Bilder auf Reisen
Das indische Kino wird bei uns vor allem in seinen Extremen wahrgenommen. Früher waren es die ästhetisch ausgefeilten Filme von Satyajit Ray oder Mrinal Sen. Und gerade hat der Westen die üppigen Bollywood-Spektakel wieder entdeckt. Dazwischen gibt es aber noch eine andere Strömung. Regisseure wie M. Night Shyamalan, Shekhar Kapur und Tarsem Singh sind im Begriff, den westlichen Mainstream zu erobern. Mit Filmen, die sich – wie Kapurs Kolonialepos Die vier Federn, das am 21. November ins Kino kommt – weit jenseits von Sari, Curry, Räucherstäbchen bewegen.
Dass es auch auf dem Markt der audiovisuellen Medien und vor allem des Kinos eine Form der „Globalisierung“ gibt, liegt auf der Hand. Die Frage ist allenfalls, ob die audiovisuellen Austauschprozesse eher Ausdruck oder doch schon Motor der ökonomischen Entwicklung sind, und ob es hier und dort auch so etwas wie einen kulturellen Eigensinn der Bilder gibt, die sich der vollständigen Auflösung in einer Weltbildersprache verweigern. Dieser Prozess ist offensichtlich schwierig zu beschreiben, er fordert Opfer, spiegelt ökonomische wie geopolitische Machtverhältnisse. Und er macht eine Reise in den Bildern und eine Reise zu den Bildern zu einer ambivalenten Angelegenheit. Denn die Globalisierung der Bilderproduktion bringt die Grammatik in der Sprache der Bilder erheblich durcheinander. Wer spricht? Wer hört? Wer zeigt? Wer sieht? Der Prozess der Globalisierung fordert vor allem das filmische Subjekt heraus. Kein Wunder, dass es uns leichter fällt, von „Autoren“ zu sprechen als von Verhältnissen.
Was eine Art der kulturellen Aneignung oder Unterwerfung und was kultureller Austausch und Bereicherung ist, ob die Globalisierung im Kino weltweit fließende Produktions- und Verwertungsinteressen bedeutet oder eine humane Verständigung der Völker, ist jedenfalls nicht so leicht zu beurteilen. Daher müsste, so scheint mir, in die Beschreibung der Bewegungsbilder des Films zu Produktion und Rezeption, zu Codierung und Decodierung noch eine neue Kategorie treten, mit der man das Wandern der Bilder zwischen den Kulturen beschreiben könnte. Was geschieht mit den Bildern, wenn sie Grenzen überschreiten? Und was geschieht mit den Grenzen, wenn sie von den Bildern überschritten werden?
Kino und Globalisierung
Die Globalisierung des Kinos hat drei sehr unterschiedliche Haupt-Aspekte. Zum einen ist da die immer noch ungebrochene ökonomische und ästhetische Wucherung jenes Weltkinos, das in Hollywood (wenn auch mit internationalem Kapital und mit internationalen Ressourcen) entsteht. Hollywood erweist sich dabei als Magnet für Talent und Ideen; aus jeder mehr oder weniger nationalen Kinematographie drängt es die Erfolgreichen in dieses Zentrum, und dieses globale Zentrum der Filmproduktion reagiert seinerseits auf jede Absatzkrise, indem es Ressourcen aus allen Ländern an sich bindet und auf der anderen Seite neue Märkte für sich zu erobern versucht.
Zum zweiten gibt es das international sich bildende Geflecht eines Kunst-Kinos, das in diesem ökonomischen Filmzentrum keinen Platz hat und keinen sucht. Selbst bescheidenere Produktionen können nur in Ausnahmefällen auf einem nationalen (kulturellen) Markt entstehen. Der Umweg über den Weltmarkt ist nicht zuletzt eine Form, der nationalen Zensur ein Schnippchen zu schlagen: Einige iranische, chinesische und indische Filme können ihr Werk der ästhetischen Aufklärung nur verrichten, weil sie aus der Fremde in die Heimat zurückstrahlen. Identität entsteht dabei durch den Autor als Instanz; er löst sich sehr häufig von seiner nationalen Bindung, ohne dies auch von seinen Bildern zu verlangen. Aber offensichtlich gibt es für jeden Künstler in der Emigration einen Punkt, an dem auch die Bilder fremd werden und die Fremdheit selbst nur zum Thema werden kann.
Der dritte Aspekt betrifft das Kino der Métissage, der Migrationskulturen in den westlichen Gesellschaften, das das Leben in den Ghettos der Einwandererkulturen spiegelt und auf so kreative wie unverschämte Art Elemente der verschiedenen Bildtraditionen miteinander verknüpft, um ein genaues Bild vom „Leben in mehreren Kulturen“ zu geben.
Was den ersten Aspekt anbelangt, so haben wir als einfaches Modell so etwas wie einen kulturellen Kannibalismus aus Hollywood. Es frisst Bilder und Konzepte von überall in der Welt. Überall? Das Hindi-Kino des indischen Subkontinents schien, nachdem der Austausch mit dem Hongkong-Kino beendet war und sich die osteuropäische und sowjetische Filmproduktion weitgehend aufgelöst hatten, das letzte kulturell wie ökonomisch funktionierende Filmsystem jenseits von Hollywood. Schon in dem zärtlich-ironischen, natürlich auch kritischen Begriff „Bollywood“ für das Massenkino aus Bombay wird dieses Verhältnis von Analogie und Konkurrenz angesprochen. Bollywood funktioniert – seit den fünfziger Jahren „, weil es die Strukturen einer ausschließlich marktorientierten Traumfabrik aufweist (wenngleich in den engen Grenzen sozialer und staatlicher Zensur), aber zugleich eine eigenständige Bildwelt entwickelt, die über die gewohnte Dialektik von nationalem und Weltkino hinausgeht. Es ist tatsächlich ein anderes Kino, das da Hollywood und der Hollywoodisierung widerstand und zu einem Teil immer noch widersteht, vielleicht gerade, weil es sich jeden Trend und jede Idee aus der amerikanischen Traumfabrik in der einen oder anderen Form zu eigen macht.
Die Schwierigkeiten der Übertragung haben sehr unterschiedliche Gründe. Das Hindi-Kino hat sich von den Anfängen an (die wie bei allen Kinematographien kolonialisierter Länder aus einer Anreicherung der westlichen Techniken mit eigenen Codes bestanden) aus seiner theatralisch-musikalischen Ausrichtung zu einer anderen Erzähl- und Repräsentationstechnik entwickelt. Der Dreistunden-Mix aus Action, Gefühl, Musik, Tanz und Religion mag hier und dort für den westlichen Zuschauer seine eigene Faszination ausüben, ebenso die höchst eigene Farbdramaturgie und jener der westlichen Wahrnehmungsgewohnheit widersprechende Klang-Raum-Effekt, bei dem Gesang und Dialog nicht einmal einer gemeinsamen Raumwelt zugeordnet werden können. Aber zu einer Transzendierung der Codes reicht das nicht aus. Der eigenartigste Aspekt dieser Code-Differenz ist der der Sexualität: Dem westlichen Blick erscheint das Verbot der Darstellung eines Kusses so merkwürdig wie die gelegentlich durchaus obszönen Choreographien. Das mittelständische Kino im Indien der achtziger Jahre begann behutsam damit, insbesondere den sexuellen Code aufzulösen. Problematischer sind die kulturellen und religiösen Codes der ersten Filmerfolge in Bombay (wie in Franz Ostens Achhut Kanya aus dem Jahr 1936), mit denen das Kino als nationale und spirituelle Ikonographie zu wirken begann. Die religiösen Spannungen (zu den besseren Zeiten: das Zusammenleben der Religionen), das Kasten-System und die Clan-Organisation auf dem Lande geben die narrative Struktur vor: Die Erfüllung oder der Bruch der Codes sind die Grundlagen der melodramatischen Geschichten. Man könnte wohl sagen, der indische Mainstream-Film habe nicht nur ein anderes Erzählmuster, sondern auch ein anderes Konzept des filmischen Subjekts. Der Konflikt mit dem Code übernimmt die Aufgabe der Heldenreise; der soziale Ort, nicht die Person konstituiert das Happy End. Das Bollywood-Kino wirkt so sehr nach innen (in seinen besten Zeiten: als Projekt der nationalen Versöhnung, in seinen schlechtesten Zeiten: als Projekt kultureller Hegemonie), dass seine Außenwirkung asynchron verläuft. Den fremden Blick schließt es eher aus als ihn einzuladen.
Neben der Erzählweise und dem Erzählziel scheint vor allem auch die emotionale Haltung der Filmerzählung westlichem Empfinden zu widersprechen. Das Komische, das Dramatische, das Phantastische, das Heroische, das Melodramatische und das Epische sind auf eine ganz andere Weise komponiert – statt einander zu bedingen, folgen sie, unvermittelt, wie uns scheinen mag, aufeinander. Am Ende freilich gibt es auch so etwas wie eine ideologische Schwelle. Am Ende der achtziger Jahre beschleunigte sich der Weg des Mainstream-Kinos hin zu einer Art von Hindu-Nationalismus. Doch nicht mehr alle Filmschaffenden sind bereit, sich diesem Druck der Produktion zu unterwerfen, die ganz im Gegensatz zu den bewusst laizistisch-spirituellen Anfängen des indischen Kinos stehen.
Bollywood in der Krise
Die „goldene Zeit“ des indischen Films, darüber sind sich die Kritiker mit dem Publikum einigermaßen einig, ist spätestens seit den neunziger Jahren vorbei. Mit der Ausrichtung insbesondere der Kostüme und Settings nach dem westlichen Vorbild hat sich das Hindi-Kino einen weiteren Spitznamen eingehandelt: Follywood. Wie im amerikanischen Vorbild haben auch hier die Geldleute das Sagen, und es kommt zu endlosen Wiederholungen der Erfolgsmodelle. Die Hoffnung, der künstlerische Film an der Peripherie, das Kino der Regionen oder kleinerer Zentren der Produktion wie Madras oder schließlich das neue bürgerliche Kino – das in englischer Sprache Modernisierungsgewinne und -verluste behandelt – könnten sich fruchtbar auf die Mainstream-Produktion von Bollywood auswirken, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Dieser Mainstream verstärkte seinen Druck auf die Vermarktung. Bollywood befindet sich in einer moralischen Krise seit dem Ende der siebziger Jahre, in einer ideologischen seit den achtziger Jahren und seit den Neunzigern sogar in einer ökonomischen.
Bollywood ist indes so wenig identisch mit dem indischen Film wie der amerikanische Film mit Hollywood. Aber ähnlich wie in Europa ist nach den Ansätzen des „New Cinema Movement“, das im Jahr 1968 von unabhängigen Regisseuren und Autoren begründet wurde, auch in Indien das politische Kino, für das bei uns Namen wie Mrinal Sen oder Ritwick Ghattak stehen, weitgehend abgedrängt worden. Bollywood überlebt indes vor allem durch eine Form der neuen Allianzen in der vertikalen Organisation des Marktes: Das Fernseh-Programm besteht zu einem hohen Anteil aus den zu Clips zusammengeschnittenen Tanz-Szenen aus populären Filmen, und auch die Pop-Musik ist filmorientiert. Dass die Musik in den Bollywood-Filmen eine solche Rolle spielt, ist also längst nicht mehr so sehr Ausdruck einer bestimmten Erzähltradition, sondern verdankt sich vor allem dem Verwertungsinteresse der Industrie.
Der ökonomische Segen der vertikalen Marktstruktur ist also zugleich ein Fluch in der horizontalen Organisation: Die Filme verkaufen sich zwar immer besser (sie schließen sich in gewisser Weise direkt mit den Konsumwünschen und erotischen Träumereien des Publikums kurz) aber sie beinhalten immer weniger. Nicht unbedeutend dabei ist, dass die Bollywood-Filme zwar für die große Leinwand produziert wurden, ihre größte Verbreitung in der Welt aber längst im Videoformat erfahren. Dadurch beschleunigte sich auch das Sterben der bedeutenden Filmclub-Bewegung. In den neunziger Jahren veränderte sich die indische Filmindustrie noch einmal heftig durch den Siegeszug der Satellitenprogramme, in denen Bildwelten aus allen Ländern neben die einheimische Produktion traten. Während Bollywood nebst der mit ihm verbundenen Musikindustrie seinen Einfluss in den arabischen Raum ausstrahlte, sozusagen bis an die europäischen Ränder gelangt war, verlor es im eigenen Land an Boden.
Dabei brach auch das Star-System zusammen, das einst die Stabilität Bollywoods garantiert hatte. In den fünfziger und sechziger Jahren genossen Nargis oder Raj Kapoor eine Verehrung, die ihnen auch über Flops hinweghalfen und es ihnen immer wieder ermöglichte, soziale Botschaften zu vermitteln. Mittlerweile sind die – überbezahlten – Stars zu kurzfristigen role models transformiert, die einen vorübergehenden Ausweg aus Anforderungen der Tradition und der Moderne weisen, bevor sie von neuen Modellen abgelöst werden. Man könnte sagen: Bollywood begeht alle Fehler, die das alte Hollywood gemacht hat und noch ein paar eigene dazu. Die Frage, warum Bollywood-Filme nur sehr bedingt auf die westlichen Märkte zu exportieren sind (nämlich als Kulturware in die Métissage-Ghettos, durchaus mit ideologischen Nebenaspekten), lässt sich also nicht allein durch deren „fremde“ Ästhetik und unverständliche Handlungs-Codes erklären, sondern auch durch die ökonomische Struktur dieser immer noch größten Kino-Traumfabrik.
Zu neuen Ufern
Daher ist unser Interesse vor allem auf den zweiten Aspekt der Wanderung der Bilder ausgerichtet. Damit wir einen Film aus Indien verstehen können, muss er entweder seine Erzählweise der unseren anpassen (zum Beispiel, indem er sich an die Subjekt-Konstruktionen des psychologischen Realismus hält) oder sein Erzählziel (zum Beispiel, indem er die Konflikte der Codes, die das Mainstreamkino voraussetzt, erklärt oder in Frage stellt). Und am einfachsten ist der Austausch der Bilder natürlich dort, wo sie selbst Prozesse der kulturellen Durchdringung abbilden. Aparna Sen zum Beispiel blickt in Strasse des Abschieds (36, Chowringhee Lane, 1981) zurück in die Geschichte des Konfliktes einer alternden Lehrerin, Miss Violet, die in ihrer Mädchenschule in Kalkutta nicht mehr Shakespeare, sondern profane Grammatik unterrichten soll. In dem Film der Schauspielerin sehen wir den Bruch in der anglo-indischen Kultur – wobei allerdings die so problematische Vergangenheit schon wieder gegen eine noch brutalere Zukunft verteidigt werden muss, ehe sie ganz verstanden ist. Bei diesem Sujet kann es der Regisseurin gelingen, die beiden Bildwelten einander anzunähern, ohne sie zu „verraten“.
Aber nicht nur nach innen, sondern auch nach außen müssen sich die Bilder auf die Reise begeben, um sich zu verändern – und verändern müssen sie sich wiederum nicht nur für den Weltmarkt, sondern auch um den Zustand der Entropie und der Bewusstlosigkeit der Bollywood-Produktion zu überwinden. Mira Nair, die in New York studierte, ist das Modell einer bürgerlichen Filmemacherin der Transkulturation, die sich ihren sozialkritischen Blick bewahrte. Sie musste fortgehen, um in ihren Filmen die Heimat so kritisch wie zärtlich zu sehen. In ihrem berühmten Erstling Salaam Bombay (1988), entstanden als indisch-französisch-englische Koproduktion, schildert sie das Schicksal der Straßenkinder in Bombay in einer Art, wie sie aus dem Dokumentarfilm kommt, und wie sie für das indische Kino zu dieser Zeit undenkbar war. In Nairs Filmen sehen wir: Schicksal ist nichts anderes als eine Form der Abhängigkeit. Mira Nair ist vielleicht die größte Aufklärerin unter den indischen Regisseuren, die auch im Westen arbeiten. Aber es gibt ein Element, das sie mit den anderen verbindet – ein Misstrauen gegenüber der Zivilisation als Motor des Fortschritts. Auch Mississippi Masala (1991) erzählt vom Verlust der Identität: Eine indischstämmige Familie muss 1972 das Uganda Idi Amins verlassen und in Mississippi eine neue Heimat finden, die wieder verloren scheint, als sich die Tochter in einen Schwarzen verliebt. Man wird nicht weniger „indisch“, nur weil man nie in seinem Leben in Indien war. Die Konstruktion der Identität, das macht der Film auf seiner zweiten Ebene klar, ist eher eine der Bilder als der Geschichte. Spätestens mit Kama Sutra (1996) gibt es auch für Nair eine Art der ikonographischen Rückbesinnung. Ein Kreis der Bilder beginnt sich zu schließen, der vielleicht „von außen“ noch einmal den Impuls für ein neues indisches Kino geben könnte.
Zwischen den Kulturen
Diese Rückkehr der Bilder ist freilich durchaus schmerzhaft. Deepa Mehta drehte als kanadische Produktion Fire (1996), und wie Shekhar Kapurs Bandit Queen (Phoolan Devi, 1994) verursachte der Film über die Gewalt der Männer und die Solidarität der Frauen in Indien selbst heftige Proteste und Zensur. Der merkwürdige Spiegel von Außen, den indische Regisseurinnen und Regisseure nur im Exil ansetzen können, wird vom Mainstream der indischen Produktion eher abgelehnt als absorbiert. Aber ebenso schwierig erscheint es für die Regisseure, sich über das ursprüngliche Thema hinaus zu entwickeln.
Bandit Queen ist ein typischer Film zwischen den Kulturen, der beiden Seiten einen Teil von Unlesbarkeit zumutet. Dem westlichen Zuschauer bleiben einige der Kastenregeln und der Moral-Codes, die die Handlung begründen, unverständlich; dem indischen Publikum ist die direkte, realistische Erzählweise schwer zu vermitteln. Kapurs englische Produktion Elizabeth (1998) dreht diese Komposition gleichsam um; es ist ein indischer Film über eine europäische Gestalt; er behandelt die Frage der Selbstinszenierung und Selbsterhöhung. Ganz ähnlich verhält es sich mit einem Film wie Rajan Khosas Der Tanz des Windes (Dance of the Wind, 1997), der in Koproduktion von Indien, Deutschland und England entstand. In dieser Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung verliert eine junge Sängerin während eines Konzerts die Stimme; die Trauer um den Tod der Mutter und die Suche nach dem „reinen Klang“ mögen die Ursachen sein. Wieder funktioniert da ein Film nur genau zwischen den Kulturen; westliche Erzählweise und indischer „Inhalt“ ergeben eine Wanderung der Bilder in ein Grenzland.
Shekhar Kapur gehört – mit M. Night Shyamalan und Tarsem Singh – zu den erfolgreichsten indischen Regisseuren im Ausland. Wie Singh und Shyamalan versteht auch Kapur die Kunst, gleichsam rückwärts zu erzählen; mit Bandit Queen und Elizabeth entwirft er Diskurse von Weiblichkeit und Gewalt, die im Kanon der westlichen Genres nicht vorgesehen sind: „Ich versuche zu zeigen, wie aus einer Frau eine Ikone wird“, sagt er. Und die Idee, in die Bilder einzudringen und das in ihnen aufgehobene Leben (oder Sterben) zum Vorschein zu bringen, kann durchaus als eine Konstante des „Indischen“ im angelsächsischen Kino gelten. Kapur ist einer der großen Wanderer zwischen den Welten; er bekennt sarkastisch, dass man ihn als Regisseur für Elizabeth ausgewählt hat, weil man ihn als Inder für „ignorant und chaotisch“ genug hielt, für jemanden, „der sich diesem zutiefst britischen Thema nicht mit allzu großer Ehrfurcht nähert“. Die Auflösung der fixen Ikonographien ist also offensichtlich nicht nur ein individuelles künstlerisches Anliegen, sondern auch eine bewusste Absicht der Bilderindustrie. Die Auflösung der Mythologien aber ist eine Voraussetzung für den aufgeklärten Dialog. Kapurs nächstes großes Projekt ist ein Film über den Mörder von Mahatma Gandhi. Kurzum, in all diesen Fällen geht es darum, die Codes nicht mehr nur zu kannibalisieren, sondern wirklich zu ändern.
Singh ist in seinen Clips (unter anderem für die Band R.E.M.) und seinen Filmen (The Cell, 2000) unbeschwert dabei, die multireligiösen Bilder in eine Art spirituelle Trash-Ästhetik zu übersetzen. Die multispirituelle Erfahrung verwandelt sich bei ihm in einen Trip. Radikaler wohl lässt sich diese Erfahrung im nebeneinander hinduistischer Tempelbilder, buddhistischer Bilder, christlicher Ikonen und muslimischer Ornamentik nicht veräußerlichen: eine Pop-Variation eines Bollywood-Traumes im Kopf eines von allerlei Kulturschocks und ziemlich offenen Sinnen bestimmten Regisseurs. Der in Madras geborene und in Pennsylvania aufgewachsene M. Night Shyamalan, dessen Filme einen sensationellen Erfolg hatten (bei Signs hat sich die Aufnahme deutlich abgekühlt) geht dagegen einen Weg nach innen, in die Erzählung selbst, deren abendländische Grundlagen sozusagen von innen heraus in Frage gestellt werden. The Sixth Sense (1999) und Unbreakable (2000) waren in der Tat Innovationen auch für das globalisierte Kino. Wenn man etwas Gemeinsames finden will in diesen Filmen, so ist es wohl ein Prinzip der Erlösung, das der christlichen Bußpredigt im Kino entgegengesetzt ist.
Dieses Angebot an „esoterischen“ Bildern führt zu den Gründen der Nachfrage für die Bilderwanderung. Die große Gefahr, der die globale Bildermaschine Hollywood sich gegenüber sieht, ist der Verbrauch ihrer Ressourcen und Innovationskraft. Das entropische System dieser Fabrikation braucht den Zufluss von außen. Hollywood muss sich sozusagen gegen seine Bollywoodisierung wehren, indem sie auch diese, vielleicht letzte Quelle der Innovation anzapft.
Das Phänomen dieser Wirkung ist indes umfassender. Als die Regisseure aus Hongkong ins westliche Ausland gingen, weil sie nicht zu Unrecht fürchten mussten, auch in der Situation von „Ein Land, zwei Systeme“ in ihrer künstlerischen und ökonomischen Freiheit beschnitten zu werden, konnten sie damit rechnen, dass ihre Art des Filmemachens – wie, sagen wir, das heroic bloodshed von John Woo oder Tsui Hark – im Westen erwartet und gar vom Publikum gefordert wurde (bei Woo moniert man, dass er in Hollywood zu viel von seinem eigenen Stil preisgegeben hat). Indische Regisseure können mit einem solchen Bonus nicht rechnen. Der Versuch, so etwas wie einen „Curry-Western“ oder indische Actionfilme zumindest auf dem Video-Markt im Westen zu lancieren, war in den siebziger Jahren kläglich gescheitert. Ein neuer Anlauf, zumindest auf dem Video-Sektor maßvoll verwestlichte Bollywood-Stoffe zu exportieren, bleibt in Ansätzen stecken. Mission Kashmir (2001, Regie: Vidhu Vinod Chopra) nutzt dabei offensichtlich die Aktualität des Themas. Die Story ist durchaus vertraut: Ein Polizist nimmt den überlebenden Sohn einer im Grenzkonflikt umgebrachten Familie auf, und als das Kind herangewachsen ist, muss es erkennen, dass der Adoptivvater selbst für das Massaker verantwortlich ist. Doch scheint uns ein solch kruder Genre-Mix vor dem Hintergrund eines realen Konflikts eher noch fremder als er es in einer irrealen Legendenwelt wäre. Das Bollywood-Kino ist selbst mindestens so kannibalistisch wie Hollywood, wie es für den „Masala“-Film bezeichnend ist, der bedenkenlos Elemente des klassischen „Melodramas“ mit Martial Arts und Agentenfilm-Klischees mixt. Das indische Mainstream-Kino, so Shekhar Kapur, hat sich „so exakt den Wünschen des indischen Publikums angepasst, dass Veränderungen nur sehr schwer durchzusetzen sind. So konnte sich der indische Film – anders als im Westen – nie zu einer eigenen, neuen Kunstform entwickeln.“ Gegen dieses Urteil gibt es berechtigte Einwände, aber es beschreibt sicher den Mangel der größten Filmproduktion der Welt.
Eine neue Spiritualität
Allenfalls ein vages Versprechen auf ein zugleich prächtiges und spirituelles Kino hielt das Publikumsinteresse jenseits der Cineastenszene aufrecht. Neben den musikalischen Melodramen des Hindi-Kinos und Ansätzen für eine realistische Revision gibt es eine solche Tradition eines spirituellen Kinos, das von vorneherein auf eine „nomadische“ Wirkung hin konzipiert ist. Eine der größten Off-Bollywood-Produktionen der siebziger Jahre, Karunamayudu (1978, Regie: A. Bhimsing), beschreibt das Leben Jesu in der Form einer – wieder mit Tanz und Gesang unterschnittenen – Legende eines Gurus, der viel weniger eine konkrete Religion als vielmehr „allgemeine“ Spiritualität als Antwort auf die Ernüchterungen des Lebens anbietet. Man mag diesen Film heute als höchst bizarres Dokument eines radikalen Scheiterns im Austausch religiöser Empfindung und Ikonographie ansehen, aber ebenso gut auch als Vorahnung einer freien Transzendentalität, wie sie sich in jüngerer Zeit in Filmen wie The Cell oder The Sixth Sense ausdrückt: Was dem indischen Kino im eigenen Land nicht gelungen ist, eine auch ikonographische Versöhnung der unterschiedlichen Religionen, das mag seinen Transformationen in der westlichen Pop-Kultur gelingen.
Und darin gerade liegt vielleicht der derzeitige Erfolg nicht nur einiger indischstämmiger Regisseure im Weltkino, sondern auch ein weitergehender Einfluss des Indischen: Sie bringen eine Tradition der spirituellen Toleranz mit, die im Indien von heute, unter der Vorherrschaft eines keineswegs immer „unschuldigen“, zunehmend politisch aufgeladenen Hindi-Kinos, drastisch verloren zu gehen droht. Buddhistische, muslimische, hinduistische und christliche Elemente sind einander zugewandt, ohne sich zu bekämpfen. Aus dieser Sehnsucht nach spiritueller Toleranz mag auch ein faszinierendes Menschenbild entstehen, eine Art der zärtlichen Transzendenz, wie wir sie in den Filmen von M. Night Shyamalan sehen, oder auch eine Art der zärtlichen Konfliktbearbeitung wie bei Mira Nair. So wie sich der globalisierte Film vom chinesischen Einfluss neue Bewegung versprechen konnte, so kann es sich vom indischen Film eine neue „Fülle“ versprechen.
Freilich scheinen die einzelnen Regisseurinnen und Regisseure so unterschiedlich, dass man kaum von einem bewussten Impuls sprechen möchte. Ob es so etwas wie eine indische Welle im westlichen Kino gibt, sei also dahingestellt. Mit Der Super-Guru (The Guru, 2002, Regie: Daisy von Scherler Mayer) gibt es jedenfalls schon einmal die fällige Parodie. Der Film spielt mit dem Mythos des giggling guru Madan Kataria, aber natürlich kann man ihn auch als Metapher auf jene transkulturellen Missverständnisse sehen, die das Kino nicht verschonen.
Für die dritte Form des Bilderflusses, das Kino der Métissage, kann der Überraschungserfolg Kick It Like Beckham (Bend It Like Beckham, 2002; Kritik in epd Film 10/02) stehen. Die indisch-britische Regisseurin Gurinder Chadha, die als BBC-Reporterin begonnen hatte und mit „Bollywood United“ ironische Rückschau hielt, konnte den Film in einer bemerkenswerten Koproduktion von England, Deutschland und den USA realisieren, obwohl er einer der „lokalsten“ Filme des Genres ist.
Métissage-Filme spielen im Dreieck von Emanzipation, Identität und Heimat; sie müssen das alles nicht nur suchen, ihre Heldinnen und Helden müssen es erfinden. Deshalb gibt es kein klares Zurück und kein klares Vorwärts. Und natürlich gibt es zwischen den Themen der Métissage und dem ikonographischen Austausch in den Bilderfabriken keine klare Trennung. Shyamalans erster Film, Praying With Anger (1992), schildert den Versuch eines indischstämmigen Studenten, in seiner Geburtsstadt Madras die Spuren seiner Existenz zu finden. Dass dieser Film in Shyamalans Filmographie in der Regel vergessen wird, mag belegen, wie sehr wir noch in der Bewegung der Bilder unterteilen zwischen dem, was gesucht wird, und dem, was – im doppelten Sinne – angekommen ist.
Georg Seeßlen
Erschienen in: epd Film am: 30.10.2002
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