Georg Seeßlen: Deutsche Pop-Musik von Qualität und Charakter
Pop-Musik von Qualität und Charakter gerät in Gefahr, ins Feuilleton zu kommen. Und dann geht das los: Kaum ist das Label „Diskursrock“ entstanden, sprechen die Authentizisten bereits von „Feuilleton-Rock“, und, wenn sie schlecht geschlafen haben und mit den Texten hadern, gar von „Feuilletonisten-Rock“. Zur gleichen Zeit geraten die Produzenten der Pop-Musik von Qualität und Charakter in Verkettungen von Selbstreferenz und Befreiung aus der Selbstreferenz. Platten und Konzerte lassen sich ohne eine dritte Kunstform, das Interview, gar nicht mehr als kompaktes Statement auffassen, was natürlich konsequenterweise zu neuerlichem feuilletonistischen Gerede etwa um Meta-Ebenen oder Sloganismus bzw. Anti-Sloganismus führt. Der Rock’n’Roll ist beim Teufel (bzw. eben genau da nicht mehr) und muss daher, was wiederum ausgesprochen kreativ sein kann, beständig neu er- und gefunden werden. Eine Band wie Tocotronic muss daher mit jedem neuen Album „eine Wende vollziehen“ und sich (darin) eben genau „selber treu bleiben“. Donaldistisch sozialisierte Menschen nennen so etwas einen „Schwurbel“. Tocotronic machen perfekte Schwurbel-Musik.
Diskursrock ist eigentlich nichts Anrüchiges, auch wenn das Wort nicht wirklich gut klingt. Es besagt vielleicht zunächst einmal, dass Text und Musik nicht in einer organischen sondern in einer dialektischen Beziehung zueinander stehen. Das muss nun nicht heißen, dass sie in jedem Fall besonders „bedeutend“ sind, wie es manchmal im klassischen „Deutschrock“ übel auffiel, es heißt wohl eher, dass sich Text und Musik auf Augenhöhe begegnen, dass sie sich nicht ineinander auflösen oder, anders herum, sich keinesfalls gegenseitig als „Transportmittel“ missbrauchen. So ist also etwas wie Tocotronic schon mal nichts „integriertes“, und auch nichts so furchtbares wie ein „Gesamtkunstwerk“, sondern im Gegenteil, die Schnittstelle eines literarischen, eines musikalischen und eines visuellen Projekts, die allesamt mit ihren biografischen, sozialen und ästhetischen Wurzeln trefflich spielen können.
Trotz, Verweigerung & Poesie, die Markenzeichen von Tocotronic, waren Haltungen, die sehr gut in die Zuordnung der „Hamburger Schule“ passen, die aber wiederum auf den ersten Blick so recht nicht zum Fatih Akin- und Altona-Kiez-Hamburg passen will. Arne Zank (Schlagzeug, Gesang, Keyboards) und Jan Müller (Bass) spielten zu Beginn der neunziger Jahre in einer Band mit dem Anti-Rock-Namen schlechthin: „Meine Eltern“. Und das erste Album von Tocotronic hieß ausgerechnet „Digital ist besser“. Vielleicht folgte Blumfeld nach dem Verlust der „großen Erzählung“ des Rock eher dem übrig gebliebenen, verlassenen Subjekt, während Tocotronic (benannt nach einer japanischen Spielkonsole, man könnte aber auch sagen: benannt nach einem ersten Versuch eines neuen, hm, „Dings“) die Partikel der großen Rock-Erzählung selber untersuchten. Mit „Schall & Wahn“, dem neunten Album der Gruppe, vollendet sich nun freilich eine „Berliner“ Trilogie, und was es nun mit dem Zusammenhang von Stadt und Tocotronic auf sich hat, kann man als fragenswert befinden oder nicht.
Vielleicht ist die Selbstreferenz in einen größeren Rahmen getreten. Auf „K.O.O.K“ wurden sowohl „Die Grenzen des guten Geschmacks“ beschrieben als auch, in „Let There Be Rock“, das wesentliche einer Band vorgestellt: Guitarre, Bass, Schlagzeug, Gesang, und im Glücksfall (oder auch nicht) ist das Ganze etwas anderes als die Summe seiner Teile. Der innere Zwang von Tocotronic, scheint die Verbindung aus Dekonstruktion der eigenen Mittel und Statements, die um so unschärfer zurückschauen, je genauer man sie ansieht. So kann man ein ganzes Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ nennen, was einerseits eh klar und sowieso ist, und andrerseits: Hat irgendwann irgendwer irgendwo Angst haben müssen, irgendwas wäre von purer Vernunft besiegt worden? Und tatsächlich rief man bereits auf „K.O.O.K“ den ersten Meta- und Anti-Slogan aus: „Die neue Seltsamkeit“.
Wenn Slogans kapitalistisch erfrorene Poesie sind, dann ist der Tocotronic-Sloganismus natürlich eine Methode des Auftauens und Repoetisierens. Deshalb schwingt, neben der Ironie, immer so eine gewisse Trauer mit, so wie man auch in der Musik (und auch das ist auf „Schall & Wahn“ wunderbar zu hören) auf eine scharfe Konstruktion immer so etwas wie die Ankündigung des Zerfalls folgen lässt, oder, noch poetischer, ein typischer „Tocotronic“-Song wie der Schluss, bezeichnenderweise „Gift“ betitelt, deutet in instrumentalen Passagen an, dass er auch ganz woanders hin könnte, sogar völlig aus dem Tocotronic-Universum verschwinden, wer weiß.
Immer noch, und trotz der Geschichte mit der verschwundenen großen Erzählung, gehört zum Rock die Jugend, der Abschied von ihr und die „Was dann?“ – Frage. Vom nur teilweise sarkastischen „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ führt der Weg zu „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ auf dem dritten Album, „Es ist egal, aber“. So etwas kann nur jemand singen, der weiß, dass man eben gerade nicht so sehr mit jemand mitgegangen ist, und dass es womöglich dieses „Ich“ höchstens so unscharf wie das „Euch“ gibt. Überhaupt besteht ein großer Teil der Tocotronic-Poesie darin, extrem unscharfe Verhältnisse in über-klaren Worten auszudrücken, oder, was die Musik anbelangt, dekonstruktive Klarheit in der Instrumentierung mit der Unschärfe ewiger Übergänge zu verbinden. Loslärmen und Innehalten, Garagenpostpunk und Neofolk-Liedermachertum nicht nach- sondern ineinander (und zunehmend etwas, das man in Ermangelung eines anderen Begriffes „Kunst-Musik“ nennen könnte). Beides, Musik wie Text, verweigern sich so konsequent, dass man sie auf geniale Weise wieder gewonnen wähnen mag, dem entweder korrupten oder übererklärten Mainstream ebenso abgetrotzt wie dem authentizistischen Do it yourself-Indierock. Auch dagegen, kann man meinen, richtet sich der Song auf „Schall & Wahn“, „Macht es nicht selbst“ (und genauso natürlich gegen die Auslagerung der Dienstleistungen in den Heimbereich durch den Neoliberalismus, der seine Rationalisierungen auch noch als „Kreativität“ verkauft, und gegen zwei, drei andere Sachen, die mit dem Selbermachen zu tun haben).
Musik, Text und Band-Bild haben offensichtlich klare Aussagen, so als könnte man etwas eher Mysteriöses im Gestus des Unmissverständlichen sagen (und wunderbarer Weise verwandelt sich dabei eine ganze Menge vom „Unmissverständlichen“ ins Geheimnisvolle). Den künstlerischen Kniff entdeckt man erst, wenn man versucht, etwas davon „anzuwenden“. Slogans und Musik sind genau so Fallen wie das Obere-Mittelklassen-Jungs mit Mittelscheitel und Abitur-Image der selbstironischen Attac-Mitglieder oder Party-Rumsteher. Und auch den Status als, durchaus, Stars der versprengt-dissidenten Bürgerjugend nahmen Tocotronic zugleich an und verweigerten sich ihm. Focussierte Unschärfe übrigens auch in der Konstruktion des erotischen Bildes. Dem manisch-depressiven Rockismus setzt man eine selbstbewusste Bescheidenheit entgegen, mit der Maßgabe, auch das, bitte schön, nicht gleich wörtlich zu nehmen. Tocotronic stellt sich als ein Modell vor, in dem man sich unentwegt selber beobachten kann, ohne dabei verrückt zu werden.
Die „Band“ bei Tocotronic, mittlerweile sind es sehr traditionell vier feste Mitglieder, ist höchstens noch am Rande Sozialisationsinstrument und „Familie“, vor allem ist sie selbst ein Kunstprojekt, ähnlich einer „Ausstellung“, die man eben auch linear oder dekonstruktiv anordnen kann. Tocotronic ist zugleich eine Band, die Performance einer Band und die Überlegung: „Was ist eigentlich eine Band“? Und wenn das ganze mehr ist als die Summe der Teile, dann erschöpfen sich umgekehrt die Teile nicht im ganzen. Alle Mitglieder von Tocotronic arbeiten auch in anderen Projekten; Dirk von Lowtzow in „Phantom/Ghost“, Jan Müller bei „Das Bierbeben“ und „Dirty Ashes“, Arne Zank tritt als „DJ Shirley“ auf und Rick McPhail gehört zu „Glacier“. Und Tocotronic selber ist ein ideales Instrument zur Kooperation. Auf „Schall und Wahn“ gibt es zum ersten mal das männlich/weibliche Gesangsduo (von Lowtzow mit Julia Wilton von „Das Bierbeben“ und mit Michaela Meise auf „Das Blut an meinen Händen“ und „Stürmt das Schloss“: einmal ist das mehr „Musik“, und das andere mal mehr „Drama“). JaKönigJa steuern auf dem Album Bläsersätze bei, und der Komponist Thomas Meadowcroft ist für die Strings verantwortlich, der übrigens unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit der Münchner Theatergruppe „Hunger und Seide“ und mit dem kanadischen Videokünstler Peter Sabat bekannt ist. Wichtig ist das alles vor allem deshalb, weil es zeigt, wie anschlussfähig und offen das Tocotronic-Universum (mittlerweile) ist.
Wenn sie spielen, dann betrachten die Tocotronic ihre Instrumente so andächtig wie Rimbaud seinen Bleistift. Es ist Instrument, nicht Körper. Luftguitarre spielt niemand zu Tocotronic, es sei denn, man greift richtige Akkorde in der Luft. Und niemand hat die Geschichte der Verweigerung so kohärent erzählt: 1996 sollte die Band auf der „Popkomm“ mit dem Musikpreis des Fernsehsenders VIVA, dem „Comet“ ausgezeichnet werden, in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“. Man bedankte sich freundlich, lehnte den Preis aber mit den bemerkenswerten Worten ab: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben, naja …“.
Der Weg geht, glücklicherweise, eben nicht nach oben sondern nach vorn, wo immer das ist. Das Aufbrechen, das Sich-Lossagen, das Fortgehen ist das Leitmotiv der Band; und am ehesten „versteht“ man Dirk von Lowtzows Texte, wenn man nicht fragt, wovon sie handeln, sondern wo rum sie herum gehen. Und wovor sie auf der Flucht sind; auf jeden Fall davor, sich als fortlaufenden manifestösen, signalgebenden Roman der post-allesmöglichen Bürgerkinder missverstehen zu lassen. Alles, was Tocotronic zu sagen hat, steckt in höflichen und einigermaßen sublimen Vorschlägen zur Selbstermächtigung. Vielleicht ist es die richtige Musik für einen Aufstand der einzelnen.
Die fokussierte Unschärfe ist auf „Schall & Wahn“ erneut Prinzip. „Schall und Wahn“ kommt von Shakespeare zu Faulkner, steht am Anfang der literarischen Moderne und in den Bücherregalen möglicherweise ausgedachter Bildungsbürgerkinder, beschreibt den Rock’n’Roll im allgemeinen und Tocotronic im besonderen und ist, schon wieder, etwas ganz und gar konkretes und sehr unscharf Metaphysisches. (Und Dirk von Lotzow gibt den Titelsong betont „sweet“.) Aber erinnern wir uns: Benji aus „Schall und Wahn“ ist ein kleines Kind im Körper eines Mannes, ein „Behinderter“, der sich nur mit Schreien verständigt, und Quentin, der sich am Ende ertränkt, hat sich, bevor er seiner eigenen Schuld zum Opfer fällt, um ein sprachloses Mädchen gekümmert.
Die Musik ist luzider denn je; wenn Tocotronic bislang für jedes Album ein akustisches Konzept entwickelten, dann ist „Schall & Wahn“ zugleich enzyklopädische Sammlung und entschlossene Öffnung. Es wimmelt vor erwarteten Überraschungen und überraschenden Erfüllungen; das Wort „abgehoben“ wäre hier zuförderst sinnlich zu verstehen. Ein wunderbarer Schwebezustand zwischen Denken und Träumen, Da-Sein und Weg-Sein.
Und damit sind wir auch beim einzigen ernsthaften Tocotronic-Problem: Sie sind wie Paolo Conte in einer Pizzeria. Darauf können sich (beinahe) alle einigen. Vielleicht mögen nicht alle Tocotronic, aber so gut wie niemand stört sich an ihnen. Und wie lange kann man Feuilleton-Texte schreiben über Dinge, an denen sich niemand stört?
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in Der Freitag, 29.01.2010
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