Der Tatort Münster versucht sich im ernsten Fach. Das Ergebnis ist eine absurde „Feierstunde“ des Krimis, die von Kritik und Publikum aber trotzdem geliebt wird. Warum bloß?
Nach längerer Zeit habe ich wieder mal einen Münster-„Tatort“ gesehen. Einen Jubiläums-Tatort. Zwar markiert die Zahl 30 ein reichlich krummes Jubiläum, doch sie sollte doch einen Einschnitt markieren: Weniger Allotria um und mit Thiel und Boerne, stattdessen Tragik und einen klassischen Krimiplot.
Prinzip des spätromantischen Gruselromans
Um das Ergebnis vorwegzunehmen. Ich habe mich geärgert. Erst über ein heillos konstruiertes Drehbuch (Elke Schuch), eine effekthascherische Regie (Lars Jessen) und einen Professor Boerne, der eine Episode lang Opfer sein darf und seine wohl sonst vernachlässigten Qualitäten als Tragöde mit Herz ausspielen soll. Gleich in der ersten Sequenz wird Boerne auf offener Bühne erschossen. Welch ein Spektakel, was für ein Blutbad! Doch April, April. Es handelte sich nur um den Tagtraum eines mickrigen, von Rachegefühlen zerfressenen Juniorprofessors aus der Neuro-Anatomie. Dafür bekommt Boerne später vom gleichen Mann eine hochtoxische Droge ins Party-Häppchen injiziert und wird im Finale endgültig für tot erklärt. Doch wieder falscher Alarm. „Professor Boerne ist unsterblich“, erklärt Kommissar Thiel der in Haft genommenen Ärztin. Robert Downey jr. und sein Sherlock Holmes lassen als Zitat bei dieser Wiederauferstehung eines Detektivs grüßen.
Das zweites Ärgernis: Medien, die wie die FAZ regelmäßig viele Zeilen auf eine Tatort-Vorschau verwenden, es aber nicht wagen, dramaturgische Ungereimtheiten und inszenatorische Lücken zu benennen oder einen Film gar zu verreißen. Stattdessen hebt Ursula Scheer auf das Augenscheinliche ab: „Die Zeit der Pointen ist vorbei“. Das ist richtig beobachtet und politisch korrekt, die Zeiten werden bekanntlich immer härter. Diese journalistische Selbstbeschränkung auf das Vordergründige hat mit der Angst zu tun, zu viel zu verraten. Man will nicht als Spielverderber dastehen, der das letzte Lagerfeuer der Nation zur Unzeit löscht. Höchstens schreibt man wie Holger Gertz in der SZ von einer „teuflischen Therapeutin“, die sich immer mehr ins Bild schiebt: „Das ist dann endgültig eine Irre zu viel.“ Das ist dann schon nah dran am Spoilern…
Die „Tatort-Nachlese“ in der Online-Version der SZ am Montag verfolgte diesen vielversprechenden Pfad aber nicht etwa weiter, sondern attestiert dem WDR-Produkt lobhudelnd: „Münster kann auch Kammerspiel“. Womit wir bei Ärgernis Nummer drei wären: Nachschau heißt manches, aber keinesfalls Vertiefung. Carolin Gasteiger beschränkt sich darauf, eine Art Hitparade mit Tops & Flops der „Feierstunde“ aufzustellen und transkribiert überdies den angeblichen besten Drehbuch-Dialog. Der Krimi bleibt unhinterfragt, Fragen nach Sinnhaftigkeit und intelligentem Spannungsaufbau und historischen Vorbildern werden gar nicht gestellt. Ein naheliegender Verdacht: Die Nachkritik steht im Bann der notorisch guten Einschaltquoten des „Tatort“.
Dabei waltet in diesem Tatort, wie überhaupt in modernen Kriminalfilmen, das Prinzip des spätromantischen Gruselromans, der Logik und Wahrscheinlichkeitsregeln außer Kraft setzt. Was zählt, ist die Vermittlung von wohligen Schauer mitsamt der Gewissheit, dass sich am Ende doch alles zum Guten wendet. Boerne, der totgeglaubt war, doch dann wieder die Augen aufschlägt, ist das kokette Sinnbild für diesen uralten Märchenwunsch.
Mega-Gestalt des Bösen
Die Frau, die bis zum Finale dem Gerichtspathologen Boerne nach dem Leben trachtet, ist eine moderne Ausgabe des „mad professor“. Eine Seelenklempnerin (Oda Thormeyer), die sich so lange mit dem Fall des gescheiterten Medizinforschers Professor Götz (Peter Jordan) beschäftigt hat, bis sie von dessen Rachephantasien angesteckt wird. Vulgär-psychologisch gesprochen: ein Fall von fatal-falscher Übertragung. Erst spornt die Ärztin den Patienten zur Bluttat an, dann – als er kurz vor dem Ziel zu versagen droht – bringt sie ihn – Wendepunkt! – eiskalt um und wird im letzten Akt zur neuen Nemesis Boernes. Sie ist die Hybridversion einer gemeingefährlichen Psychologin, die sich die Lizenz zum Töten ausstellt, aber auch als Chiropraktikerin mit heilenden Händen am maladen Rücken von Kommissar Thiel (Axel Prahl) tätig ist und als Deeskalationsexpertin bei der Geiselnahme vom SEK geschätzt wird. Mit einem Wort: Sie ist ein – durchaus attraktiver – Teufel. Mit dieser Mega-Gestalt des Bösen hat der deutsche Film große Erfahrung. Der Teufel kommt immer dann ins Spiel, wenn das Böse in sicherer metaphysischer Distanz gehalten werden soll und bloß nicht konkret gesellschaftlich benannt werden darf.
Die Autorin bedient sich bedenkenlos im Reservoir gängiger Krankheits- und Terrorismus-Topio und mixt sie zu einer Background-Geschichte, die so abenteuerlich ist, dass sie hier rekonstruiert sein soll: Die Frau des unglücklichen Professors Götz ist demnach unheilbar krank, soll – Reizwort 1 – Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) haben, ist mithin schwerstens gehandikapt. Gleichzeitig soll die Frau aber in der Lage sein, sich mittels einer – Reizwort 2 – Pumpgun das halbe Gesicht wegzuschießen. An diese furchterregende Feuerwaffe ist sie durch eine Verkettung unglücklicher Umstände gekommen. Der Postmann klingelte und vor der Tür stand der Paketbote mit einer Sendung aus dem – Reizwort 3 – Internet. Ihr waffennärrischer Mann hatte sich aus finsteren Quellen bereits ein Arsenal an Vernichtungsinstrumenten besorgt, doch ausgerechnet in diesem Fall kommt Götz zu spät. Seine ALS-Frau hat – Lähmung hin oder Rollstuhl her – die Pumpgun bereits ausgepackt, Munition eingelegt und abgedrückt. Mit blutigem Erfolg und weitreichenden Folgen. Ihr Mann rastet nun wirklich aus. Als Witwer setzt er um, was ihm seine Psycho-Mentorin längst schon nahegelegt hat. Mit dem Triumph der Kontingenz nehmen die Dinge ihren Lauf.
Der auf Boernes Mumienforschungsprojekt – natürlich unbegründet – neidische Götz setzt die Festgesellschaft in einem Restaurant als Geiseln fest, hat es aber vor allem auf den Gastgeber abgesehen. Die Zahl der Gäste bewegt sich in kammerspielartiger Größe, wir sind ja nur beim Fernsehen. Die wundersame Fesselung der sechsköpfigen Küchenbrigade durch einen Einzeltäter zu zeigen, erspart sich der Regisseur durch gnädige Auslassung. Der Geiselnehmer verkleidet sich als Bedienung und findet – das ist auch der FAZ-Rezensentin als milder Kritikpunkt aufgefallen – bei seinem Kellner-Opfer ein perfekt sitzendes Outfit. Schon wieder ein Zufall, der die Handlung in Gang hält. Danach schaukeln sich das schleichend wirkende Gift im Gasthof und die verzweifelte Suche nach einem Gegengift im Labor wechselseitig hoch.
Auch wenn von Witz und Humor bei dieser Tatort-Münster-Ausgabe wenig zu entdecken war, ähnelt „Die Feierstunde“ doch einem großen, blutigen Kasperletheater. Die Personen – darunter das große Stammpersonal des Münsterschen Tatorts – verhalten sich todernst, doch ihr Handeln lässt sie absurd erscheinen. Dagegen erscheint das fröhliche Ping-Pong-Spiel zwischen Thiel und Boerne in den früheren Folgen als ein Quell der Belustigung, auch wenn das schlechte Ende für den arroganten Gerichtsmediziner immer schon ausgemacht ist. Aber das gehörte schon zu den stillschweigenden Verabredungen in der Commedia dell’Arte.
Ach ja, das letzte Ärgernis sei nicht verschwiegen: Auch in seiner ernsten Version erzielte der Tatort-Münster einen einsamen Spitzenwert von 13,3 Millionen Zuschauern. Die Beliebtheit des kauzigen Pärchens Prahl und Liefers ist auch durch Selbstbeschädigungen dieser Art nicht zu erschüttern. Nach Senderlogik ist das nur ein weiterer Beweis, dass beim Tatort alles geht. Also weiter so. Der Krimi schlägt alle anderen Fernseh-Waffen. Noch. Immer noch.
Michael André
Bild: Une représentation de la commedia dell’arte par la troupe des Gelosi (1571-1604) | Own work PRA, 2007-09 (gemeinfrei)
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