Crossing von Levan Akin ist vielleicht DER Film der Berlinale, dem es am ehesten gelingt, visuelle Eleganz mit gekonntem Erzählen zu verbinden.
Der Film basiert auf einer wahren Geschichte. Lia (Mzia Arabuli), eine georgische Lehrerin im Ruhestand, hat ihrer verstorbenen Schwester versprochen, deren verschwundene Tochter Tekla zu suchen. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft (Lucas Kankava), ziellos und zerzauselt, heftet sich an die Fersen der energischen und schlagfertigen Frau. Das ungleiche Paar macht sich auf die Reise von Batumi nach Istanbul, wohin Tekla angeblich geflüchtet ist. In den labyrinthischen Gassen der Stadt begegnet ihnen Evrim (Deniz Dumanh), eine Trans-Frau, die sich als Anwältin für die queere Szene, aber auch für ein elternloses Straßen-Kind, einsetzt. Sie hilft den beiden, Tekla zu finden.
Crossing ist bereits der vierte Spielfilm des schwedischen Regisseurs mit georgischen Wurzeln. Mit seinem vorangegangenen Film „Als wir tanzten“ (2019) war er bereits international erfolgreich. Auch in „Crossing“ zeigt er wieder sein Können. Wie Lia und Acci sich langsam annähern, wie sich ihre Suche nach der verloren gegangenen Nichte gestaltet, ist genau so sensibel und gekonnt erzählt, wie ihre Begegnungen mit den anderen Figuren des Films. Dabei geraten traditionelle Rollenbilder zunehmend ins Schwanken, Vorbehalte, Unsicherheiten und Vorurteile lösen sich nach und nach auf.
Ein fast ungewohnt menschenfreundlicher Umgangston bestimmt alle, aus so unterschiedlichen Welten kommenden, Protagonisten. Die Dialoge sind pointiert, bissig und humorvoll, und auch Musik und Tanz, wie könnte es anders sein, spielen eine große Rolle. Nicht zuletzt ist es die Kamerafrau (Lisabi Fridell) die, neben den bis in die letzte Nebenrolle fantastisch besetzten Schauspielern, zum Gelingen des Films beiträgt. Sie kreiert die schönsten Bilder für diese so zart erzählte, romantische Geschichte.
Teaches of Peaches ist dagegen rauh, laut und direkt. Wie könnte es auch anders sein, da es um die kanadische Sängerin Merill Beth Nisker, bekannt als „Peaches“, geht. Wie keine andere Musikerin hat sie die letzten 30 Jahre die männlich dominierte Musik- und Showbranche auf ihre Art kritisiert und karikiert. Die Rollenbilder der Unterhaltungsindustrie, deren Vorstellungen davon, was und wie eine Frau auszusehen und zu singen hat, all dies unterläuft sie genau so schrill wie drastisch. Ihr Credo: wir Frauen sind in/mit unseren Körpern fremdbestimmt. Ihre Message: Frauen, nehmt euch eure Freiheiten, laßt euch nicht ständig gängeln, durch Schönheitsvorgaben u.ä.m.
Skandalsängerin – so wird die Elektro-Pop-Queen häufig bezeichnet. Und ja, ihre Musik ist sexuell aufgeladen, ihre Texte sind „schmutzig“, ihre Kostüme originell-schamlos, und ihre Bühnen-Performances ein Spektakel an herrlich inszenierter, für manche zu provozierender Frauen-Power. Der Film dokumentiert, quasi rückblickend, die Transformation der mit Kindern singenden und Klampfe spielenden Erzieherin zu dieser weltberühmt gewordenen Pop-Punk-Ikone weiblichen Selbstbewusstseins. Aus Archiv-Aufnahmen, Live-Auftritten, Back-Stage-Szenen und Interviews mit Weggefährtinnen und ihr selbst, entsteht ein kurzweiliges, vielleicht etwas zu lang geratenes Portrait der außergewöhnlichen Sängerin. Auch wer nicht unbedingt Fan ihrer Musik ist, bekommt trotzdem Lust auf diese Künstlerin. Mit ihren knapp 58 Jahren versprüht sie nach wie vor eine Energie und Lebensfreude, die ansteckend ist und allen Konventionen den Stinkefinger zeigt. „Frauen lasst euch nicht verrückt machen, liebt Eure Bingo Wings!“- selten verließ man das Kino so gut gelaunt.
Verbrannte Erde, so heißt der neue Film von Thomas Arslan, der einfach alles kann: Western, Road-Movie und Thriller. In „Verbrannte Erde“ ist Trojan (Mišel Matičević), die Hauptfigur aus dem Thriller „Im Schatten“ (2010), zurückgekehrt. Etwas müde ist er geworden, aber ansonsten genau so einsam und schweigsam wie vordem. Zunächst klaut er nur einen Koffer mit hochwertigen Uhren, dann aber kommt der große Auftrag: ein Caspar-David-Friedrich Gemälde soll für einen anonymen Auftraggeber aus einem Berliner Museum gestohlen werden. Obwohl Trojan normalerweise allein arbeitet, muß er hier mit Kollegen – u.a. auch einer professionellen und super-coolen Lady (Marie Leuenberger) – kooperieren. Das mißfällt ihm, macht ihn von Anfang an mißtrauisch.
Mišel Matičević verleiht dieser Kunst- Figur erneut eine Präzision, eine Präsenz, die einfach umhaut. Hier stimmt jeder Blick, jede Geste. Und Thomas Arslan findet wieder die passenden Locations, um seinen Thriller in Szene zu setzen. Verrottete Fabrikanlagen, heruntergekommene Parkhäuser und Lagerhallen, ein ICC, das aussieht wie aus „Minority Report“. Sein bewährter Kameramann, Reinhold Vorschneider, fotografiert diese Orte so, daß man denkt „was ist DAS denn für eine Stadt?“ Abgeranzt, menschenleer, nachgerade futuristisch – es fehlt nur der Dauerregen. Dafür gibt es zahlreiche nächtliche und heftige Auto-Verfolgungsjagden , lustvoll inszeniert, und jede Menge Betrug, Intrigen und unschöne Morde. Das Ganze immer mit einer cleveren, ironisch-spielerischen Distanz – ein Thriller aus Deutschland, ja! „Verbrannte Erde“ – ein Thomas Arslan as its best!
Jia Ting Jian Shi – Brief History of a Family (Regie: Lin Jianjie). Der junge Tu Wei, einzige Sohn einer wohlsituierten chinesischen Familie, lädt seinen Mitschüler Yan Shuo zu sich nach Hause ein. Schnell wird klar, daß dieser aus einem komplett anderen/prekären Milieu stammt.
Staunend nimmt Yan Shuo die durchgestylte Wohnung, den Reichtum und den kultivierten Lebensstil der Eltern Tu Weis zur Kenntnis. Nach und nach schafft er es, immer öfters zu kommen, und erst die Aufmerksamkeit, dann das Mitleid, zuletzt die Liebe der Eltern auf sich zu ziehen. Denn er ist, im Gegensatz zu deren leiblichem Sohn, charmant, zugewandt, strebsam und klug. Die Eltern sehen in ihm nicht nur alles, was sie sich von ihrem leiblichen Sohn wünschen und nicht bekommen, sondern sie projizieren zudem ihre Sehnsucht nach einem zweiten Kind auf ihn. Auf Dauer kann dies jedoch nicht gut gehen. Nicht nur die Spannungen zwischen den beiden jungen Männern nehmen zu.
Der Debüt-Film des jungen chinesischen Regisseurs fällt in jederlei Hinsicht auf. Es gelingt ihm mit scheinbar leichter Hand und mit äußerst kunstvoll inszenierten Bildern, die Spannungen in den familiären Beziehungen einer Kleinfamilie zur Darstellung zu bringen. Ohne großes Drama, ohne viele Dialoge, oder effekthascherische, laute Szenen, sondern elegant und subtil. Der Vater Tu Weis ist Biologe und so wie diese Figur im Film unter dem Mikroskop Zellen erforscht, so macht es auch der Regisseur mit der Familie. Ein Fremder dringt von außen wie ein Virus in die familiäre Zelle ein und verändert damit das ganze System.
Fast parabelhaft wird darüber hinaus erzählt, wie groß und unüberwindbar die enormen sozialen Unterschiede in der zeitgenössischen chinesischen Gesellschaft sind. Visuell intensiv, dramaturgisch spannungsgeladen – kaum zu glauben, dass dies ein Debüt-Film ist. Kein Wunder, dass „Brief History of a Familiy“ beim diesjährigen Sundance Film-Festival als bester ausländischer Beitrag gefeiert wurde.
Daniela Kloock
Bild oben: Mzia Arabuli | Crossing von Levan Akin | SWE, DNK, FRA, TUR, GEO 2024, Panorama | © Haydar Tastan
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