Was bewirken eigentlich kulturelle Solidaritätsaktionen? Das könnte man sich am Ende eines beispiellosen medialen Hypes fragen. Denn „Evidence“ – die große Ai-Weiwei-Retrospektive im Martin-Gropius-Bau – war natürlich auch als Solishow für den von den kommunistischen Machthabern in China drangsalierten Künstler gedacht. Sie endete nach drei Monaten mit einem Besucherrekord, wie ihn das Haus seit der Frida-Kahlo-Retrospektive vor vier Jahren nicht erlebt hat. Knapp eine Viertelmillion Menschen besuchte die Schau, selbst Bundespräsident Gauck pilgerte durch den Parcours. Gropius-Bau-Chef Gereon Sievernich bilanzierte eine der spektakulärsten Ausstellungen seiner zu Ende gehenden Amtszeit mit einem denkwürdigen Anfall rhetorischer Blockbusterei. Er erklärte Ai gleich zum „wichtigsten Künstler Chinas“. Doch trotz des immensen Aufwands ist die Aktion Ai seltsam folgenlos verpufft.
Mit Kunstausstellungen lässt sich in den seltensten Fällen Politik machen. Wenn überhaupt, sind sie so etwas wie Wahrnehmungspolitik. Und Ais Bild in der Öffentlichkeit pendelt mittlerweile zwischen zwei Extremen. Den einen hat sich das Bild der nachgebauten Zelle, in der Ai 81 lange Tage schmachten musste, unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Die anderen blicken auf die Ai Weiwei zum Verwechseln ähnelnde Figur, die in der zeitgleich gezeigten Schau „Die 8 der Wege“ mit chinesischen Künstlern in den Uferhallen am Boden lag. Hier stand der Held des aufrechten Gangs und des Widerstands. Dort lag der gestürzte Held der globalen Selbstvermarktung, der die restlichen Dissidenten in China in den unverdienten Schatten stellt. Trotzdem ist es für Ai natürlich überlebenswichtig, dass man seinen Fall im Bewusstsein der weltweiten Öffentlichkeit gehalten hat.
Doch weder konnte Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem jüngsten Staatsbesuch in China die dortige Regierung dazu bringen, Ai die Ausreise zu erlauben, damit er endlich selbst einen Blick auf seine Ausstellung werfen könnte. Noch haben „Die Freunde Ai Weiweis“ bislang erreicht, dass der Künstler die Honorarprofessur antreten kann, die ihm die Universität der Künste zuerkannt hatte.
Aber vielleicht schließt das Publikum Künstler immer dann besonders eng ins Herz, bei denen Leben und Werk zusammenfallen. Wenn sie, wie Ai und Kahlo ewig Schmerzensfrauen, Schmerzensmänner bleiben, bei denen man ewig mitleiden kann.
Ingo Arend, taz 19-07-2014
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