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Sieben Jahre nach ihrem Bestseller „Die alltägliche Physik des Unglücks“ erscheint Marisha Pessls zweiter Roman.
„Die amerikanische Nacht“ ist ein Trip ins Unheimliche.

Schier unheimlich perfekt ist der Zeitpunkt gewählt: Der Name Stanislas ist ja gerade von einer eigentümlichen Magie umgeben. Und was könnte da für eine charismatische Verankerung im kollektiven Bewusstsein gelegener kommen als dieser Stanislas Cordova? So ähnlich im Klang wie Stanislas Wawrinka? Die amerikanische Autorin Marisha Pessl erzählt in Interviews schon seit Jahren über den B-Movie-Regisseur Stanislas Cordova. Streut beiläufig Anekdoten über seine Filme und sein Leben ein, und die Zuhörer schämen sich, Cordovas Werk nicht zu kennen.

Das können sie auch nicht. Stanislas Cordova hat es nie gegeben. Er entspringt einzig und allein Marisha Pessls Fantasie. Dass diese überbordend ist, das hat die 35-Jährige vor sieben Jahren mit ihrem ersten Roman „Die alltägliche Physik des Unglücks“ bewiesen. Der handelte von einer Tochter und ihrem Vater. „Die amerikanische Nacht“ („Night Film“ im Original), der Cordova-Roman, handelt von einem Vater und seiner Tochter. In beiden überschatten Werk und Wirken des Vaters das Leben der Tochter. Im Erstling entpuppte sich der hoch intellektuelle Vater als Terrorist auf der Flucht, jetzt, im Zweitling, ist der Vater – eben jener Stanislas Cordova – ein Kultregisseur, der allmählich im Wahnsinn der eigenen Schöpfungen versinkt.

Verloren in der eigenen Fiktion

Fünfzehn Filme hat ihm Marisha Pessl angedichtet, für jeden hat sie eine Handlung erfunden und Schauspieler, hat die Plakate entworfen und Kritiken geschrieben. Und so sehr hatte sie sich in dieser fiktiven Filmografie irgendwo zwischen Stanley Kubrick, George A. Romero und Dario Argento verloren, dass ihre Mutter sie ermahnen musste, jetzt aber endlich mal den dazugehörigen Roman zu schreiben.

Und Marisha Pessl, die sich selbst bloß als „Geschichtenerzählerin“ sieht und die sich auch gar nicht mit dem amerikanischen Literaturbetrieb identifizieren will (eine Koketterie, immerhin hat ihr dieser für das erste Buch eine halbe und für das zweite eine ganze Million Dollar an Vorschüssen zugeschanzt), begann ihren neuen Roman mit dem Tod eines Wunderkinds. Mit Cordovas 24-jähriger Tochter Ashley, die am Fuße eines Liftschachts in Manhattan tot aufgefunden wird. Als Teenager war Ashley eine weltberühmte Pianistin gewesen, natürlich wunderschön, mehr Wesen als Mensch, schon in sich selbst ein Rätsel und noch rätselhafter in ihrem Tod.

Der Journalist Scott McGrath, ein Gefallener seiner Zunft und besessen von Ashleys Vater, macht sich hinter den Fall. Zusammen mit einer jungen Möchtegern-Aktrice, deren Vogel und einem ebenso jungen Drogendealer, der über seltsame Zufälle mit Ashleys Geschichte verbunden ist. Und nun geht es fast 800 Seiten lang auf einen Trip, in dem sich Wahn und Wirklichkeit derart ineinander verkrallen, wie das sonst nur im Horrorfilm zu erleben ist.

Marisha Pessl ist in ihrem zweiten Roman vor allem dies: eine geniale Baumeisterin. Das betrifft die komplex gebauten Plots ebenso wie die Architektur des Unheimlichen: Es wimmelt von Spukhäusern, Irrenanstalten, düsteren Bars und Tattoo-Studios, unterirdischen Tunnelsystemen, zerschlissenen Appartements drogensüchtiger alternder Filmstars. Und natürlich ist da noch The Peak („Twin Peaks“ grüßt), der abgeschottete Landsitz von Cordova, wo er alle seine Filme drehte und auf dem er alle Kulissen stehen ließ, ein vollkommen künstlicher Raum, der jedoch zu leben beginnt, sobald ihn jemand betritt. Eine Maschine der Schrecken.

Dazwischen: Schicksale. Menschen, deren Leben von Cordova gestreift oder gar vernichtet wurden. Und immer die Frage: Wie weit ging der Mann eigentlich in seiner Kunst? Zwang er seinen Sohn wirklich, mit abgetrennten Fingern eine Szene zu spielen? Und was hat es mit den perversen Partys à la „Eyes Wide Shut“ in einem geheimen Strandclub auf sich? Filmfreaks wähnen sich bereits jetzt im Zitaten-Nirvana und versuchen, Pessls Universum aufzuschlüsseln. Selbst ernannte Plagiatsjäger zählen derweil Parallelen zwischen Cordova und Max Castle, dem ebenso fiktiven Regisseur von ähnlich bösen Filmen aus Theodore Roszaks Kultroman „Flicker“.

Das ist auf einer kriminalistischen Ebene zutiefst befriedigend und meist spannend, besonders die ersten und die letzten circa 150 Seiten, dazwischen gibt es Passagen, die sich gelegentlich im allzu Mechanischen erschöpfen. Doch wenn sich Pessl Zeit nimmt, eine Szene in sich wachsen zu lassen und ihrem Talent zur Gothic Novel vertraut und immer surrealer wird, dann kann man nur staunen, welchen Sog die Frau erzeugen kann. Fast nur mit Worten.
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Sie hat nämlich noch ein bisschen getrickst. Hat seitenweise „Belege“ über die Echtheit ihrer Geschichte dazwischen montiert. Ausgerissene Zeitungsartikel über die Cordovas. Screenshots von Fan-Seiten aus jenem schwer verschlüsselten Bereich hinter unserem Internet, dem Deepnet, wo sich das Grauen unserer Tage versammelt. Ein Vanity Fair-Porträt von Ashley. Alles aus der Hand von Marisha Pessl. Das wäre nicht unbedingt nötig, aber nett ist es auf jeden Fall, es gibt der Geschichte eine zusätzliche Verankerung im medialen Trash.

Die schlaue Diebin und ihr Pate

Vielleicht will sich Marisha Pessl deshalb nicht als Schriftstellerin bezeichnen, weil sie genau weiß, dass sie eigentlich eine schlaue Diebin ist. Ihr Stil ist kein originärer, sondern eine Imitation, genauso virtuos wie die erfundenen Filmplakate. Schon über der „Alltäglichen Physik des Unglücks“ thronte ein literarischer Pate, damals war es Vladimir Nabokov, jetzt sind ihre Vorbilder „hard boiled“ Detektivromane, in denen die Ermittler so cool sind, dass sie eher bellen als sprechen und deren Metaphorik unbedingt markig sein muss. So einer möchte Scott McGrath gern sein und so erzählt er leider auch über weite Strecken: „Die Frauen von Manhattan – so großartig sie auch sind, manchmal vergessen sie, dass sie nicht unsterblich sind.“ Oder: „Kurz blitzte in seinem Gesicht der schamlose Blick der Begierde auf, so unverkennbar wie ein Lichtsignal, das ein Öltanker einem anderen Schiff über die dunkle See zusendet.“

Aber vielleicht ist es ja ganz anders, und gerade dies ist die echte Marisha Pessl. Sie sei nämlich auch ganz schön „hard boiled“, sagte sie in einem Interview. Besonders seit ihrer Scheidung von einem Hedgefonds-Manager, die zwischen dem ersten und zweiten Roman liegt. Eine Erfahrung, die sie eng mit Scott McGrath verbindet. Für ihren dritten Roman hat sie übrigens ganz was anderes versprochen: „Vielleicht mal eine Mutter und einen Sohn.“

Simone Meier, Tages-Anzeiger 12.09.2013

 

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