Oder: Ein Schuss, ein Schrei, das war Karl May
Das Jahr 1961. In Idaho Falls, USA, explodiert der Forschungsreaktor des Militärs, kurz darauf stürzt in North Carolina eine B-52 bewaffnet mit einer Atombombe vom Himmel. John F. Kennedy wird Präsident der Vereinigten Staaten, der Sowjetbürger Juri Gagarin ist der erste Mensch im Weltall, und am 11. Dezember dieses Jahres nennt man auch offiziell das, was in Vietnam geschieht, einen Krieg.
Die ganze Welt befindet sich im Umbruch. Die ganze Welt? Nein, ein kleines Land im Herzen Mitteleuropas, genannt Bundesrepublik Deutschland, hätte bitteschön gerne weiter seine Ruhe. Wenigstens in seiner bescheidenen, aber noch florierenden Traumfabrik. Und doch: In diesem Jahr 1961 zeichnete sich im bundesdeutschen Kino ein Ende der Förster aus dem Silberwald und Ferien am Wörthersee ab. Das junge Publikum wollte endlich etwas anderes sehen als Familien, die genau so spießig waren wie die eigene, und etwas anderes hören als Uralt-Witze und Schlagerparaden. Andererseits wollte man zu dieser Zeit auch noch nicht wirklich aufmüpfig sein. Bis zu den Beatles und Protestdemonstrationen war noch etwas Zeit. Da kam dem Produzenten Horst Wendlandt eine ebenso waghalsige wie naheliegende Idee, um auf dem krisengeschüttelten deutschen Kinomarkt mit einer neuen Serie Fuß zu fassen. Alle Deutschen liebten amerikanische Western. Alle Deutschen liebten Karl May. Na bitte!
Die Western aus den USA hatten zu dieser Zeit erheblich von ihrer Romantik verloren. Sie wurden kritisch, melancholisch oder brutal. Und im Fernsehen pflegten Cowboys und Indianer zu viel zu reden und zu wenig zu reiten. Was also lag näher als eine Wiedergeburt des Genres aus dem Geist des sächsischen Fabulierers, dessen Werk ein paar Diktaturen, unzählige pädagogische Kampagnen und die Modernisierungen des Wirtschaftswunders überlebt hatte? Und der immer noch neben Edgar Wallace, Micky Maus, Bravo und Perry Rhodan die praktischen Hängeregale in den Kinderzimmern füllte.
Merkwürdigerweise hatte noch nie jemand in Deutschland versucht, einen der Wildwestromane Karl Mays auf die Leinwand zu bringen, obwohl es seit der Stummfilmzeit weder an deutschen Western noch an Karl-May-Verfilmungen gemangelt hatte. Horst Wendlandt riskierte ein Budget von damals höchst beachtlichen 3,5 Millionen DM dann auch, wie er sich später erinnerte, „mit erheblichen Bauchschmerzen“. Das war beinahe schon ein Alles-oder-Nichts-Unternehmen. Tatsächlich wurde „Der Schatz im Silbersee“ zum größten Kassenerfolg der Kino-Saison 1962/63. Das gab der deutschen Kinoindustrie neuen Auftrieb, und was vielleicht das Wichtigste war: Der Film war auch im Ausland erfolgreich. Ja sogar die strenge Filmkritik, die zu dieser Zeit eher mit den Hoffnungen auf einen neuen jungen Autorenfilm in Europa beschäftigt schien, zeigte sich gnädig. So urteilte das „Monthly Film Bulettin“ aus London: „Ein frischer kontinentaler Western. Die Schauplätze sind attraktiv und der Film ist erfreulich anzusehen. Und wie schön, dass es zur Abwechslung einmal nicht die US-Kavallerie, sondern die Indianer sind, die zur Rettung in letzter Sekunde angaloppiert kommen“.
Angaloppiert kam da vor allem ein gewisser Winnetou, Deutschlands erster langhaariger Popstar. Ein gutaussehender Romantiker, der zwar perfektes Leinwand-Deutsch beherrschte, aber offensichtlich eine unwiderstehliche Abneigung gegen den Gebrauch der Worte „Ich“, „Du“ und „Wir“ hatte und bei dem daher ein langweiliger Satz wie „Reiten wir los“ zu einem poetischen „Winnetou und sein weißer Bruder werden sich der untergehenden Sonne nähern, bis die Schatten ihre Richtung wechseln“ wurde. Aber Winnetou konnte nicht nur sonderbar reden, sondern auch reiten, Messer werfen, anschleichen, stumm dasitzen und vieles mehr. Und es gab Soldaten, Trapper, Postkutschen, Schluchten, Saloons, und aus irgendeinem Grund liebten es die Protagonisten von Winnetou-Filmen bei der offensichtlichen Staubhitze auch noch an allen Ecken und Enden Feuer zu legen oder etwas in die Luft zu sprengen. Jedenfalls war auf der breiten, bunten Leinwand irgendwo immer was los.
So entstand etwas, was man sich damals noch nicht so zu nennen getraut hätte: ein Kult. Deutschland hatte einen roten Traum. Einen Traum von Abenteuer, Freiheit und Gerechtigkeit. In Filmen mit Indianerhelden, die mindestens so edel wie sexy waren. In der Bundesrepublik dauerte dieser Traum von 1962 bis 1968. In dieser Zeit entstanden insgesamt elf Filme um den tapferen Häuptling der Apachen.
Im Nachhinein erscheint die Formel für die bundesdeutschen Karl-May-Filme höchst einfach. Man hielt sich im Großen und Ganzen an die weithin bekannten literarischen Vorlagen, strich aber so weit wie möglich die unangenehme Deutschtümelei und die Schwülstigkeit der Romane. Die wilde Landschaft Jugoslawiens gab eine perfekte Kulisse zwischen Schroffheit und Idylle. Es gab Actionszenen und Stunts, die sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen konnten. Es wurde geschossen, geritten und geprügelt, was das Zeug hielt, aber trotzdem waren Karl-May-Filme keineswegs gewaltversessen und noch weit entfernt von der düsteren Grausamkeit, die dann nur ein paar Jahre später Kerle wie Ringo oder Django im Italowestern umhertrieb, der übrigens ohne den Einfluss der bundesdeutschen Produktionen nie entstanden wäre.
Für den Erfolg der Karl-May-Filme sorgten nicht zuletzt die beiden Stars der Serie: Der Abenteuer erprobte Ex-Tarzan und Robin-Hood-Darsteller Lex Barker als deutscher Westmann Old Shatterhand und der Franzose Pierre Brice, Typ romantischer Frauenschwarm, als Winnetou. Diesen beiden konnte man nicht einmal den pathetischen Schwurbel ihrer Dialoge übel nehmen. Das Verhältnis von Winnetou und Old Shatterhand ist natürlich rein platonisch, Winnetou hat ja auch noch eine hübsche Schwester, Nscho-tschi, die auch sehr hübsche Weisheiten von sich gibt, aber leider auch nicht sehr alt werden darf. Und was das anbelangt, ließen sich die Drehbuchautoren nicht beirren: Auch im Kino musste schließlich Winnetou sterben, und hey, damals haben wir den Klassenrabauken heulen gesehen.
In den frühen sechziger Jahren entstand ein Film der Serie nach dem anderen. „Winnetou“ in drei Teilen, von 1963 bis 1965, „Der Ölprinz“ – 1965, „Old Surehand“ – 1965, „Winnetou und das Halbblut Apanatschi“ – 1966. Der letzte Film der Serie schließlich entstand im Jahr 1968. Ganz so erfolgreich war der allerdings nicht mehr. Vielleicht hatten die Kids auch diese eingängige Melodie ein paar mal zu viel gehört, die immer das Kino füllte, wenn Winnetou und Old Shatterhand sich mal wieder aufs Pferd schwangen und in den Sonnenuntergang ritten.
Wichtig für den westdeutschen Indianerfilm war neben der Action und der Romantik immer ein Aspekt des Komischen. Wie eigentlich in allen westdeutschen Filmserien boten die Karl-May-Filme eine ansehnliche Galerie kauziger Nebenfiguren, Ralf Wolter, Eddie Arent, Chris Howland und sogar Heinz Erhardt gaben ihre Gastspiele in Karl-May-Filmen. Der Kinokult entfaltete überdies eine multimediale Betriebsamkeit: Winnetou-Schallplatten, der Starschnitt von Pierre Brice und Lex Barker in Bravo, Karl-May-Filmpostkarten, Bildbände und Comicversionen der Winnetou-Geschichten gehörten neben den „Originalausgaben“ (jetzt mit Filmbildern) zur Grundausstattung eines Kinderzimmers der sechziger Jahre.
Dann wurden auch dort die Verhältnisse rauer. Wirklich versunken aber war die Winnetou-Welt nach dem letzten Film nicht. Die alten Kämpen ritten noch lange nach dem Ende der Serie, wenn auch nicht auf der Leinwand, so wenigstens bei den Karl-May-Festspielen, bei denen nach Pierre Brice auch sein östlicher Bruder und Konkurrent Gojko Mitic zur Ehre eines Auftritts als Winnetou kam. Eine Winnetou-Fernsehserie wurde schließlich produziert. Und dann noch ein Fernsehfilm um die wehmütige Geschichte von „Winnetous Rückkehr“. Aber dieser Art von Nostalgie konnte das Publikum wenig abgewinnen. Es musste noch einmal eine Kinogeneration vergehen, bevor Bully Herbig mit seiner Parodie „Der Schuh des Manitu“ auch ökonomisch an die alten Erfolge anknüpfen konnte.
So etwas geschieht nur einem echten Klassiker. Im Frankfurter Filmmuseum konnte man vor einiger Zeit die Filme und Details der cineastischen Mythen sehen. Heilige Reliquien wie Silberbüchse und Friedenspfeife, scheinbar Profanes wie Drehpläne und Produktionsverträge. Und dann kam endlich die DVD-Edition: Die ewigen Jagdgründe der Pop-Kultur sind erreicht. Winnetou lebt!
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in filmspiegel 05/ 2005
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