur. Hin und her gerissen von dem Doppelcharakter des Anschlags zwischen Realität und Virtualität sprach Jean Baudrillard damals von dem „absoluten Ereignis“.
Zumindest in seiner Virtualität war der Schurke Bin Laden durchaus gut zu gebrauchen. Denn das Bild des unfassbaren Terroristen schürte die Furcht vor ihm. Schließlich konnte er wie ein Geist jederzeit und überall auftauchen. Er fungierte aber auch als eine Art strategisches Dispositiv, das es den USA erlaubte, es auf jeden Konfliktherd dieser Welt zu projizieren und überall da einzugreifen, wo es ihnen geboten schien. Eine Projektion, die sich tief ins Alltagsbewusstsein einschrieb. Kein Anschlag irgendwo in der Welt, hinter dessen Meldung – scherzhaft oder nicht – nicht die Mutmaßung auftauchte, Osama bin Ladens al-Qaida habe womöglich etwas damit zu tun. Dessen Rolle war in der letzten Zeit zwar durch die arabischen Revolutionen erheblich relativiert worden. Aber diese Art von beweglichem Passepartout-Feindbild fehlt jetzt. Die Gegenseite in dem zu identifizieren, was Samuel Huntington glaubte, den „Kampf der Kulturen“ nennen zu müssen, dürfte schwerer werden. Eilig wurde Osama bin Laden noch gestern, so hieß es, „auf hoher See“ beigesetzt. Kein letztes Bild von seinem schmerzverzerrten Gesicht, seinem gekrümmten, von Kugeln durchsiebten Körper wird der Welt das unwiderlegbare Zeugnis seiner realen Leiblichkeit geben. Kein bei den UN hinterlegter Obduktionsbericht wird jeden möglichen Zweifel an der Todesursache beseitigen. Noch im Tod umgibt den meistgesuchten Mann der Welt ein Hauch von Irrealität. Und man kann sich schon jetzt die Websites vorstellen, auf denen die Verschwörungstheorien über ihn ausgebreitet werden. So könnte dieses schillernde Phantom der Postmoderne, das aus den realen Ruinen von Ground Zero aufstieg, endgültig in das ewige Reich der reinen Vorstellung eingehen.
Text: Ingo Arend
Foto: Bin Laden im Jahr 1997
Urheber: File:Hamid Mir interviewing Osama bin Laden.jpg: Abdul Rahman bin Laden (son of Osama bin Laden) took the photo and released it to Hamid Mir, a Pakistani news reporter at the time (unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert).
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