Die „Schneckenmühle“ ist ein Ferienlager für Kinder und Jugendliche am Rand des Erzgebirges hinter Dresden. Es existiert heute noch, aber in Jochen Schmidts Roman „Schneckenmühle“ ist es Ort des Geschehens im Sommer 1989, kurz vor dem Untergang der DDR. Davon ist allerdings wenig zu merken, sieht man einmal davon ab, dass erst einer, dann noch eine Erzieherin verschwinden, von denen anzunehmen ist, dass sie sich über Ungarn in den Westen abgesetzt haben. Doch auch das interessiert die Jugendlichen nicht, mal abgesehen davon, dass der Westen als möglicher Fluchtraum geeignet ist, die Gegenwart erträglicher zu machen. Doch vor allem ist jeder, wie der 14jährige Ich-Erzähler Jens aus Berlin-Buch, mit sich selbst beschäftigt, eingesponnen in Phantasien und Ideen und voller Angst, irgendwie peinlich zu sein. Denn peinlich ist in diesem Alter ja fast alles: die falschen Hosen, die falschen Frisuren, die falschen Bewegungen beim Tanzen oder auch nur die Warze auf dem Handrücken, die Jens unter einem kreisrunden Pflaster zu verbergen sucht. Er gehört eher zu den Schwächeren, Ängstlicheren, jedenfalls fühlt er sich so, ohne zu ahnen, dass er sich damit weniger von den anderen unterscheidet, als er glaubt.

„Langsame Runde“ lautet der Untertitel, den Schmidt fast wie eine Genrebezeichnung gewählt hat. Das bezieht sich nicht nur auf die besonders prekären langsamen Stücke auf der Tanzfläche, bei denen man die Körper eng aneinanderlegen muss, sondern auf die ganze Stimmung im Ferienlager, in dem die Zeit sich endlos staut. Gruselgeschichten und doofe Witze von Bett zu Bett in der Nacht, heimliche Ausflüge ins Mädchenhaus oder Versuche, die Mädchen nackt im Waschraum zu beobachten, erste Erfahrungen mit Alkohol, Ausflüge in die Umgebung und Nachtwanderungen als Mutprobe breitet Schmidt in einer zurückgeholten Gegenwart aus, als blättere er durch ein Fotoalbum seiner Jugend. Jedes Ding und jedes Wort ist wichtig für dieses Inventarverzeichnis der späten DDR. Auch die verbotenen Unworte, die an die Nazizeit erinnern, gehören dazu, Worte wie „Reichsbahn“ oder „Tschechei“ oder das Erschrecken, wenn einer einen Wald voller Buchen doch eigentlich ganz korrekt als „Buchenwald“ bezeichnet.

Schmidt geht es weniger darum, eine spannende Geschichte zu erzählen, als darum, die Stimmungen, die Denk- und Wahrnehmungsweise des 14jährigen möglichst exakt zu rekonstruieren, so als erzähle da wirklich Jens selbst aus unmittelbarem Erleben heraus. „Schneckenmühle“ ist ein Kindheits-Rückholungs-Roman. Das gelingt Jochen Schmidt sehr gut. Das Stagnative, Langsame, Geschlossene ist durchaus beabsichtigt. Es lässt sich nebenbei auch als Bild der gesellschaftlichen Situation in der Endzeit der DDR lesen, wo einerseits nichts passiert und andererseits dann doch so viel, dass Jens am Ende der Ferien glaubt, ein anderer Mensch geworden zu sein und es gar keinen Sinn hätte, seinen Eltern zu erzählen, was er alles erlebte: „Ich kann es gar nicht glauben, Mischen, Käuzchenruf, Fliegenfangen und jetzt auch noch Tanzen, ich habe in so kurzer Zeit so viel gelernt wie noch nie im Leben.“ Die Jugendlichen sind ja sowieso im Vorteil, denn gegenüber den Erwachsenen gilt: „In allem, was uns betrifft, sind wir ihnen von Natur aus überlegen.“

Gegen Ende kommt dann aber doch noch Bewegung in die stillgestellte Ferienwelt, wenn Peggie, die von allen gehänselte Sächsin, verschwindet, weil es ihr nicht mehr gefällt, dauernd gehänselt zu werden. Jens wird zu ihrem Vertrauten auf der Flucht, die aber nicht sehr weit weg führt. Was ihn antreibe, wird Jens am Ende gefragt. „Dass immer möglichst viel Zeit bleiben soll, bis die Zukunft beginnt.“ Der ganz und gar in einer vergangenen Gegenwart eingeschlossene Roman erfüllt diesen Satz. Nicht nur darin erinnert er ein wenig an Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Da ging es ja auch um diese Zwischenzeit zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Jörg Magenau

Jochen Schmidt: Schneckenmühle

Roman. C.H. Beck, München 2013

220 S., 17,95 Euro

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