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Die gleiche böse Welt

Mit dem „Märchen der Märchen“ präsentiert Matteo Garrone die Bausteine für einen zeitgenössischen Märchenfilm, aber nicht die Geschichten

Eigentlich ist alles wie bei Garrones Vorgängerfilm „Gomorrha“: lose ineinander verzahnte Handlungsstränge zeigen in unruhigen Bildern das Zappeln verwirrter Anti-Helden in den Spinnennetzen von Schicksal und Gesellschaft, während sie vergeblich und verbissen nach einem schöneren Leben suchen. Am Ende sind beinahe alle Figuren tot, korrumpiert oder heillos desillusioniert. Der Unterschied: statt auf süditalienischen Bauruinen spielen die bösen Fabeln in süditalienischen Schlössern, für das Hauen und Stechen werden Schwerter und Lanzen statt automatischer Knarren benutzt, und es gibt als Schmankerl einen Wasserdrachen und einen riesigen Floh. Wieder einmal fällt es schwer, beim Betrachten einer Szene zu erkennen, was darin eigentlich im Detail und in welcher Reihenfolge vor sich geht, und es bleibt vor allem ein fiebriges Gefühl ängstlicher Anspannung angesichts bruchstückhafter Informationen.

Das „Pentamerone“ von Giambattista Basile aus den 1630ern gilt als die älteste erhaltene europäische Märchensammlung, als ein Markstein in der Entwicklung des „europäischen Zaubermärchens“. Unter anderem trumpft es mit der ersten literarischen Version von „Rapunzel“ und dem „gestiefelten Kater“ auf. Basiles Tonfall ist dabei dem der berühmteren Grimms 200 Jahre später diametral entgegengesetzt: das „Pentamerone“ gibt sich nicht grimmig archaisch, sondern verschmitzt höfisch, nicht knapp, sondern ausschweifend, und statt auf wuchtige volkstümliche Kurzdialoge setzt Basile auf einen steten Strom galanten Geplappers.

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Es ist eine luftige und ironische Märchensammlung mit wenig Grausamkeit und einem Hang zum diskret beschriebenen Grotesken. Eine Rahmenhandlung mit einander überbietenden Erzählern, sowie artig an den Schluss jeder Geschichte gesetzte Belehrungen unterstreichen die aufgeräumte und ein wenig distanzierte Atmosphäre aufgeklärter Spielerei. Als Ernst Bloch von der utopischen Heiterkeit des Märchens und seinem trotzigen Beharren auf prallen Wünschen und dem Sieg der Intelligenz schrieb (die Märchen als „Aufklärung, bevor es diese gab“), passte das besser auf das „Pentamerone“ als auf den romantischen Ernst der Grimm-Sammlung.

Garonne dagegen reißt als Bilderstürmer Basiles Märchen den Boden unter den Füßen weg, entfernt weitgehend Magie und glückliche Enden und schildert ein klaustrophobisches Kleinuniversum aus drei befreundeten und verkommenen Königreichen im malerischen Nirgendwo. Drei Geschichten hat er sich aus Basales Sammlung herausgepickt: eine Version des „Zwei Brüder“-Märchens, einen derben magischen Schwank über zwei alte Frauen und einen jungen, schönen König, und eine jener tiefenpsychologisch aufgeladenen „Schöne und das Biest“-Variationen, in denen ein einsamer König seine junge Tochter einem Monster überlässt. Es sieht spektakulär aus: Licht flirrt über den Wellen brausender Flüsse, von der Zeit angenagte Prunkbauten aus hellem Stein wachsen aus zerklüfteten Felsen heraus, Kostüme leuchten prächtig und abgetragen in satten Naturfarben. Spielleute und Magier werden von keimfreien Klischees zu verunsichernd konkreten Erscheinungen. Es ist eine raue, reiche und glaubwürdige Gegenwelt, die hier entworfen wird, der größtmögliche Gegensatz zu den gelackten dämmerigen Computerbildern anderer aktueller Märchenverfilmungen. Dazu passend strotzen die Bilder von einer morbiden Sinnlichkeit, zeigen Erde, Matsch und angebissene Früchte, schmutzige nackte Körper, verlockende Baumschatten und blutige Wunden, die nicht nach Pixeln aussehen. Der Pasolini der „Decamerone“ und „1001 Nacht“-Filme stand unzweifelhaft Pate.

Aber während Pasolini sich bei der Auswahl alter Geschichten beinahe ausschließlich auf erotische Schwänke in zeitlos anmutenden Szenerien beschränkte, will Garrone unmissverständlich das phantastische Genre gleichzeitig bedienen und gegen den Strich bürsten, die bekannten Erzählungen bebildern und brechen und strandet ohne zwingenden eigenen Ansatz in einem unentschlossenen Mittelaltermarkt. Alle Elemente für einen neuen, notwendigen Märchenfilm sind da und finden keinen gemeinsamen Nenner. In seiner Zerrissenheit setzt Garrone verblüffenderweise vor allem auf Stars und Spezialeffekte: Minutenlang kämpft John C. Reilly gegen einen imposanten Wasserdrachen, was in der Vorlage gerade mal einen Nebensatz einnimmt, und bringt damit den erzählerischen Fluss des Brüder-Märchens schon zu Beginn zum Erliegen. Im gleichen Handlungsstrang hastet Salma Hayek als Königin ziellos durch pittoreske Wandelgänge, so dass für die eigentliche Fabel ihres Sohnes kaum Zeit, Raum und Fokus bleiben. Ein graubärtiger Vincent Cassel fällt als verhurter König durch mehrere malerische Tableaus, bevor seine Geschichte beginnt. Und ein Floh von der Größe eines Bären, ein Wunder der Tricktechnik und des Spiels mit ambivalenten Gefühlen von Ekel und Entzücken, ersetzt die Exposition in der Erzählung vom König, der seine Tochter einem Oger zur Frau gibt. Vielleicht ist es auch dem internationalen Cast geschuldet, dass Basiles ausufernde Dialoge zu beklommenem Schweigen und düsterer Einsilbigkeit heruntergekürzt werden. Die aus diesen Verschiebungen entstehende dramaturgische Indifferenz gleicht Garrone dadurch aus, dass er aus den Märchen letztendlich gehässige und warnende Moritaten macht: nur Könige kommen hier mit ihren Untaten davon, ansonsten muss jeder, der etwas wünscht und will, sündigen und anschließend überproportional dafür bezahlen. Die anspruchsvolle gelangweilte Prinzessin wird in einer Höhle vom Oger vergewaltigt. Im Gegensatz zu dem Pasolini vor „Salo“ findet Garrone wenig Schönheit und Trost in Natur, Sonnenlicht, Tieren und unspektakulärer Nacktheit. Seine Erzählweise erinnert eher an den „Struwwelpeter“ als an die von Bloch gerühmten Märchen. Am Ende des Tages sind Menschen gierig, beschränkt und böse, die Welt ist feindlich, und das abendfüllend, aber ein Feuerzauber sieht trotzdem prächtig aus.

Nun ist das „Pentamerone“ in Italien sicherlich ein Nationalheiligtum und schreit nach Widerspruch und Dekonstruktion. Möglicherweise verstecken sich im „Märchen der Märchen“ zwischen den Zeilen satirische Spitzen und herausfordernde Umdeutungen, deren Verständnis die Kenntnis von Literatur, Brauchtum und Nachrichten in Italien voraussetzt. Vielleicht liegt gerade im Verzicht auf die überall sonst propagierte psychologische Allgemeingültigkeit der Märchen Garrones größte Leistung. Im „Märchen der Märchen“ finden sich einmal nicht etwas Freud, sehr viel Jung und ein Hauch kalifornischer Humanismus, die dem Geschehen Sinn und erzählerische Stringenz verleihen würden. Aber auch als Metapher für Gesellschaft und Politik erscheint der Reigen stockend verschlüsselt. So ist das bunte und reichlich verstörende Treiben randvoll mit Bruchstücken von Kohärenz und Bedeutung, vermittelt aber vor allem opulent Ratlosigkeit und ohnmächtige Wut. Anders als nach „Gomorrha“ bleibt unklar, gegen wen oder was sich diese Wut richten könnte. Vielleicht sollen wir auf den Straßen dagegen demonstrieren, dass Könige, die sich überdimensionale Flöhe halten, ihre Töchter grunzenden Ogern zur Frau geben. Und vielleicht ist das keine Pointe.

Florian Schwebel

Bilder: Concorde