Sterben – der längste Film zahlreicher langer Filme im diesjährigen Bären-Wettbewerb soll wohl eine Art Comedy-Drama sein in der Bewältigung dessen, was der Regisseur (Matthias Glasner) selbst erlebt hat. Oder soll man die drei Stunden als Glasners bildgewordenes Soziogramm einer deutschen Kleinfamilie verstehen? Entfremdung und Überforderung, Unverständnis und Kränkung, Trauer und Wut, all dies wird ausführlich thematisiert und rankt sich dabei um das titelgebende Thema, welches aber letztendlich im Hintergrund bleibt.
In fünf Kapiteln/Akten werden die einzelnen Mitglieder der Familie Lunies vorgestellt. Lissy (Corinna Harfouch) und Gert (Hans-Uwe Bauer), das sind die Eltern. Gert ist dement und an Parkinson erkrankt. Er irrt vorzugweise mit bloßem Geschlecht durch die Szenerie. Lissy ist die überforderte Gattin und Mutter. Sie ist selbst schwer erkrankt, schon lange emotional erkaltet. Und stirbt am Ende auch. Das erste Bild des Films zeigt sie sitzend auf dem Boden, in Fäkalien, angeekelt mit einem verschmierten Handy beschäftigt. Bereits diese Szene verdeutlicht, was der Regisseur in meinen Augen erfolglos versucht: die Bitterkeit des Alterns, Krankheit, Tod, mehrheitlich aber familiäre Verstellungen und Verhärtungen – teils komisch-grotesk überzeichnet, teils dramatisch überhöht – zur Darstellung zu bringen.
Tom (Lars Eidinger), der Sohn, ist ein halbwegs erfolgreicher Dirigent und gerade eben 1/4 Vater geworden – denn so sieht das heutige Hipster-Vater-Sein aus. Und auch Ellen (Lilith Stangenberg), die Schwester kann nur eine Metropolen-Figur sein. Ihr einziger Anker im Leben ist Sex und Alkohol. Ihre exzessiven Auftritte driften mehrfach ins Horrible oder Klamaukhafte ab.
Keiner hat mit keinem Kontakt. Verbunden sind die einzelnen Familienmitglieder bestenfalls übers Telefon. Dann stirbt Gert, mittlerweile in einem Heim untergebracht. Das ist dann eine der beiden starken Szenen des 183-Minuten langen Films, verdammt nah an der Wirklichkeit und dokumentarisch distanziert festgehalten. Hier macht es Sinn, dass der Film sich Zeit läßt. In der zweiten überzeugenden Szene sitzen sich Lissy und Tom gegenüber und gestehen, sich nie gemocht zu haben. Ein brutal-direkter Dialog, das vermutlich erste und letzte ehrliche Gespräch zwischen der Mutter und ihrem ungeliebten bzw. ungewollten Sohn.
„Warum sind wir, wie wir sind?“, fragt Tom an einer Stelle. Der Film gibt darauf eine allzu deutliche Antwort und bewegt sich dabei zwischen Kitsch und Kunst auf einem schmalen Grat. „Der schmale Grat“, genau so heißt eines der fünf Kapitel, eine Andeutung, dass der Regisseur, quasi augenzwinkernd, weiß, dass sein Film sich auf Messersschneide bewegt. Dass er nicht vollkommen die Balance verliert, ist vor allem den großartig aufspielenden Darstellern zu verdanken.
Architecton, der zweite deutsche Berlinale Wettbewerbs-Beitrag ist vom russischen Regisseur Victor Kossakovsky, der schon in „Gunda“; (Berlinale 2020) einem von Kritik und Publikum, mit ästhetisch überaus sorgsam ges Lieblingsfilm talteten Bildern für Aufmerksamkeit sorgte. „Architecton“ ist erneut ein Essayfilm, ohne Kommentierung, jedoch mit gewaltiger Orchestrierung. Es geht um Beton, diesen enormen Ressourcen verbrauchenden Baustoff und dessen Grundlage, Stein. Wie gigantische Bergmassen langsam in Bewegung geraten, Felsblöcke und Geröll dann zu einer Lawine werden, hält die Kamera gefühlt genau so lange und zum Teil in Zeitlupe fest, wie deren Zerkleinerung und Zermahlung. Am Ende kommt dabei das Material heraus, aus dem gemeinhin unsere Häuser, Gebäude und Brücken sind. Gegengeschnitten sind Nahaufnahmen mit einer schwarz/weiß Infrarot-Kamera. Sie zeigen von Natur überwucherte Tore und Türme, Tempel und Burgen – Reste von Bauwerken, die die Jahrtausende überlebt haben. Verzaubert und wirklich wie aus einer anderen Welt wirken diese Bilder.
Die Message ist klar und wird gegen Ende des Films noch vom einem berühmten italienischen Architekten und Designer, Michele De Lucchi, in Worte gefasst. Beton ist furchtbar, Häuser aus diesem Baustoff halten nicht lange, werden nach circa 40 Jahren abgerissen, sind zudem einförmig und öd. Sagt derjenige, der u.a. in den 1990er Jahren in Deutschland große Gebäude für die deutsche Bahn oder Bank entworfen und gebaut hat. Doch für die Welt von morgen kann es mit Beton nicht weitergehen. Bauen muss nachhaltiger werden. Gewinnt man mit so einer Aussage eine Filmtrophäe? Ästhetisch, stilistisch bietet der Film auf jeden Fall einiges, vor allem viele schrecklich-schöne Bilder.
Auch La Cocina (R.: Alonso Ruizpalacios) hat eine eindeutige Message. Ohne die Ausbeutung der Arbeitskraft jener, die keinen Rechtsstatus haben, bzw. jener, die die Drecksarbeit machen, für die sich alle andere längst zu schade sind, würde im Spätkapitalismus nicht mehr viel laufen – und schon gar nicht im Gaststättengewerbe. Und so ackern in „La Cocina“, im Mikrokosmos einer New-Yorker Großküche, Menschen aller Nationalitäten, mehrheitlich ohne Papiere, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Pedro (Raúl Briones Carmona), einer der vielen Köche und die Hauptfigur des Films, sorgt für Stimmung, treibt es aber auch häufig zu weit. Eine Zeitbombe sei er, sagt einer seiner Kollegen. Er hat ein Verhältnis mit der hübschen Kellnerin Julia (Rooney Mara). Sie ist von ihm schwanger, will aber das Kind nicht behalten. Und dann fehlen auch noch 800 Dollar aus der Abendkasse, genau der Betrag, den man für eine Abtreibung braucht. Zahlreiche unangenehme Befragungen und Drohungen hat das zur Folge, wobei die Haupt-Verdächtigen schnell ausgemacht sind.
Ein Schmelztiegel ist diese Küche, nicht nur der Herkünfte, – keiner spricht hier die Sprache des anderen – sondern auch der Emotionen. Man spürt, daß der mexikanische Regisseur weiß, wovon er „spricht“. All die komplexen Abhängigkeiten und Vorgänge, von denen Gäste in der Regel keine Vorstellung haben, werden deutlich, wenngleich manches etwas zu dick aufgetragen wird. Dass Ejakulat im Tiefkühlraum auf das dort gefrorene Fleisch spritzt, muss das sein? Auch ohne diese Szene ist klar geworden, dass in Küchen viel Sauereien stattfinden. Und das ist ein Grundproblem des Films. Zu viele Ideen sollen untergebracht werden, zu viel wird zu überdeutlich in Szene gesetzt. Auch wie die Liebes- bzw. Krimigeschichte erzählt und aufgelöst wird, überzeugt nur teilweise. Schade, denn das hätte ein toller Film werden können. Nicht nur der SchauspielerInnen wegen. Sondern auch, weil der Regisseur bildästhetisch etwas versucht, was deutlich aus den anderen Wettbewerbs-Beiträgen herausragt. Lange Plansequenzen wechseln mit schnell geschnittenen Nahaufnahmen ab, die durch ungewöhnliche Bildkompositionen auffallen, das Ganze dann noch in schwarz/weiss und in einem 4:3 Format gedreht, mit tollem Rhythmus der Montage, das macht schon Spass.
Daniela Kloock
Bild oben: Architecton von Victor Kossakovsky | DEU, FRA 2024, Wettbewerb | © 2024 Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH, Point du Jour, Les Films du Balibari
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