Ein leiser, poetischer und lange in Erinnerung bleibender Film ist L´ Homme-Vertige – Tales of a City. Wie zwischen verschiedenen Seinszuständen, – da und doch nicht da – wie im Taumel oder Schwindel, scheinen die Protagonisten des Dokumentarfilms von Malaury Eloi Paisley.
Die Regisseurin filmt wiederholt die leeren Straßen und riesige auf ihren Abriß wartende Häuserblocks in Pointe-à-Pitre, dem ökonomischen Zentrum von Guadeloupe. Früher waren dort die Wohnungen der Arbeiter, jetzt sind es nur noch Geisterstädte, in denen die umherirren, die dort noch so etwas wie „ein Dach über dem Kopf“ finden. Malaury Eloi Paisley hat diese „homeless-people“ zum Teil über acht Jahre begleitet. Hemmungslos sprechen sie mit der Regisseurin, deren erster Film dies ist, über sich, über ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Träume. Und wie sie sprechen, das ist teilweise reine Poesie – Gedanken wie Gedichte – traurig und schön. Aber auch die vibrierende, vitale Rest-Kultur der Karibik wird manchmal spürbar, wenn zum Beispiel einer der Männer seine Rap-Texte performt. Immer geht es um die Narben und Spuren des Kolonialismus, um die durch die Geschichte und Politik zermahlenen Leben. Aber nicht nur. Da ist auch viel Widerständiges, viel Kraft.
In zum Teil betörend schönen Bildern schafft es die Regisseurin (die an der Sorbonne Malerei studiert hat – und das merkt man) in den Gesichtern ihrer Protagonisten zu lesen wie in offenen Büchern. So nahe ist sie ihren Protagonisten gekommen. Über kurz oder lang bekommt man letztendlich das Gefühl, sie alle stehen stellvertretend für all das Chaos in der Welt, für all die Verwerfungen und Konflikte. Ihr Schwindel, ihr „Vertige“, ist auch unser Taumeln – das will die Regisseurin sagen, und das gelingt ihr. Ein kleines Wunder ist dieser Film.
Ähnlich zart, aber sehr viel enigmatischer, ist Oasis of Now des malaysischen Regisseurs Chee Sum Chia. Auch in diesem Film, der ein Spielfilm ist, geht es um die Themen Identität, Armut, Heimat- und Ortlosigkeit. Die Hauptfigur Hanh (Thi Diu Ta) ist eine nach Kuala Lumpur emigrierte Vietnamesin. Sie darf ihre Tochter, die bei Adoptiv-Eltern aufwächst, nur heimlich treffen, weil sie selbst nicht für sie sorgen könnte. Das komplexe Verwandtschaftsverhältnis der beiden bleibt jedoch lange Zeit unklar. Als rechtlose Emigrantin überlebt sie nur knapp, indem sie Haushalte von anderen putzt, deren Kinder hütet, oder in einer Kneipe nicht nur Küchenarbeit macht, sondern zudem vom Besitzer zu unklar bleibenden Dingen gezwungen wird.
Auch in diesem Film sieht man viele abbruchreife, durchfeuchtete und vermüllte Häuserblöcke, in denen nur noch die leben, die nichts mehr zu verlieren haben. Hanh wohnt zwar auch dort, aber eigentlich ist sie immer in Bewegung. Wenn sie einmal zur Ruhe kommen darf, beginnt sie zu träumen. Immer wieder sieht man ihre schönen Hände, und was sie alles tun müssen, ihr fein geschnittenes Gesicht, die Zuneigung und Liebe zu den Kindern, die sie betreut und zu ihrer eigenen Tochter. All das steht im starken Gegensatz zur Brutalität und Härte ihres Alltags.
„Oasis of Now“ ist wieder ein Film, der nicht nur durch seine Ruhe und Konzentration auffällt, sondern auch durch seine Bildästhetik, seine äußerst exakt komponierten Bilder. Wie Gemälde von Edward Hopper wirken viele Einstellungen, vom Bild, vom Raum her gedacht. Daß Kino viel mehr sein kann, als eben „nur“ einfach eine Geschichte zu erzählen, gelingt dem malaysischen Regisseur in seinem absolut herausragenden Spielfilm-Debüt. Einer in seiner Zartheit brutalsten Filme der Berlinale.
Der Dokumentarfilm von Romuald Karmakar, Der unsichtbare Zoo, blickt mit großer Präzision und Ausdauer auf die unterschiedlichsten Aspekte eines Tierparks, am Beispiel des Zoologischen Gartens Zürich. Für Tier und Mensch ergeben sich im künstlichen Umfeld zahlreiche Probleme und Schwierigkeiten. Sie werden in Karmakars Film gleichermaßen dezent wie deutlich thematisiert. In original schweizerdeutsch (keine Bange, es gibt hochdeutsche Untertitel) stattfindenden Gesprächen, Team-Besprechungen, Bewerbungen etc., die immer wieder zwischen langen Einstellungen, die nur die Tiere zeigen, geschnittenen sind, erhält man Einblicke hinter die Kulissen dieses komplexen Gefüges und „Unternehmens“.
Der „unschuldige“ Zoobesucher/Zuschauer hat normalerweise nicht den Hauch einer Ahnung, wie viel Komplexität sich hinter dem Wort aus drei Buchstaben verbirgt. Die Krankheiten der Tiere selbst, aber auch die Gefahren der Übertragungswege zwischen ihnen und dann auch auf die Besucher, werden mehrfach zum Thema. Letztendlich steht dies paradigmatisch für die unnatürliche Nähe zwischen Mensch und Tier und für die künstliche Nähe der Tiere untereinander.
Die komplexen Arbeitsvorgänge, die Pflege, die Ernährung, die Unterbringung der Tiere und auch deren Tötung werden dokumentiert. Einmal muss ein Zebra dran glauben. Hautnah wird festgehalten, wie es getötet und zerlegt wird, wie sein Kadaver letztendlich im Löwengehege landet. Definitiv nichts für empfindliche Gemüter. In ruhigen und langen Einstellungen werden sowohl Tiere gezeigt, deren Lebenswelt geografisch gar nicht so weit erscheint (Gemsen, Rehe und Ziegen), aber eben auch die „Lebenswelt der Exoten: koppende, gelangweilte Elefanten, oder ein gewaltiger Tiger, der nur einen Gummiball zur Ablenkung in seinem engen Käfig hat.
Das Schlussbild zeigt einen Gorilla. Es ist Corona und keine Besucher sind im Affenhaus. Die lange Einstellung verweist auf die Eingangsszene. Sie zeigte einen künstlichen Regenwald, das üppige Grün, die Feuchtigkeit. Davon mag der Gorilla träumen, während er an die Glaswand schlägt.
Auch wenn der Züricher Zoo unter den „tierfreundlichsten“ eine führende Rolle einnimmt, laut „New York Times“ unter dem Stichwort „natural“ Platz 3 einnimmt, so der stolze Direktor im Film, bleibt nach den drei Stunden-Film ein gemischtes Fazit hinsichtlich Sinn und Wertigkeit. Ist das Ganze die Sache wert?, scheint der Regisseur uns zu fragen, ohne dass er irgendetwas kommentiert, oder so montiert, dass es eine eindeutige Message gäbe. Und das ist schon richtig viel, betrachtet man die meisten der anderen Berlinale -Filme.
Daniela Kloock
Bild oben: L’ homme-vertige : Tales of a City von Malaury Eloi Paisley | FRA 2024, Forum | © Athénaïse, Lyon Capitale TV
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