Muss. Will nicht. Muss!
Matthias Glasners Film »Der freie Wille« ist die mutige Studie eines Vergewaltigers.
Die Entscheidung ist radikal und unwiderruflich. Nicht dem Opfer einer Vergewaltigungstat, die dieser Film zu Beginn ausführlich und ohne uns viel zu ersparen zeigt, folgt die Handlung, sondern dem Täter. Das ist ein guter Grund, »nein« zu sagen. Nein dazu, dass ein Film den Vergewaltiger zur Hauptfigur macht, ihn gar zu verstehen und zu erklären unternimmt, während die Opfer gleichsam noch einmal allein gelassen werden. Nein dazu, dass dieser Figur mit Jürgen Vogel ein großer Schauspieler gegönnt wird, ein begnadeter Darsteller von störrischen Verlierern und Tätern, die immer auch Opfer sind. Und an diesem Nein würde auch nichts ändern, dass Der freie Wille ein in allen Belangen großartiger, genauer und bis in jede Einzelheit durchdachter Film ist. Im Gegenteil.
Es ist wahr. Die Täter schreiben die Geschichten. Die Opfer bleiben ihr Material. Täter siegen noch in Klischees wie dem von der Schurkenrolle, die auch im Genrefilm stets interessanter ist als die des Helden. Täter werden die größeren Bilder. Nur die Götter könnten verhindern, dass die Geschichte Tätergeschichte wird und dass das Bild Mordbild bleibt. Welche Götter?
Wenn man aber nicht grundsätzlich nein sagt, sondern dem Film folgt, wie er es angelegt hat, nämlich zögernd, zweifelnd, dann allerdings führt er uns zu Regionen, die noch weit tiefer liegen, als ein Täter-Opfer-Diskurs dringen mag.
Matthias Glasners Der freie Wille ist, zunächst, die Geschichte einer verdammten Seele: Theo Stoer, den wir am Anfang sehen, ein bisschen dicklich, fast autistisch, nicht besonders belastbar. Zumal in seinem Job in der Küche eines Schullandheims an der Ostsee, den er im Zorn verlässt. Dann, in den Dünen, kommt ihm eine junge Radfahrerin als das ideale Opfer daher; er verfolgt sie, fesselt sie, schlägt sie brutal, zertrümmert ihr Gesicht, vergewaltigt sie. Theo Stoer wird verfolgt, halb totgeschlagen, kommt für Jahre ins Gefängnis. Es war nicht seine erste Tat.
Nach neun Jahren im Maßregelvollzug wird er entlassen. Ist er ein anderer geworden? Geändert jedenfalls hat sich sein Verhältnis zum Körper. Dieser Körper bekommt jetzt eine Form, durch gymnastische Übungen, Klimmzüge, Kampfsport. Als müsse er ihn kontrollieren, bekämpfen, neu erfinden. Theo Stoer will sich beherrschen. Er weiß, dass er krank ist, und glaubt, zur rechten Zeit in die Psychiatrie zurückkehren zu können, wenn die schrecklichen Impulse wieder über ihn kommen. Und die Welt ist voller gefährlicher Signale für ihn, durchsetzt von frivolen Werbeplakaten und sexuellen Installationen. Sie hat keinen Raum für einen wie ihn; es gibt Frauen und keinen anderen Weg zu ihnen als die Gewalt. Die Frau zieht ihn an und erfüllt ihn mit Hass. Aber warum? Und wie damit leben?
In Glasners Film ist das Monster drauf und dran, vor seiner Krankheit zu kapitulieren. Aber es geschieht etwas anderes: Theo Stoer begegnet Nettie, die, womöglich, Opfer einer anderen Form des Missbrauchs ist. Mit letzter Kraft hat sie sich von ihrem Vater gelöst, der Theo Arbeit in seiner kleinen Druckerei gegeben hat; ihre Einsamkeit ist so grenzenlos wie die seine. Kann die Liebe diese beiden verstörten und verlorenen Menschen retten? An dem Abend, an dem Nettie, die sich schon beinahe ein »normales« Leben vorstellt, mit ihren Arbeitskollegen ein wenig feiern geht, kommt in Theo das Ungeheuer hervor. Er vergewaltigt wieder eine Frau.
Wenn die Kamera halbminutenlang in der Nahaufnahme im nachtblauen Gegenlicht auf Jürgen Vogels Gesicht beharrt, dann ist die Erinnerung an ganz ähnliche Einstellungen in den expressionistischen Monsterfilmen da. An den somnambulen Mörder in Das Cabinet des Dr.Caligari, an Jack, den Bauchaufschlitzer in Die Büchse der Pandora, an Paul Wegeners Golem. Es sind Wesen, die nicht eins mit sich sind, unschuldig im Bösen, mörderisch in kindlicher Reinheit. Das Gesicht wird zur Skulptur des Unheimlichen. Immer wieder scheint es, als wolle Matthias Glasner daran erinnern, wie Peter Lorres feister kleiner Triebtäter in M – Eine Stadt sucht einen Mörder seinen Zwang hinausschreit, als ihm der Prozess in der Unterwelt gemacht wird: »Will nicht. Muss. Will nicht! Muss!« Genau wie Lorre wird auch das Monster Jürgen Vogel wieder weich in seiner Untat. Wie der Mörder in M in kindlicher Gier auf der Straße in den Apfel beißt, so sehen wir Theo Stoer nach der Tat in seiner Küche Brei aus einer Schüssel löffeln. Sein Projekt, den Körper zu unterwerfen, ist ebenso gescheitert wie das, ihn in der bürgerlichen Liebe zu domestizieren.
Wie bei Caligari droht auch Jürgen Vogels Todeswesen einmal im trunkenen Karneval des Festes zu verschwinden. Als sei der Mörder in der bürgerlichen Regression, auf dem Jahrmarkt, am richtigen Ort. Ein Film wie Der freie Wille verhält sich zum expressionistischen Monsterfilm wie dieser zu den unheimlichen Bildern der Romantik. Das Grauen ist das Gleiche, das Todesbild einer Kultur, das Todesbild einer Klasse; ein sehr deutsches Bild.
Zum Glück ist Matthias Glasners Film nicht in einer Art realistisch, wie wir es von den »Sozialstudien« kennen. Die Autoren haben sich durchaus abgesichert – drei Jahre, so ist zu hören, haben die Recherchen gedauert, was die forensischen, die psychiatrischen Aspekte der Handlung anbelangt. Doch erst die mutige Entscheidung, an die Stelle der ausgeschriebenen Charaktere eher Skizzen zu setzen, gibt den Schauspielern Raum: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo und Manfred Zapatka liefern so Grandioses, eben weil sie von den Zwängen der Erklärungen und Eindeutigkeiten befreit sind. Und es bleibt, was diesen Film wie ein kalter Hauch durchzieht: Fremdheit.
Es geht, der Titel deutet darauf hin, um viel mehr als um die Erkundung einer kranken und gefährlichen Psyche. Dazu gehört, dass der Film sich sozusagen seiner eigenen Handlung widersetzt. Er zeigt immer anderes, immer mehr als das Thema, die Geschichte, das Drama, sogar mehr als die Tragödie. Die Kamera sieht hin, auch wenn es nichts zu erzählen, nichts zu sagen gibt. Man kommt gleichsam immer wieder vom Weg ab, beginnt sich für Judo-Griffe, Schokoladenherstellungstechniken oder Wohnungszuschnitte zu interessieren. Man erkennt Wiederholungen und Referenzen, man bewegt sich neben der Geschichte und damit auch, in gewisser Weise, neben dem Täter. Es geht nicht nur um den freien Willen der Menschen auf der Leinwand, sondern auch um den beim Zuschauen.
Vielleicht kann man diesen Film ansehen als ein Beispiel dessen, was der amerikanische Regisseur und Autor Paul Schrader den »transzendentalen Stil« im Film genannt hat. Darin gibt es auch ein Modell der Erzählung. Robert Bresson hat es in Europa entwickelt, Yasujiro Ozu auf der anderen Seite der Welt, Schrader selbst versuchte sich an einer amerikanischen Variante, und Lars von Trier zitiert sie und treibt auch ein politisches Spiel damit. Es geht darin stets darum, die Geschichte eines Menschen im Elend zu begleiten. Schon am Beginn scheint sein Leiden, scheint seine Verdammnis im Verbrechen fast unerträglich. Aber es geht noch viel weiter, jede Hoffnung verkehrt sich in ihr Gegenteil, jede Suche nach dem noch so kleinen Glück führt in tiefere Verdammnis. Rationell kann man das »Ausweglosigkeit« nennen, moralisch gesehen ist der Begriff »Sünde« nicht fern, und wenn wir es marxistisch begreifen wollen, dann haben wir den absurden Endpunkt vollkommener Entfremdung vor uns. Was immer der Mensch unternimmt, um sich vor der Welt oder um die Welt vor sich zu schützen, steigert das Elend. Am Ende aber ist der Augenblick des größten Schmerzes auch der Augenblick der größten Gnade. Die Ekstase des Leidens geht in die Ekstase der Erlösung über. Der freie Wille folgt diesem Modell konsequent bis zu dem einzig möglichen Ende, im Sterben und in der Liebe zugleich, dem größten Schmerz und der größten Gnade. Pietà.
Der größte Skandal von Der freie Wille besteht darin, dass das Modell des transzendentalen Stils nicht auf ein radikales Opfer, auch nicht auf einen Dieb, einen Mörder, einen Verblendeten angewendet wird, sondern auf ein wahres Ungeheuer unserer Zeit. Einem Mörder wäre zehnmal leichter zu vergeben. Aber wo es die Theo Stoers gibt, da gibt es kein Menschenglück, da gibt es die Liebe nicht als Lösung aller Probleme. Und auch darin verweist diese Gestalt auf das »Monster« in den expressionistischen Filmen. Anders als etwa im angelsächsischen Horrorfilm ist dieses Monster gerade kein Symptom der verdrängten Impulse, kein Bild von Defiziten und Verboten. Das Monster des expressionistischen Films ist, was das Wort »Monstrum« ganz wörtlich meint, ein Zeichen, das nicht innerhalb der Gesellschaft steht, sondern selbst transzendental ist, nicht die spezifische Sünde, sondern die Verdammtheit des Ganzen meint. Dass der Mensch nicht zu Hause ist, sagt dieses Vorzeichen des Untergangs.
Die Frage, ob ein Triebtäter aus freien Stücken handelt oder aus Zwang, ob seine Tat Signal oder Symptom ist, ist letztlich nicht zu beantworten. Nicht weil uns dazu Erkenntnis und Interesse fehlten. Sondern weil beide Antworten gleich unerträglich sind.
Nein, der Film hat die Opfer nicht vergessen. Er verweigert nur jede auch noch so vage Aussicht auf Versöhnung. Und sei’s die kleine Münze von »Verständnis«. Denn die Tat des Vergewaltigers verdammt nicht nur das Opfer und den Täter, sie verdammt die Welt. So wie die Welt das Monster verdammen muss. Angesichts abwesender Götter.
Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 17.08.2006
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