CC BY-SA Hinrich

Henryk Goldberg heuerte für einen sehr, sehr langen Tag auf einem Ernte-Schlacht-Schiff an und befuhr das Weizenmeer in Neumark

Brauer nickt. Jan Brauer hat hier gelernt als Junge, und dann studiert. Jetzt ist er verantwortlich für den Einsatz der Männer. 15 Prozent. Höher darf die Feuchtigkeit des Weizens nicht sein. Steffen Steinbrück, der Vorstandsvorsitzende, hat mir das vorher erklärt. Im Lager, sagt er, muss das Korn möglichst tot sein. Sonst kommt der biologische Motor in Gang und versaut die Qualität. Irgendwas mit dem Eiweißgehalt. Und das hier, sagt Steinbrück, ist Elite Weizen, Klasse A. Und das, wovor wir stehen, sind 100 Hektar.

Und jetzt läuft der Motor des Mähdreschers, den sie mir zugewiesen haben. Es ist halb Eins. „Ich renn mal hin“, sage ich grinsend zu den Männern, „ehe der mir wegfährt“. „Der fährt nicht weg“, grinst einer zurück. Gut, es wäre wirklich schwer. Sie fahren mit satten 6 (sechs) Stundenkilometern. Und damit fahren sie in einer Saison runde Tausend Kilometer. Rauf, runter. Rauf, runter. Ich klettere rauf. 6 Stufen hat die Leiter in die Kanzel.

„Wir machen erst mal Anschnitt“ sagt Maik. Maik Künzler, 45. Als er den Beruf lernte, hieß der noch Agrotechniker und der Arbeitsgeber hieß LPG. Jetzt heißt er Erzeugergenossenschaft. Maik ist ein geduldiger Mann. Kaum, dass zwei Stunden vorbei sind, weiß ich was ein Anschnitt ist, wozu sie das Vorgewende brauchen und warum nach dem Vorgewende der Häcksler hochgeklappt wird. Logisch, sie legen auf Schwad.

Aber bis zwei Stunden vorbei sind, das dauert. Jetzt steuert Künzler den Drescher erst einmal an die Schnittkante und aktiviert den Laserpiloten. Der führt die Maschine, wie ein Autopilot, exakt auf dieser Linie und der Fahrer verschränkt die Arme vor der Brust.

Hier oben ist es ein bisschen wie Hubschrauber. Höhe, ringsum Glas und rechts ein Hebel. Das Geräusch der Maschine erinnert ein wenig an erwachende Flugzeugmotoren, und wenn Maik das Schneidwerk anhebt, dann fühlt es sich beinahe an wie ein Flugzeug auf der Landebahn, wenn es eine alte Rumpelpiste ist. Schwer, kraftvoll, zuversichtlich. Aber wir heben nicht ab.

Im Gegenteil. Künzler korrigiert das Schneidwerk nach unten, wenn der Weizen niedriger wird. Außerdem, wer einen Mähdrescher fährt, der neigt nicht zum Abheben. Und er weiß warum. „Ich würde den Beruf nicht noch mal lernen“, sagt Maik. Doch, nach der Wende hat das schon Spaß gemacht, die neue Technik, das alles. „Ist eigentlich ein schlauer Mähdrescher“, sagt Maik. Aber ein Sommer bleibt ein Sommer. Und eine blöde Jahreszeit, wenn man sein Geld in der Ernte verdient.

„Der Betrieb“, sagt Maik und grinst etwas, „müsste uns eigentlich alle zwei Jahre eine neue Couch kaufen.“ Ich bin nicht sicher, was er meint. Er meint die Winter. Drei Monate lang Winter. Freizeit, Überstunden abbummeln. Das ist besser als Arbeitsamt, aber richtig gut ist es nicht. Dann geht er mit dem Hund spazieren und liegt danach auf der Couch. Oder umgekehrt. „Hobbys hab ich keine.“ Aber im frühen Sommer, wenn es noch geht, da waren sie, die Frau und er, mehrfach auf Rügen. Störtebeker-Festspiele, sechsmal. „Toll“, sagt der Ernte-Kapitän über den freibeuterischen Kollegen, „definitiv“. Aber im richtigen Sommer, da sind sie hier. Immer. Die Ernte geht vor. „Definitiv“.

Die Ernte dauert nur 20 Tage. Aber es sind die 20 Tage, für die in den übrigen 345 gearbeitet wird. Dafür haben sie vier Mähdrescher für 1,2 Millionen Euro, die zehn Monate stillstehen. Dafür haben sie geschindert. Die Ernte zu versäumen, das wäre, als würden sie im Supermarkt alles machen wie immer nur ohne Kasse.

Draußen fährt der Abfahrer parallel zu uns, bei Paul im Fahrerhaus sitzt ein Kind. Tim, höre ich später, der Vater steht am Feldrand und wartet. Der Junge mag das hier. Der Vater, erzählt er mir nachher, ist Lkw-Fahrer. Maik könnte das auch, er hat den Schein. Aber das ist auch Stress. „Immer Just in time“ sagt er, und er sagt es, so wie er „Vorgewende“ sagt, einfach so.

Just in time. Ungefähr alle 15 Minuten kommt der Überladewagen. Sie haben zwei Mähdrescher auf dem Feld, zwei Traktoren mit je zwei Hängern, das sind die Abfahrer, und den Überladewagen. Der kommt, wenn der Kornbunker voll ist, 9,6 Tonnen Weizen. Dann schwenkt der Fahrer den großen Arm oben, drückt den gelben Knopf und das Korn wird dem parallel fahrenden Kollegen übergeben. Im Fahren, immer im Fahren. Wenn der Bunker zu 70 Prozent gefüllt ist gehen die Rundumleuchten oben an, das Signal für den Fahrer des Überladewagens. Schafft der es einmal nicht, weil der andere Mähdrescher gerade abbunkert, dann kommen die Abfahrer selbst, die eigentlich warten. Einmal sind wir fast voll, der Überladewagen ist da und die Reihe zu Ende. Maik bleibt nicht stehen, wendet, geht wieder auf die Spur, der andere folgt. Erst dann wird abgebunkert, im Fahren. Der Mähdrescher soll nicht stehen und er tut es auch fast nie. Das siehst du nicht, wenn du mit dem Rad an einem Feld vorbeifährt. Du siehst es, wenn du drin bist. Die Männer haben ein genaues Gefühl für das Timing hier. Der Mähdrescher ist wie das entscheidende Ernte-Schlacht-Schiff, dem die kleineren Hilfsschiffe zugeordnet werden.

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Und Landwirt ist ein Scheißjob, wenn einer ein Kerl

von 30 Jahren ist und ein Ehemann seit 8 Wochen. 

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Und frisst sich durchs Weizenmeer, Stunde um Stunde. Wie ein gieriges, unersättliches Tier. Wenn du den Blick nach unten konzentrierst, dann siehst du eigentlich keine Technik. Nicht die rot rotierende Haspel, das auffälligste Teil, nicht die Einzugsschnecke. Du siehst einen unendlichen Strom kleiner Fische sich wie zwanghaft in ein gieriges Maul drängen. Als tanzten sie einen rasenden, wahnsinnigen Todestanz. Du darfst nicht zu lang nach unten schauen. Irgendwann glaubst du es wirklich. Und vergisst wo du bist.

„Man geht das schwer.“ Maik holt mich zurück. An manchen Stellen sind die Halme noch grün. Das ist nicht gut. Es nimmt die Feuchtigkeit mit ins Lager. Und es setzt dem Mähdrescher Widerstand entgegen. Ich merke nichts von Widerstand, Maik hat ihn gefühlt.

Kurz nach 6, Abendbrot. Die Männer packen ihre Brote aus. Dieter, der Abfahrer, hat Carlos dabei, den Enkel. Der hat grad eine Schwester bekommen, die heißt Luise. Die Abfahrer haben einen Teil des Weizens vor dem Lager in Berlstedt auf den Hof gekippt, die Kapazität der Annahme reicht nicht, sie müssten sonst zu lang dort warten. So werden sie am Abend noch Folie über das Korn ziehen. Das ist doch extra Arbeit? „Schon“, sagt Helmut, „aber sonst stehen die Mähdrescher still.“ Und er sagt es nicht wie einer, der eine Weisung wiederholt. Einem Bauern muss das keiner sagen.

Sie stehen auch jetzt nicht lang still, es geht weiter. Vielleicht, dass Maik es satt hat, unter Beobachtung zu dreschen, vielleicht, dass Adrian auch in die Zeitung soll. Jedenfalls schicken sie mich zu ihm.

Adrian Haupt, 30. Ein Body, wie man so sagt, ich würde mich ungern mit ihm anlegen. Aber das täuscht, der lässt wohl jeden in Ruhe, der ihn in Ruhe lässt.

“Die Leute sagen”, sagt er, “du bist den ganzen Winter zu Hause. Aber die sind jetzt zu Hause oder im Urlaub.” Nein, auch Adrian würde den Job nicht noch mal machen. Aber was schert das einen Burschen mit 16, 17 Jahren, wenn der 30. Geburtstag ein Jahrhundert weit weg ist und der Vater an der Landwirtschaftsschule. Also hat er das Gleiche gelernt wie Maik, aber es heißt jetzt Landwirt.

Und Landwirt ist ein, wie man so sagt, Scheißjob, wenn einer ein Kerl von 30 Jahren ist und ein Ehemann seit 8 Wochen. Nicht die Tätigkeit, aber die Zeit. “Was ist, wenn wir ein Kind kriegen?” Oma und Opa, schön und gut, aber man macht sich schließlich kein Kind, damit Oma und Opa eine Freizeitbeschäftigung haben. Und wann soll man das Kind machen? “Wenn du lange wartest, dann ist es egal, Hauptsache es ist da, klar. Aber wenn du es dir aussuchen kannst, dann soll es möglichst nicht im Sommer geboren werden.” Dieser Beruf hat schon so seine Besonderheiten.

Wechseln? Na ja. Wenn ein Kind da ist, dann wird er sich Gedanken machen. Er würde den Beruf nicht noch mal nehmen, wie Maik. Und wie Maik wird er wohl doch weitermachen. Auf eine merkwürdige Weise hängen sie an diesem Beruf, der ihnen doch die Zeit weg frisst und manchmal auch die Frauen.

Früher, sagt er, sagt die Frau, hat sie sich auf schöne, sonnige Wochenenden gefreut. Heute hofft sie manchmal, dass es regnet am Wochenende. Dann ist es schön.

Aber hier jetzt nicht. “Mist!” schimpft Adrian und lässt die Haspel rückwarts laufen, es reicht nicht. Runter, den Stein aus dem Weg räumen, rauf, weiter. Maik, der andere Maik, der den Überladewagen fährt, hat zwei Kinder mit im Fahrerhaus. Sie sind Mitfahrer wie ich, wir winken uns lustig zu. Mag sein, sie fragen sich, ob der fremde Mann da drüben auch so gern Feldauto fährt wie sie. Und dass Erwachsene manchmal komisch sind. Und wieso winkt der mit seinem Taschentuch? Es ist, das können sie nicht wissen, weil die Zeit bis zur Dunkelheit ziemlich lang ist. Da freut sich so ein Erwachsener, wenn er mit zwei fremden Kindern ein bisschen rumalbern kann.

Und da unten frisst sich das Tier, das sie Mähdrescher nennen, durch den Schwarm der wie wahnsinnig taumelnden Ährenfische, gleichmäßig, gierig, unersättlich. In der Dämmerung, in der Dunkelheit, die, endlich!, kommt, tanzt der Staub vor uns, das Licht lässt ihn wirbeln wie Millionen merkwürdiger Insekten. Die Dörfer vor uns, Berlstedt, Ballstedt, beginnen zu leuchten. Dort sitzen Leute, die sehen einen Film, die trinken ein Bier.

Wir sitzen hier. Jan Brauer ruft an. O. k., es geht noch mit der Feuchtigkeit, es hat noch nicht angezogen, wir machen das Feld fertig. Manche, sagt Adrian, sagen, die Chefs habens gut und wenig zu tun. “Aber einer muss den Hut aufhaben. Ich weiß doch nicht, was auf dem Nachbarfeld los ist.”

Ich weiß noch nicht mal, was hier los ist, in der Dunkelheit verlierst du die Orientierung.

Aber jetzt sind wir fertig, zehn nach zehn. Maik fährt den Drescher eine Ecke weg vom Feld und säubert ihn. Warum nicht hier? “Da kommt dann Raps drauf, da muss kein Weizen sein.” Dann balanciert er das breite Schneidwerk auf den Hänger und wir rasen zum Hof, 20 Sachen. Was ein Speed.

Ich verabschiede mich, es ist halb elf, Steffen Steinbrück, der Chef, ist auch noch da. Nein, ich möchte kein Landwirt sein. Aber manchmal denke ich jetzt an sie, wenn ich Brot esse.

© Henryk Goldberg
Thüringer Allgemeine, 03.08.2011