Ein Mythos ist eine Geschichte mit vielen Lücken, die man immer wieder anders erzählen kann, die einem beim Einkaufen oder Einschlafen plötzlich bedeutungsvoll vorkommt, und über die man sich beim Duschen oder Bahnfahren eine eigene Variation ausdenkt.
Wenn das irgendwie kommunizierbar ist, und die zugrunde liegende Geschichte allgemein bekannt, spricht man mittlerweile von der „Arbeit am Mythos“, wenn mindestens eines von beidem nicht der Fall ist, heißt sich das „Privatmythos“ und gilt eigentlich als Bäh. Das Schlimmste, was man einem individuell mythologisch in einem Massenmedium arbeitenden Künstler vorwerfen kann, ist die sogenannte „Privatmythologie“. In der bildenden Kunst ist jene dagegen Voraussetzung für jede interessierte Rezeption, obwohl der Begriff immer noch ein bisschen ironische Distanz in den Raum nebeln will.
Die Grenzen sind dabei natürlich fließend: Die recht einleuchtenden Bären aus John Irvings frühen Romanen haben es nicht ins allgemeine Bewusstsein geschafft, die Pferde von Cormac Mc Carthy kursieren immerhin in der Kultur, und die Eulen bei Joanne K. Rowling waren scheinbar schon immer da.
Bei den audiovisuellen Medien, und vor allem beim Film, ist die Lage am kompliziertesten, weil diese von Anfang an populäre Alltagsmythen (Non-Fiction) oder Kunstmythen (Fiction) kreiert haben und kreieren wollten. Fernsehen und internetfähiger Computer sind eigentlich Alltagsgegenstände ohne den Nimbus erhabener Wahrheiten, aber speziell für ihre Grenzen wurden Sonderformate des Mythenschaffens und Mythenerzählens entwickelt, die ungewöhnlich wirkungsstark sind, gerade durch das Durcheinander von „Spiegel ins wirkliche Leben“ und „schöne Scheinwelt“, „ritueller Konsum“ und „Gewöhnlichkeit“. Die größte Mythenschmiede unseres Landes ist nach wie vor die „Tagesschau“.
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Seit 30 Jahren Tom Cruise der junge Mann des amerikanischen Films
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Der Mythos verspricht, ungeachtet der darin scheinbar erzählten Geschichten über tatsächliche oder erfundene Begebenheiten und Personen, einen Mehrwert an übertragbarer Relevanz. Der Unterschied zwischen „Batman“ oder „The Darkness“ (einem in den 90ern lancierten, bemüht mythologischen Comic-Helden, dessen Erlebnisse in Form und Inhalt vor allem die Grenzen von „Batman“ aufzeigen und sprengen wollten) liegt darin, dass man über „Batman“ beim Bahnfahren nachdenken kann, ohne auch nur irgendein Heft oder einen Film vollständig zu kennen oder gar interessant zu finden (wenn doch, hilft das natürlich). Der Unterschied zwischen Joschka Fischer und, sagen wir, Renate Künast in ihrer Wertigkeit für das öffentliche Leben besteht darin, dass Fischer erfolgreich von sich, seiner Partei und den Medien zur überpersönlichen, exemplarischen Gestalt erhoben wurde. Das Beispiel Fischer zeigt dabei, in milder Form, ein Phänomen bei der Arbeit, dem wir heute ständig ausgesetzt sind: Dem Verblättern der Mythen in rasender Geschwindigkeit.
Bei den tatsächlichen alten Mythen, also den der antiken oder vorantiken Kulturen, wird davon ausgegangen, dass sowohl ihre Anreicherung mit Geschichten wie ihr Kippen ins Absurde und ihre allmähliche Bedeutungslosigkeit, über einen Zeitraum von Hunderten, manchmal Tausenden von Jahren vor sich gingen.
Noch in der Welt vor 20, 30 Jahren waren Alltagsmythen vergleichsweise beständig, selbst in der „Tagesschau“ und der populären Kultur (obwohl diese von offiziöser Seite scheinbar viel weniger wichtig genommen wurde als heute). Auch wer nach Adenauers Kanzlerschaft geboren wurde, hatte zwangsläufig eine grobe Vorstellung von der Symbolfigur Adenauer (sofern er oder sie sich auch nur ein kleines bisschen für, sagen wir, Bundeskanzler interessierte). Wer könnte heute einem jungen Menschen noch das Phänomen Schröder erklären?
Zwei kulturkonservative Erklärungen für diesen Umstand behaupten, dass es erstens früher noch Persönlichkeiten (und vielleicht auch erfundene Geschichten) von altem Schrot und Korn gegeben hätte, was in der heutigen Welt der schön geschminkten Milchgesichter einfach nicht mehr möglich wäre, und/oder dass wir zweitens alle unter einer Überfälle an Visagen, Anekdoten und halbgaren Einfällen ertrinken würden, die unsere Rezeptionsfähigkeit nun einmal lahm legten und zu keiner Auseinandersetzung mit möglicherweise interessanten Einzelphänomenen mehr führen könnten.
Gegen den ersten Einwand spricht ein beliebiger Blick in eine alte Zeitschrift. Zu behaupten, dass Rainer Barzel oder Erich Mende mehr zum Haken schlagenden Nachdenken einladen würden als selbst Edmund Stoiber, ist offensichtlich absurd. Im Vergleich zu etwa Gregory Peck und Kim Novak sind selbst Michael Douglas und Angelina Jolie geheimnisvolle, unerschöpfliche Bedeutungsträger.
Umgekehrt ist eine allgegenwärtige Medienindustrie nicht, wie früher, daran interessiert, uns immer neue Nasen und Geschichten zu verkaufen, sondern gerade, aus purer Feigheit, daran, noch den letzten Rest möglicher Essenz aus alten Konzepten und Gesichtern herauszupressen. Seit 30 Jahren ist bspw. Tom Cruise der junge Mann des amerikanischen Films, in (etwas) unschuldigeren Zeiten ein Ding der Unmöglichkeit (und Madonna und die Rolling Stones sprengen dann wirklich jedes vernünftige Raster).
Nein, das Untergehen so vieler Mythen kommt, um es pathetisch zu formulieren, von innen. Zeiten, Einstellungen, adaptierbare Haltungen ändern sich tatsächlich in einer vorher nicht gekannten Geschwindigkeit. Der „Herr der Ringe“ ist ein 70 Jahre altes Buch, das dem Zahn der Zeit und der Vereinnahmung verschiedener freundlicher Subkulturen erfolgreich getrotzt hat, aber ob sich irgend jemand in 10 Jahren noch einmal eine „extended version“ des dritten Films anschauen wird, steht in den Sternen, und das hat nicht nur mit einem überspannten Medienhype zu tun. Hätten die TITANIC-Mitarbeiter aus den 80er und 90er Jahren ahnen können, dass das Vergänglichste in ihrem damaligen Blatt einmal ausgerechnet die unverschämten Gegenmythen zum Mythos Kohl sein würden, der so sehr Mythos war, dass es niemandem in vollem Ausmaß auffiel? Und das, obwohl dieser heute mit der stereotypen und schwer mythenschaffenden Einblendung „Kanzler der Einheit“ im Fernsehen herumläuft (die er sich, im Guten wie im Bösen, sicher nur bedingt verdient hat)? Stand Ulrich Wickert nicht einmal für irgend etwas? Und wer war noch einmal Hans-Joachim Friedrichs? Und bekommt noch jemand mit, dass gerade in Deutschland die letzte Staffel von „Lost“ ausgestrahlt wird?
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Mythen verblättern in rasender Geschwindigkeit
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Wagen wir uns einmal probehalber an eine „rote Liste“ der populären Mythen, unwissenschaftlich, subjektiv und orientiert an dem Auftauchen in Medien, Gesprächen und dem eigenen Bewusstsein. Hier nur ein erster, unfertiger Versuch dieses Autors, als provisorische Matritze und mögliche Anregung:
Tot:
John F. Kennedy Galt mal als wichtigster Mensch des letzten Jahrhunderts. In den USA wird dieser Mythos immer noch eifrig attackiert, bei uns wie nie gewesen.
Willy Brandt Der mit Abstand mythischste der deutschen Nachkriegspolitiker. Integrationsfigur für Generationen, die Verkörperung der gewissenvollen westdeutschen Modernisierung. Heldentaten und Skandale. Weg. Möglicherweise eine zu wilde Biographie für staatsnahe Interessierte, und umgekehrt trotz allem noch zu sehr Parteigenosse für Staatsferne.
Jürgen Möllemann Die Verkörperung des cleveren und stillosen Emporkömmlings und der geschmäcklerischen Provokation. Inszenierte seinen Tod formvollendet zwischen Husarenstück, Götterdämmerung und Verschwörungstheorie. Tausend Fragezeichen bei Person, Politik und Verstrickungen, trotzdem nicht einmal Stoff für ein experimentelles Radiofeature (soweit mir bekannt).
Die Beatles Die Musik wird immer unsterblicher werden, die überlebende Restband spricht von einem 50jährigen Jubiläum (diese Zahl ist mindestens fragwürdig), aber Aufbruch, Welterfolg, Kunst – und Menschwerdung sind trotz massenhafter medialer Präsenz nicht einmal mehr in den Artikeln der eingefleischten Liebhaber vermittelbar. Eine Geschichte wie aus einer anderen Welt, mit wenig Bezug zum jetzt. Großes Thema, mehr nicht an dieser Stelle. Hier weint ein Fan.
Homo Faber in all seinen Spielarten (Figuren bei den früheren Joseph Heller, John Updike, in kritischen Fernsehfilmen, usw.). Der positivistische, nicht unsympathische Trockenmensch der Moderne, der tragisch über das ausgeblendete Leben stolpert. Ein Alien. Ein Erfolgsmensch, der nicht einmal einen Rhetorikkurs besucht hat, kein Lieblingsdesign hat und nüchtern an die Welt glaubt. Vermutlich als Mythos kein großer Verlust (bei tiefem Respekt vor den Autoren), trotzdem eventuell beunruhigend.
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Die größte Mythenschmiede unseres Landes ist die „Tagesschau“
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Gefährdet:
Fidel Castro Alter, kranker Inselherrscher mit zweifelhaftem Ruf, der manchen noch etwas bedeutet (Himmel, Hölle, Mützen…).
Guido Westerwelle Für die einen eine verhasste Lachnummer, für die anderen ein erfrischender Fanatiker, der sich nicht an die Spielregeln des politischen Betriebs hält. Für beide jeweils mit der Ahnung einer anderen Welt. Trotz permanenter Provokationen, Amt und Würden mittlerweile nur noch in Ausnahmefällen Anlass für Essays, Zuspitzungen, Witze und Metaphern. Vermutlich ist Neoliberalismus einfach für niemanden mehr in irgend einer Hinsicht inspirierend.
Joschka Fischer (siehe oben) Vor ca. 10 Jahren die politische Symbolfigur schlechthin. Für gereiftes Rebellentum, Staatsmann werden, den Mut zur eigenen Biographie, für schicke Progressivität, die auch Soldaten schicken kann, Frechheit und Selbstreflektion, usw. usf., das Ganze als Negativ für seine Opponenten. Dozententätigkeit und hier und da ein paar weise Seitenhiebe eigentlich logische Entwicklung dieser Figur, trotzdem weitestgehend verblasst. War für die Zielgruppe vermutlich einfach doch nichts mit dem behaglichen Altwerden beim Weinchen.
Aldi Lange Zeit eine Discounterkette ohne Glam (ein paar trotzige Fans gab es allerdings immer), dann Synonym für kluge Lebenskunst mit augenzwinkerndem Stallgeruch. Die Schäferspiele des Bürgertums. In einer raueren Welt mit echten Opfern weder in Sachen Umgang mit Mitarbeitern, noch in den Fragen von fairen Einkaufspraktiken und Nachhaltigkeit trotz vieler neuer Anstrengungen und Aktionen ein lustiges Thema für die noch vorhandenen Cocktail/ Pinot – Partys. Und gespart wird mittlerweile eher bei Mayonnaise als bei Bio – Lachs, und das fühlt sich nicht halb so schrill an.
Harry Potter Nun, das war unvermeidbar. Die große Erzählung der Jahrtausendwende, in gewisser Hinsicht selber verspielt von der ab der Hälfte der Reihe zunehmend planloser plottenden Autorin. Vor allem aber das letzte Aufbegehren des mächtigen anderen Lebens. Heute ist niemand mehr Muggel, und das löst auch kein Problem. Traurig.
Quietschlebendig (warum auch immer):
RAF Ist das echt? Oder nur eine Schnapsidee der deutschen Medienlandschaft mit ihrer Vorliebe für geschichtsträchtige Geschichten mit viel Blut? Ohne Frage präsent, meist als halbironische makabre Bezugsgröße in Stammtischgesprächen über den schlechten Lauf der Welt, und das für völlig unverdächtige Mitbürger. Was bedeuten diese Leute denn? Was haben sie je bedeutet? Oder ist das wirklich ein reines Popphänomen, eine Chiffre für grelle gewalttätige Dissidenz? Wann kommen die ersten Action – Figürchen auf den Markt?
Die D-Mark Unfassbar, aber wahr. Eine Währung mit hässlichen, großen Geldscheinen und ohne die hübschen 2 Euro Stücke als Wahrzeichen einer untergegangenen gerechteren Welt. Bei rechts und bei links. Wenn der erste Demagoge beim Stimmenfang Markstücke wirft, ist der Wahnsinn zementiert. Bis dahin besteht immer noch Hoffnung.
Das Christentum Die Kirchen stehen leerer denn je, aber ein wild zusammen gerührtes Fantasiechristentum erobert sich Platz in den Debatten wie ein verlorenes Paradies: Modern und diskursiv wie Frank Plasberg, ordnend wie die Supernanny, archaisch streng wie der Alm –Öhi, milde und schutzbedürftig wie der Geist von Inge Meysel. Alle guten Menschen sind auf die eine oder andere Art irgendwie damit infiziert, aber das tatsächliche kontinuierliche Wirken seiner häufig disparaten Grundideen in unserer Kultur wird nach wie vor kaum thematisiert. Der Abstieg von einer Religion zum Allzweckmythos in häufig xenophoben Debatten. Findet sich denn nirgendwo ein gläubiger Christ, der dagegen mal protestiert, und sei es aus purem Stolz?
Kulturen Homogene Gebilde aus Werten, Bräuchen und Kunstwerken (das spielt aber eine eher untergeordnete Rolle), die irgendwie nichts mit dem durchmischten Durcheinander zu tun haben, in dem wir leben, unddie daraus wieder destilliert werden sollen.
Vampyre Dazu hier jetzt nicht auch noch etwas.
Batman Immerhin. Wenn auch in seiner jetzigen Form eindeutig eine 90er Jahre Gestalt mit all den dazugehörigen fragwürdigen Ingredenzien von schlechter Welt, weisen Serienmördern, Leder und überkomplizierten Traumata, und im Comic tatsächlich in seiner ursprünglichen Inkarnation tot,- immer noch eine ergiebige Geschichte. Unsichere, verlockende Großstädte, ein unglücklicher, zerrissener Beschützer, sehr Schauerroman und sehr modern, beinahe unendlich variierbar (im Comic bereits mehr oder weniger durchgespielt). Ein neuer Film ist in Arbeit.
Das nur als erster, extrem stichprobenartiger Versuch, ohne Berücksichtigung der aktuellen Nachrichtenhypes, die uns hoffentlich nicht allzu lange begleiten werden. Jeden Tag wird die Mythenbörse neu verhandelt, werden mögliche verbindende Erzählungen neu notiert. Ein keinesfalls unschuldiger und keinesfalls beliebiger Prozess, der immer zugleich Symptom und Motor für die allgemeine Befindlichkeit ist. Prognosen bleiben schwierig. Wir werden, vermutlich, trotz der allgegenwärtigen Forderung nach Paradiesvorstellungen und Utopien, auf breiter Basis in absehbarer Zukunft nur wenig weiche Mythen erwarten dürfen. Sondern eher einen neuen, verbesserten Schwung wettergegerbter Durchhaltegeschichten (fiktiv und nicht so fiktiv). Erfolgsstories könnten deutlicher von heroischen Misserfolgsstories abgelöst werden. Es wird möglicherweise trotz einiger erfolgloser Versuche weiterhin verstärkt Rückgriffe auf tatsächliche alte Mythen geben, und wenn wir Glück haben, abendländelt und deutschtümelt das hier nicht allzu sehr. Natur könnte ein noch größeres Thema werden, das Gleiche gilt für Darstellungen von Dissidenz. Und wenn uns die Götter der Erzählungen wohlgesonnener sind, als wir zur Zeit erhoffen dürfen, kehren die Schlümpfe endlich auf das Feld der allgemein bedeutsamen Geschichten zurück. Meinetwegen auch als großer deutscher Film mit Moritz Bleibtreu in einer tragenden Rolle.
Text: Florian Schwebel
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24. September 2010 um 22:46 Uhr
tom cruise ist n i c h t der junge mann im amerikanischen film
er ist immer der soldat
film ist keine bildersprache
sondern eine zeichensprache (signifikat/signifikant)
anton
24. September 2010 um 23:25 Uhr
Er ist, was immer junge Männer gerade zu sein haben, oder? Da geht es doch um Zeichen, nicht um Bilder. Er begann als jugendlicher Liebhaber, dann war er Yuppie, Sportler, Ehemann von Nicole Kidman… und immer wieder auch Soldat. Aber er schleppt doch schon deutlich die Jugend mit sich herum (andere spielen mit 30 schon vernarbt/werden so eingesetzt/von Drehbuch und Regie behandelt).