6.469.592 Flecken für 101 Hunde
Ein in jeder Beziehung gewichtiges Buch, das zum Schwärmen verführt
Um es in der Angebersprache eines Werbetexters zu sagen: Dies ist ein Buch, an dem man sich kaum sattsehen und endlos festlesen kann. Ein Buch, das allein vom Umfang her viel verspricht und an Schauwerten noch mehr einlöst. „The Walt Disney Archives“ ist ein XXL-Buch, das zu schwelgerischen Superlativismen verleitet.
Jetzt die nüchternere Diktion eines positiv gestimmten Rezensenten: „The Walt Disney Archives“ ist eine 624 Seiten starke Buchedition mit rund 1500 Abbildungen, die die Animationsfilme des Hollywood-Produzenten und Filmpioniers Disney zu neuen Ehren kommen lassen. Akribisch werden die Stationen eines produktiven Lebens nachgezeichnet. Von den kurzen Laugh-O-grams, die in den frühen 1920er Jahren in Kansas City Beiprogramm im lokalen Kino waren, bis zu einem Super-Size-Film wie „Mary Poppins“ (1964), der allein schon mit einer Länge von 140 Minuten einzig ist. Oder „Das Dschungelbuch“ (1967), der letzte abendfüllende Zeichentrickfilm, den Disney persönlich leitete und der noch einmal die Meisterschaft verschiedener seiner legendären „Nine Old Men“ zeigte.
Filmarchivbücher haben beim Taschen Verlag mittlerweile Tradition. Ingmar Bergman, Charlie Chaplin, Stanley Kubrick – ihre Filme, Skizzen, Bilder, selbst unausgeführt gebliebene Projekte sind in repräsentative Coffeetablebooks eingegangen. Mit Walt Disney freilich stößt der Verlag zu neuen Dimensionen vor. Zum ersten Mal steht hier nicht bloß das Werk von Autorenfilmern oder eines genialen Multitalents zur Vermessung an – bei Disney hat man es mit einem Koloss zu tun, der sich als frühes Start-up-Unternehmen auf dem Hollywood-Markt durchsetzte und als global operierender Medienkonzern Wirkungsmacht weit über den Tod seines Gründers hinaus besitzt. Das Disney-Reich abzuschreiten und zu würdigen, geht natürlich nicht in einem Band. Disney verlangt zwingend nach einer Serie seiner eigenen Geschichte. Die Editionspraxis trägt dieser Herausforderung nach Fortsetzung diskret Rechnung. Der Untertitel des jetzt erschienenen Archiv-Buchs heißt: „Die Animationsfilme 1921 – 1968“. Das weckt Vorfreude auf das, was noch kommen wird. In welchem Umfang auch immer.
„Walt Disney liebte Bücher“. Mit dieser einfachen Feststellung beginnt der Kölner Herausgeber Daniel Kothenschulte sein Vorwort. Man liegt sicher nicht falsch in der Annahme, dass Disney, wenn er es denn noch könnte, auch nach diesem biographischen Konvolut greifen würde. Das Buch, in Kooperation mit der Walt Disney Company und ihren Unterabteilungen entstanden, lässt den Firmengründer in einem positiven Licht erscheinen. Schlimmstenfalls wirkt er wie ein Controlfreak, der weit nach Feierabend durch die verlassenen Büros seiner Mitarbeiter streift und den Fortschritt ihrer Arbeit begutachtet. Selbst die Papierkörbe der Animateure soll Walt durchwühlt und zerknüllte Zeichnungen herausgefischt haben. Am nächsten Morgen fanden seine Leute dann Zettel auf dem Tisch mit der Ermahnung, sie sollten bloß nicht weiter das „gute Material“ wegwerfen. „Walt Disney wusste, was jeder tat“, schreibt Filmhistoriker Charles Solomon in seinem Aufsatz über die Jahre des Hyperion Studios (1926 – 1940). „Disney schien überall zu sein“. Die Kontrollsucht erscheint aber als liebenswürdige Schrulle eines Studiobosses, der nicht zum seelenlosen Manager werden will. Das war seine Art, um als Künstler auf dem Laufenden zu bleiben und weiter eigene Akzente setzen zu können. Die erhaltenen Mitschnitte von Storykonferenzen, die im Buch ausschnittweise dokumentiert sind, zeigen Walt Disney als willigen Teamarbeiter, der zwar mit konkreten Ideen und Vorstellungen in eine Sitzung geht, der aber durchaus willens ist, fremde Meinungen mitzutragen und sich von neuen Einfällen verführen zu lassen.
Natürlich sind die Reproduktionen der alten Cels, Zeichnungen, Fotos, Plakate etc. beeindruckend; der detektivische Spürsinn, diese im weitverästelten Disney-Imperium verstreuten Dokumente aufzufinden, verdient Anerkennung und die drucktechnische Wiedergabe ist in ihrer Qualität bestechend – „Das Walt-Disney-Filmarchiv“ ist ein opulentes Bilderbuch. Aber es ist mehr. Das Buch beeindruckt durch einen editorischen Ehrgeiz, der über das hinausgeht, was man vom durchschnittlichen Coffeetablebook kennt und erwartet. Keine bloß plätschernden Beiträge über die Facetten eine Person, der es zu huldigen gilt. Stattdessen schreiben unter Leitung des Publizisten und Animationsfilmkenners Kothenschulte ein Dutzend international renommierte Autoren mit filmhistorischem Anspruch und Ehrgeiz, inklusive Quellenverzeichnis und Fußnoten-Apparat.
Die Bilder sprechen ihre Sprache und die Texte unterstreichen es: So sehr Walt Disney die prägende Figur im Studio war, so wenig kann von einer Einmannherrschaft die Rede sein und genauso wenig gab es einen einheitlichen, verbindlichen Disney-Stil. Zum Erfolgsgeheimnis des Studios gehörte Stilpluralismus. Reichtum aus Vielfalt, verbunden mit einem künstlerischen und technologischen Vorsprung, der einen Regisseur von der Konkurrenz bei Warner Brothers bei der Herausbringung von „Pongo und Perdita – 101 Dalmatiner“ (1961) seufzen ließ: „Nur Disney konnte einen Film mit 101 gefleckten Hunden machen. Wir hatten schon Schwierigkeiten, einen Film mit einem Hund mit nur einem Fleck zu machen.“ Laut einer alten Pressemitteilung des Studios hatte Pongo 72 Flecken, Perdita 68 und die Welpen 32 Flecken. Das macht summa summarum 6.469.592 Flecken im 79minütigem Film…
Das Buch bringt natürlich auch ein Wiedersehen mit Mickey Mouse und Donald Duck, den archetypischen Figuren des anthropomorphen Disney-Bestiariums. Wir erleben den ewigen Wüterich Donald in ganz untypischer Mission. In Europa und im Pazifischen Raum tobte der Zweite Weltkrieg und die USA erinnerten sich in der Stunde der Bedrängnis daran, dass es im südlichen Halbkontinent Staaten gab, die drauf und dran waren, dem deutschen Einfluss zu erliegen. Also wurde ein Good-Neighbor-Programm aus dem Boden gestampft. Auch Disney und seine Leute gingen auf Kulturreise gen Süden. Das sichtbare Ergebnis waren die zwei Episodenfilme „Saludos Amigos“ (1942) und „Drei Caballeros“ (1944). Beide Male spielte Donald eine positive Rolle, die nur als Bruch von Sehgewohnheiten zu werten ist – und trotzdem funktionierte. Die „New York Times“ sah sich zu dem verblüfften Ausruf veranlasst: „Donald, der ursprünglich nur irgendein Schreihals war, wurde zu einer Art internationalem Botschafter, zu einem Handlungsreisenden amerikanischer Lebensart.“
In diesen Kriegsjahren wuchs Donald aber auch an der Heimatfront über sich hinaus und bot Walt Disney Gelegenheit, sich als „guter Amerikaner“ zu profilieren. Aus Donald wurde „Mr. Taxpayer“ und er sollte seine Landsleute überzeugen, zum ersten Mal in der Geschichte der USA Einkommensteuer zu zahlen. Roosevelts Finanzminister Henry Morgenthau jr. war mit der Idee eines konventionellen Erziehungsfilms voller Zweifel und Hoffnungen an Disney herangetreten. Der entgegnete generös: „Sie wollen ihr Anliegen rüberbringen. Also bekommen sie Donald. Das ist so, als gäbe ihnen MGM Clark Gable.“ Mit dieser sehr selbstbewussten Einschätzung der Popularitätswerte seiner Ente sollte Walt Disney richtig liegen. 33 Millionen Zuschauer sahen 1942 „The New Spirit“ in den amerikanischen Kinos und laut einer Gallup-Umfrage waren danach 37 Prozent der Steuerpflichtigen bereit, die neuer Steuer zur Finanzierung des Kriegs zu bezahlen.
Solch aufschlussreiche Details und unterhaltsamen Anekdoten finden sich vielfach in den Aufsätzen. Sie sind angemessen für einen Mann, über den John Lasseter („Toy Story“) als Leiter des Animationsstudios in seinem Vorwort sagt: „Walt Disney schuf eine einzigartige Form der Unterhaltung und öffnete seinem Publikum die Augen für die Magie dieser Welt.“
Das Buch bietet die Gelegenheit, Disney in Reinkultur zu erleben. Ohne die Zappeligkeit der Animation und den störenden Beiklang von Musik. Zeichnungen pur. Ein Wunsch, den ein englischer Karikaturist übrigens schon 1942 äußerte, geht in Erfüllung.
Das einzige, was einem ungeschmälerten Lesegenuss unterm Weihnachtsbaum im Weg steht, ist das 42 x 31 cm-Format. Das Buch – zumindest in der englischen Originalfassung – verlangt gebieterisch, an einem geräumigen Tisch studiert zu werden. Deutschsprachige Leser haben es etwas besser. Ihnen hat der Verlag eine Übersetzung aller Texte spendiert. Aber diese 110 Seiten in rechteckigem Softcoverformat haben einen so kleinen Satzspiegel bekommen, dass das Lesen auch nicht gerade leicht fällt.
Michael André
Product photos by Mark Seelen
Bilder: Copyright © 2016 by Disney Enterprises, Inc.
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Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921 – 1968
Taschen-Verlag, Köln 2016
620 Seiten, €150
- Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert - 4. November 2019
- Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte - 19. September 2019
- Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert - 1. August 2019
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