In Berlin trafen sich Hans Kollhoff und Vittorio Lampugnani. Ein neuer „Berliner Architekturstreit“ ist nicht dabei herausgekommen
Investitionsarchitektur. Wer vor drei Monaten die Zeitung aufschlug, traute seinen Augen nicht. Was war bloß in Hans Kollhoff gefahren, dass er derart gegen die Gegenwartsarchitektur wetterte? Okay – an manchen Stellen sieht Berlin inzwischen schon mehr wie die Hauptstadt der Allianz – als die der Deutschland-AG aus. Aber firmiert die schlechte Kopie der Fantasiearchitektur von Gotham City mit den angeklebten Backsteinen, die der architektonische Polarisierer 1999 an den Potsdamer Platz stellen und als Beitrag zur „Europäischen Stadt“ ausgeben durfte, neuerdings unter sozialer Wohnungsbau? Doch dass aus dem reaktionären, pardon: traditionsbewussten Saulus kein kapitalismuskritischer Paulus geworden war, bewies die Diskussion, zu der sich Kollhoff Mitte November mit seinem alten Mitstreiter Vittorio Lampugnani in Berlin traf.
Schon in der Art und Weise, wie da zwei einstige Verbündete stritten, konnte man sehen, welchen Stellenwert die Frage nach der Stadt der Zukunft in der temporären „Welthauptstadt“ Berlin heute hat. Vor gut 15 Jahren hatte der „Berliner Architekturstreit“ mit seinen Reizworten „Traufhöhe“, „kritische Rekonstruktion“ und „Lochfassade“ noch Ausmaß und Verve eines Kulturkampfes wie vielleicht derzeit der um den Feminismus. In diesem jahrelangen, argumentativen Stellungskrieg schieden sich die Geister in Gut und Böse, fortschrittlich und rückschrittlich, in Avantgarde oder Reaktion. Heute ist die Luft aus dem Grundsatzstreit. Ein öffentlicher Gestaltungswillen ist kaum noch irgendwo erkennbar. Alle planen und bauen lustlos vor sich hin. Und die Fachleute kehren die argumentativen Scherben von damals nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammen. Das ist auch ein Indiz für die geistige Lage der Nation.
Im edelholzbelegten Sitzungssaal des Berlin Institute for Cultural Inquiry (ICI), einer vor vier Jahren gegründeten Non-Profit-Organisation im Kulturzentrum Pfefferberg in Berlins gut saniertem Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem die Diskussion stattfand, herrschte zunächst der Kammerton des Hauptseminars. Und siehe: Aus dem wertkonservativen Provokateur Lampugnani, Jahrgang 1951, war der große Differenzierer geworden. Nur Hans Kollhoff, Jahrgang 1946, gab unbeirrt den Samurai der Vormoderne.
1993 hatte Lampugnani in seinem berüchtigten Spiegel-Manifest die pointengeile Architektur der Postmoderne verworfen, den Funktionalismus der Moderne als Tabula-Rasa-Ideologie verdammt und für „Inseln im Strom der Verwirrung“ plädiert. Das „Planwerk Innenstadt“, zu dem ein Mann namens Hans Stimmann diesen geistigen Höhenflug herunterbuchstabierte, hatte den sonst eher mediokren Senatsbaudirektor von Berlin über Nacht zum Hassobjekt der Bau-Avantgarde aufsteigen und damit zur Berühmtheit werden lassen. Heute geht sein spiritus rector Lampugnani, inzwischen Professor für die Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich mit angeschlossenem Architektenbüro in Mailand seriöser und nachsichtiger vor.
912 Seiten dick und mehr als 600 Abbildungen reich ist sein kürzlich erschienenes Werk „Die Stadt im 20. Jahrhundert“. Und bis auf die erwartbare Abrechnung mit Le Corbusier – nirgends wird man in diesem voluminösen Folianten so zugespitzte Thesen finden wie in Lampugnanis folgenreicher Streitschrift kurz nach dem Mauerfall. Detailverliebt entfaltet der Historiker darin die Ideengeschichte einer zivilisatorischen Errungenschaft von der Gartenstadt bis heute. Und vielleicht war es diese forcierte Standpunktlosigkeit seines einstigen Bruders im Geiste, die Kollhoff so in Rage brachte. Oder Lampugnanis mit leiser Stimme vorgetragenen Absetzbewegungen, seine beiläufig dahin gestreuten Bekenntnisse, wie etwa dem, dass die kleinteilige Parzellierungsstrategie Stimmanns vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen seien.
Nicht, dass Lampugnani sich gänzlich von der Idee verabschiedet hätte, an der Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts solle die Welt des 21. Jahrhunderts genesen. Die Idee der kompakten, hochverdichteten Stadt, „wie wir sie kennen“ und in dem die Menschen „harmonisch, zufrieden und glücklich“ lebten, hält Lampugnani nach wie vor für „alternativlos“. Doch er macht kein Dogma mehr daraus. Wo Kollhoff gegen die „IBA-Sozialisierten“ wetterte, war Lampugnani neugierig darauf, welche „Variationsmöglichkeiten“ seines Ideals anderen Kollegen bei einer neuen Internationalen Bau-Ausstellung, womöglich in ein paar Jahren auf Berlins Tempelhofer Feld, wohl einfielen. Er konnte sich sogar, horribile dictu, sogar mit der Idee von „Collagen“ in Architektur und Städtebau anfreunden. Wie mit dem Breitschwert hieb Kollhoff auf solche filigran gewobenen Argumente oder zerpflückte Lampugnanis Beispiele für geglückte Stadterneuerung. „Da ist keine Stadt herausgekommen“, schnaubte Kollhoff über Rafael Moneos Wirken in Barcelona und über andere Beispiele von „Albträumen der ausufernden Agglomarationen: „Das sieht aus wie Kuala Lumpur. Da würden wir beide sofort in die Altstadt flüchten, wenn man uns da aussetzte“. Und als Lampugnani mit Blick auf Berlin und den Schlossplatz in seiner Mitte nonchalant bekannte: „Ich habe keine Probleme damit, dass die Mitte mal eine Zeit lang leer bleibt“ brach der ganze horror vacui einer verunsicherten Klasse aus Kollhoff: „Ohne so einen Halt kommt man nicht aus“ begründete Kollhoff, bekanntlich abgewiesener Mitwerber für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, sein bedingungsloses Plädoyer für die klassische Stadt mit einem klar definierten Zentrum. „Warum verzichten wir darauf, daran anzuknüpfen?“ fragte er wütend.
Doch auch wenn sich seine Stimme gegen Ende der Diskussion mehrmals überschlug. Auf die Zinnen der bürgerlichen Stadt lockt er derzeit niemand. Das „artikulierte Bürgertum“, das Kollhoff beschwor und dessen Vorschein er gar in den Protestierern gegen Stuttgart 21 ausgemacht haben wollte, hat sich wohlig in seine Townhouses zurückgezogen. Und kümmert sich herzlich wenig um den Bau der Infrastruktur, die Kollhoff zur guten Architektur dazu zählt. Der Prenzlauer Berg und seine Sanierung, von Kollhoff vollmundig zu einem „einzigen Erfolgserlebnis“ ausgerufen, gibt ein beredtes Beispiel für diese stillschweigende Strategie. So blieb vor lauter Traditionsbeschwörung und ideologischen Floskeln die viel spannendere Frage, ob es in einer immer pluralistischeren Gesellschaft und einer Welt der wuchernden Megalopolen denn überhaupt notwendig und Erfolg versprechend ist, die Stadt mit einem sozialen Magneten namens „Kern“ auszustatten, leider unerörtert. Befragt, ob der denn noch das Neue in der Architektur suche, wirkte der Kämpfer gegen das Appeasement mit der unseligen Postmoderne plötzlich müde: „Man orientiert sich halt am Bewährten“. Der große deutsche Nachkriegsarchitekt Konrad Adenauer hätte gesagt: Keine Experimente!
Text: Ingo Arend
INFORMATION:
Ausweitung der Erinnerungszone
Eine Diskussion zwischen Vittorio M. Lampugnani und Hans Kollhoff Tuesday, Nov 16, 19:30
Anlässlich der Veröffentlichung seines zweibändigen Opus „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ diskutierte Vittorio M. Lampugnani mit Hans Kollhoff über kulturelle Dimensionen von Architektur und Städtebau und über die neue Relevanz der Tradition. Eine Veranstaltung des ICI Berlin in Kooperation mit dem Verlag Klaus Wagenbach. via ici-berlin
Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2010, 912 Seiten, 2 Bde. im Schuber,
98 Euro, Subskriptionspreis bis zum 31. 1. 2011. Dann 124 €
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