Es ist eine Rückkehr aus der Unterwelt, aus der Finsternis ans Licht. Es ist, als könnte der moderne Mensch mit seinen technischen Fähigkeiten den Tod überwinden. Orpheus stieg einst mit nichts als seiner Lyra in den Hades hinab, um singend die Geliebte zurückzuholen. Er vertraute der Kunst, um die Götter umzustimmen und scheiterte an sich selbst. Die chilenischen Bergleute werden nun ohne Gesang in einer Stahlkapsel durch eine schmale Röhre nach oben befördert. Im Gegensatz zu Orpheus kann ihnen Unterwegs nicht viel passieren. Sie sind, so ähnlich wie Radfahrer bei der Tour de France, verkabelt und mit einem Überwachungsgerät verbunden, das Herzfrequenz, Sauerstoffzufuhr und Körpertemperatur misst. Eine UV-Brille schützt ihre Augen, wenn sie nach mehr als zwei Monaten wieder ans Tageslicht gelangen.
Das klingt eher unheroisch und pragmatisch, und doch wird wohl auch diese der Ingenieurskunst zu verdankende High-Tech-Bergung zu einem Mythos werden. Der Mythos handelt nicht so sehr von den Details der Rettung, als vom „unverhofften Wiedersehen“, von dem einst schon Johann Peter Hebel erzählte. Bei Hebel vergingen allerdings nicht nur zwei Monate, sondern 50 Jahre, bis eine Braut ihren kurz vor der Hochzeit im Bergwerk zu Falun verunglückten Geliebten wiedersah. Als gebückte, alte Frau kommt sie herbei, um einen aus dem Vitriolwasser geborgenen Leichnam zu inspizieren und erkennt in ihm den jugendlich unversehrt gebliebenen Bräutigam. Und als sie sich über ihn beugt, werden „die Gemüter der Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen“. Diese Tränen hatten wohl vor allem etwas mit der vergangenen Zeit und dem versäumten gemeinsamen Leben zu tun. Hebel zählt auf, welche Kriege seither geführt wurden, wie Europa sich veränderte, und wie viel Korn die Müller gemahlen haben.
Auch jetzt wollen die Fernsehkameras etwas einfangen vom „unverhofften Wiedersehen“. Der Mythos muss sich als Medienereignis bewähren. Dieses Mal werden die Umstehenden in der ganzen Welt mitweinen, wenn sich die Getrennten in die Arme fallen und all die in die Tiefe hinab dargebrachten Heiratsversprechungen wahr gemacht werden. Zwei Monate oder 50 Jahre spielt dabei keine Rolle. Wir haben die von den Frauen hochgehaltenen Bilder der Verschütteten gesehen; nun sehen wir die 33 Bergleute leibhaftig ins Leben zurückkehren. Es ist, als würde nicht die Technik, sondern die Liebe dieses Wunder vollbringen.
Wenn alles gut geht, dann wird es eine Geschichte mit 33-fachem Happy End. Das gibt es nicht einmal in Hollywood. Doch wie in jedem Kinofilm beginnt die eigentliche Geschichte erst danach. Ob die Ehen gelingen, die aus dem Unglück resultieren, und ob es sich nach so langer Zeit unter der Erde an der Oberfläche einfach weiterleben lässt, davon wird es keine Bilder mehr geben. Auf den Mythos folgt der Alltag, und der wird, weil er sich am Mythos messen lassen muss, kompliziert. Dagegen hatte es die alte Frau im Bergwerk zu Falun vergleichsweise leicht.
Text: Jörg Magenau
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