Die Geschichte eines Serienkillers als Comic
Der Titel klingt wie eine Provokation. Mein Freund Dahmer nennt der Zeichner Derf Backderf seine Graphic Novel und meint damit den gleichnamigen Serienkiller. Jeffrey Dahmer ermordete zwischen 1978 und 1991 siebzehn Männer, befriedigte sich an ihren Leichen und verspeiste sie teilweise. Aber gerade um diese schockierenden Details geht es Backderf am allerwenigsten. Sein soeben auf deutsch erschienener Band zeigt keinen einzigen dieser Morde im Bild. Die Erzählung endet kurz nach dem ersten Verbrechen Dahmers und fokussiert auf dessen Jugendjahre.
Diesen Schwerpunkt setzt Backderf nicht in der Hoffnung, die Taten biografisch vollständig erklären oder gar rationalisieren zu können. Er geht damit einfach seinen Erfahrungen nach. Denn der spätere Zeichner war in der Highschool tatsächlich so etwas wie ein Freund Dahmers, so weit dieser überhaupt welche hatte. Mit dem Abstand einiger Jahrzehnte und dem Wissen um die Verbrechen seines ehemaligen Mitschülers nähert sich Backderf im Comic diesen prägenden Jahren an. Der Zeichner betont im Vorwort, er wolle Dahmer nicht entschuldigen. Statt seinem mörderischen Trieb immer mehr nachzugeben, hätte er sich der Polizei stellen oder selbst richten können. Zugleich ist Backderf überzeugt, dass die Mordserie zu verhindern war. Weniger gleichgültige oder unaufmerksame Erwachsene hätten bemerken können, dass mit dem jungen Dahmer etwas nicht stimmte.
Genau hierin liegt die Stärke von Backderfs Arbeit. Sie porträtiert eine Gesellschaft, in der jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um die Probleme der anderen wirklich wahrzunehmen. So bilden sich Abgründe unter der wenig aufregenden Oberfläche und werden mit der Zeit immer tiefer. Solche Deutungen überlässt Backderf allerdings seinen Lesern. Seine Graphic Novel enthält sich allgemeiner Interpretationen und erzählt stattdessen unaufgeregt und stimmig vom Aufwachsen im kleinstädtischen Amerika der späten siebziger Jahre.
In Akron, Ohio setzt der industrielle Niedergang ein. Während die Stadt stirbt, bekommt in den Vororten die klein-familiäre Idylle immer stärkere Risse. Die Highschool ist durch den Babyboom völlig überlaufen, wer nicht auffällt, wird irgendwie mitgeschleppt. Jeffrey Dahmer gehört zu den Stillen, die immer mehr vereinsamen. Eindrücklich schildert Backderf wie der pubertierende Dahmer feststellt, dass sein sexuelles Begehren nicht der Norm entspricht. Allein seine Homosexualität hätte ihn endgültig zum Außenseiter gestempelt. Aber dass die Männer in seinen Fantasien tot sind, lässt ihn verzweifeln. Über solche offensichtlich kranke Vorstellungen wagt er nicht zu sprechen. Mit wem auch? Seine Eltern sind in einer unglücklichen Ehe gefangen, die psychische Gesundheit der Mutter ist obendrein angeschlagen, und richtige Freunde hat er keine.
Dahmer ist sehr wohl bewusst, dass in ihm etwas lauert, was nicht befreit werden darf. Also versucht er sich durch starkes Trinken zu betäuben. Selbst sein systematischer Schnapskonsum zwischen den Unterrichtsstunden bleibt von den Lehrern offenbar unbemerkt. Und seine Kumpels wie Backderf begreifen die Dimension erst später. Schließlich ist Dahmer nicht der einzige, der auf dem Schulgelände trinkt oder kifft. Außerhalb der Schule experimentiert Dahmer mit Tierkadavern, die er im Wald aufliest, häutet und zerlegt. Am Ende seiner Highschool-Zeit, als er durch die Trennung der Eltern das Haus für sich allein hat, begeht er seinen ersten Mord.
Backderfs Graphic Novel ist einerseits streng subjektiv. Sie beruht auf Erinnerungen und Gesprächen mit Freunden und klammert alles aus, was sich nach den gemeinsamen Highschool-Jahren abgespielt hat. Zugleich hat Backderf sorgfältig recherchiert. Ein ausführlicher Anhang nennt zu jeder Seite Quellen, darunter freigegebene FBI-Akten, Zeitungsartikel und Fernsehinterviews mit Dahmer und seinen Eltern. Der auf den ersten Blick provokante Titel erweist sich nach der Lektüre als mutig: Backderf bezeichnet sich als Freund eines Menschen, der landläufig als das „Monster von Milwaukee“ gilt. Dieses Bild zu unterlaufen, ist Backderfs erklärtes Ziel, und das gelingt ihm auch. Der Schüler Dahmer, so wie Backderf ihn zeigt, ist ein Außenseiter mit familiären Problemen wie es sie zu hunderten gibt; lediglich seine gut verborgene Beschäftigung mit toten Tieren fällt aus dem Rahmen. Auch die Umstände seines Aufwachsens schildert der Comic als wenig spektakulär. Monotones Kleinstadtleben, schulischer Massenbetrieb und gleichgültige Erwachsene begleiten nach wie vor viele Jugendliche durch die Pubertät. Durch diese Darstellung verharmlost Backderf seinen mörderische Schulfreund nicht. Im Gegenteil: Gerade weil Dahmers Lebensumstände so gewöhnlich waren, können sie die Morde nicht erklären.
So wenig er Dahmer entschuldigt, so wenig präsentiert der Comic ihn als Horrorgestalt: Backderfs Dahmer ist weder Monster, noch Opfer seiner Umstände, sondern eher ein Normalo mit monströsen Zügen. Dabei lässt der Zeichner keine Zweifel an seiner Haltung aufkommen. Bei aller möglichen Mitverantwortung der Erwachsenen in Dahmers Umfeld bleibt dieser doch jemand, der um seiner Triebbefriedigung wegen Menschen zu Objekten degradiert hat.
Damit entgeht Backderf nicht der generellen Problematik, die jeder Beschäftigung mit Serientätern anhaftet. Da die Verbrechen so außergewöhnlich sind, rücken die Mörder in den Mittelpunkt, und für ihre Opfer fallen allenfalls Brosamen der allgemeinen Aufmerksamkeit ab. Allerdings hebt Backderfs Arbeit sich von anderen Darstellungen ab, weil sie spektakuläre Effekte möglichst meidet und das Grauen eher andeutet. Dazu passt eine Optik, die sich am Underground der siebziger Jahre orientiert, ein grafischer Stil also, der mit leichtem, eher karikaturhaftem Strich von Abgründigem erzählt. Auch deswegen bietet Backderfs in schwarz-weiß gehaltene Graphic Novel eine zwar fordernde, aber eindrucksvolle Lektüre.
Steffen Vogel
Bilder: Metrolit
Derf Backderf: Mein Freund Dahmer
Übersetzt von Stefan Pannor
Metrolit, Berlin 2013, 232 S., 22,99 Euro
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