Die Telenovela: Ein brandneues, uraltes Format erobert den deutschen Bildschirm. Im Ersten startet „Sturm der Liebe“
Glück gehabt! Kurz bevor es von doofen Langweilern als langweilig und doof abgeschrieben wird, entdeckt das deutsche Fernsehen ein neues Format und macht auch gleich den richtigen Rummel darum: Die Telenovela wird das Fernsehen, oder wenigstens das Nachmittagsprogramm retten. Telenovela? Waren das nicht diese endlos langweiligen, geschwätzigen Serien aus Brasilien, die man vor zwanzig Jahren beim Bügeln anschauen konnte, oder auch nicht? Da kommt es natürlich auf die Perspektive an. Großmutter liebte „Sinha Moca“ (ansonsten war ihr das Fernsehen zu laut, zu schnell, zu modern), und wer wollte, konnte sich Gedanken über die seltsamen Wanderungen von Bildern und Erzählungen machen.
In Deutschland ist der Angriff der Telenovela auf das Fernsehprogramm gerade in der Beschleunigungs- und Hysteriephase. Das Erste ersetzt die Talkshow „Fliege“ von Montag an durch die neue Telenovela „Sturm der Liebe“, das ZDF wird am 6. Oktober „Julia“ im Nachmittagsprogramm installieren. Neue Produktionen sind auch bei den Privaten in Arbeit. Überdies soll 2006 ein eigener deutschsprachiger Telenovela-Sender starten, der in Zürich und Tel Aviv entwickelt wurde. Vorbild ist der israelische Kanal Viva, der rund um die Uhr Telenovelas aus lateinamerikanischer Produktion zeigt. Das Programm wird auf die Bedürfnisse des deutschen Publikums zurechtgeschnitten, verspricht man.
Zur Telenovela gibt es eine Mediengeschichte, die tief in die Geschichte der populären Kultur, tief in die symbolische Ordnung der Welt reicht: Das erste Vorbild ist der europäische Kolportage-Roman, jener literarische Text, der von „Kolporteuren“ in zahllosen Lieferungen ins Haus gebracht wurde, und „in den Kolonien“ noch ein bürgerliches Vergnügen war, als es in der Heimat längst als Schimpfwort galt. Aber hier bekam die Endloserzählung auch ein proletarisches Pendant. In den vorrevolutionären Zeiten in Kuba war es Brauch, dass den Frauen, die ihre stupide Arbeit in den Zigarrenfabriken verrichteten, täglich ein Stück aus einer Endloserzählung vorgelesen wurde, zugleich ein Stück Droge, die die Arbeit erträglicher machte, und ein Stück moralisch-politischer Indoktrination. Fernsehen vor dem Fernsehen also.
Später übernahm das Radio die Aufgabe der Vorleserinnen, die Serien wurden schließlich mit verteilten Rollen dramatisiert. Von Kuba aus breitete sich das Format in ganz Lateinamerika aus, und wie die sündhaft teuren Zigarren überlebte auch die spottbillige Medien-Kolportage die Revolution.
In den fünfziger Jahren übersetzte das Fernsehen in Lateinamerika die Radionovela ins elektronische Medium. Und immer noch war es der weibliche Teil des Publikums, der gezielt mit dem Format angesprochen wurde. Es ging um Liebesgeschichten, es ging um die Belohnung der Tugend und die Bestrafung der Sünde, es ging um die Ordnung der Familie, es ging um Werte der Nation, vor allem aber ging es darum, dass die Telenovela eine radikale Personalisierung vornahm: In der Telenovela gibt es keine Verhältnisse, keine Politik und keine Geschichte, es gibt keine Revolte, sondern nur Schicksal, es gibt keine Veränderung, sondern nur das private Glück in der Familie. Der brasilianische Regisseur und Autor Walter Avancini meint: „Die Telenovela bedient nach wie vor die Werte, den Geschmack, die Codes einer Mittelklasse, die es nicht mehr gibt oder in Lateinamerika vielleicht nie gegeben hat. Armut und Arbeit kommen nicht vor, es sei denn als persönliches Unglück.“
Der äußere Unterschied zwischen einer Soap Opera und einer Telenovela ist die Erzählform. Die erste ist eine prinzipiell offene, die zweite hat einen zwar weiten, aber doch absehbaren Erzählbogen. Während die Soap Opera gleichsam ein gegenwärtiges Dabeisein suggeriert, bleibt die Telenovela beim „Es war einmal“. In der Soap Opera gibt es die alltäglichen Gestalten, die negative und positive Eigenschaften haben und gelegentlich in der sozialen Interaktion „erzogen“ werden. In der Telenovela tritt an die endlosen Vernetzungen der sexuellen Ökonomie „das Schicksal“. Alles ist vorbestimmt, nichts ist zu ändern; es gibt keine Lösungen für Probleme, sondern nur Erlösungen für gute Menschen. Wer gut und wer böse ist, steht von vorneherein fest. Die Menschen in der Welt können diese nicht verändern, nicht einmal vor der eigenen Haustür.
In Brasilien, Kuba und Mexiko wurden schon 1952 die erfolgreichen Radionovelas als Telenovelas auf den Bildschirm gebracht. Von Beginn an war das Format idealer Werbeträger. Jede der erst wöchentlichen, dann täglichen Folgen wurde von Werbedurchsagen (später Werbefilmen) unterbrochen, und jede Folge endete mit einer spannenden Frage. Zu Beginn war eine Telenovela auf etwa 20 Folgen angelegt, in den kommenden Jahren weitete sich das Format zu Serien von 150 bis 200 Folgen.
Obwohl sie über den langen Bogen der Erzählung auf ein Happy End zugeschnitten waren, ließen sich Telenovelas auch strecken und verlängern. Das Format fächerte sich auf, in historische und gegenwärtige, dramatische und heitere, sogar musikalische Telenovelas, in Telenovelas für Teenager, für Erwachsene und für Senioren, und in nationale Produktionsstile. Im Grunde aber ist in diesem Genre so sehr die Zeit stehen geblieben wie in deutschen Heimatserien: Das seltsame Paradies der fünfziger Jahre bildet die Traumwelt und den Code einer fiktiven Klasse, zu der sich die Wirklichkeit allenfalls wie eine schmutzige Versuchung verhält und in der die Frau gerade in ihrer familiären Rolle geachtet wird.
Im Jahr 2004 wurde die erste deutsche Serie unter dem Label „Telenovela“ ausgestrahlt, „Verliebt in Berlin“ bei Sat 1 brachte es bereits zu einem überraschenden Erfolg, und beim ZDF konnte man mit „Bianca – Wege zum Glück“ einen Sendeplatz am Nachmittag stabilisieren. Der Begriff „Telenovela“ war in diesem Jahr 2004 nur zehn Prozent der deutschen Fernsehzuschauer geläufig. Mit dem Erfolg aber setzte man die ebenso übliche Hype ein: Die Telenovela ist der nächste Bruch im Programm. Auf das Reality TV folgt das fundamentale Kitsch-Angebot des Wegträumens ohne Wenn und Aber. Nicht einmal die schäbigen Alltagsreste, die eine Daily Soap noch benötigt, braucht eine Telenovela mehr; keine der neuen Serien wurde auf dem Markt angeboten, ohne dass man das Wort „Märchen“ verwendete.
Dass dem deutschen Publikum ein Fernsehformat, das in den postkolonialen Ländern als mediales Unterdrückungsmittel eingesetzt und als solches durchaus erkannt ist, als fröhliche Modernisierung ihres „Leitmediums“ verkauft wird, ist vermutlich auch eine politische Metapher zur rechten Zeit.
Der Schritt vom Liebesmärchentraum zur Indoktrination ist gering: In einer Telenovela wie „Milagro“, Mitte der neunziger Jahre in Argentinien entstanden, ist die Heldin eine Art Heilige, die sich allen sozialen Veränderungen widersetzt und dafür die ewigen Werte von Opfer und Treue hochhält. Sie lehnt Politik und Kultur ab, eine Frau, sagt sie und lebt sie, gehört nicht in Welt und Geschichte, sondern in den heiligen Raum von Kirche und Familie. Diese Botschaft war im Ursprungsland offensichtlich ebenso populär wie in den südeuropäischen Ländern, wo Telenovelas schon längere Zeit zu den Quotenrennern gehören.
Die Soziologin Giovanna Del Negro hat eine Untersuchung über die Auswirkungen der Telenovela auf die Selbstbestimmung von Frauen einer kleinen italienischen Stadt unternommen und kam zu dem Ergebnis: „Die Frauen, die von den Segnungen der Modernisierung ausgeschlossen sind, fühlen sich zugleich fasziniert und abgestoßen von der modernen Welt, die sie beständig (auch im Fernsehen) zu sehen bekommen, zu der sie aber keinen Zugang erhalten. Ironischerweise sind es dann gerade in diesem Fernsehen transnationale, pan-katholizistische Medienprojekte wie die Telenovela à la ‚Milagro‘, die ihnen eine Alternative bieten.“ Das Genre zelebriere traditionelle katholische Ideologie und liefere eine Kritik der modernen Gesellschaft, die den Erfahrungen der Frauen entspreche und ihrer Entsagung und ihren Leiden einen Sinn gebe.
In Deutschland geben sich die Programmmacher alle erdenkliche Mühe, dem Format ein jugendlich schickes Äußeres zu geben. Aber auch damit wird kaum überdeckt, worum es geht: Auch hier muss sich der Mittelstand fiktionalisieren, auch hier werden die Frauen vor die Wahl zwischen Karriere-Zicke und Cinderella-Traum gestellt, auch hier wird das Medium zum radikalen Rückzugsraum. Die Telenovela begleitet auch hier die Ausbeutung der Frau in der familiären Schattenwirtschaft; der Fernsehnachmittag gehört den Verlierer-Frauen des Neoliberalismus. Sollen wir ihnen den Trost gönnen oder uns über die schamlose Vermarktung ihrer Zukunftslosigkeit empören? Auch die deutschen Telenovelas sind auf dem „richtigen“ Weg in eine neue Gesellschaft von gestern.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Tagesspiegel 25.9.2005
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