Vom Gebirgskaff nach Hollywood und zurück
Wie Charles Lewinsky in seinem Roman „Kastelau“ die Liste der „Überläufer“-Filme um einen neuen Titel anreichert und dabei Film als große Lüge enttarnt
Um die Truppe der deutschen „Überläufer“-Filme, die noch in den letzten Monaten des Nazi-Regimes begonnen und meistens nicht mehr fertiggestellt worden waren, ranken sich Mythen und Legenden. Zeit für eine kleine Begriffskorrektur. Überläufer, das klingt nach demokratischem Meinungsumschwung, innerem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, ja Desertion aus dem Unrechtsregime. Damit tut man den meisten jener Filme aus der letzten, allerletzten Lebensphase des Dritten Reichs zu viel Ehre an. Diese Filme brauchten nicht überzulaufen, ihre Protagonisten, Autoren und Regisseure mussten sich nicht verbiegen. Sie standen in aller Regel immer schon auf der richtigen Seite, denn sie drehten „unpolitische“ Unterhaltungsfilme. Komödien, ob im historischen Kostüm und in scheinbar friedlicher Gegenwart angesiedelt, hatten in den letzten Kriegsmonaten Konjunktur. Sie sollten die Moral und den Durchhaltewillen der Menschen im zerbombten Deutschland heben. Sie waren paradoxerweise aber auch bald nach der Stunde Null wieder gefragt. Goebbels und seine Reichsfilmkammer besorgten – zynisch gesprochen – weiter den filmischen Nachschub. Der Vorrat an unverdächtigen, nicht verbotenen Reprisen war endlich, die Wiederentdeckung unterdrückter Filme aus Weimarer Zeit oder von Hollywood-Importware reichte nicht aus. In dieser Situation griffen die alliierte Militärzensur und erst recht ihre deutschen Nachfolger bei der FSK auf die als harmlos eingeschätzten Unterhaltungsfilme zurück. Den Erben zugelaufene Filme, die lange Listen füllen und die so wunderbar sprechende Titel wie „Liebe nach Noten“ oder „Dreimal Komödie“ tragen, waren spätestens Anfang der 1950er Jahre auf dem Markt. Schon die Nazi-Zensur hatte mit Filmen wie „Am Abend nach der Oper“ oder „Spuk im Schloss“ keine Probleme.
Allein die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt so viele Lichtspielhäuser abgebrannt oder obdachlos geworden waren, verhinderte ihre Uraufführung noch vor dem Mai 1945. Hier hatte sich ein regelrechter Stau gebildet an Filmen, die nur noch ins Kopierwerk mussten oder in der Postproduktion auf ihre Musik-Synchronisation warteten. Ein Film wie Wolfgang Staudtes „Der Mann, dem man den Namen stahl“ war die tragische Ausnahme. Diese Parodie auf deutsche Bürokratie zählte zu den letzten Betriebsunfällen im geschäftigen Treiben der deutschen Filmindustrie, die buchstäblich bis zur letzten Minute arbeitete. Bis ihr das Negativmaterial endgültig ausging oder – wie in Hans Steinhoffs Kriminalfilm „Shiva und die Galgenblume“ geschehen – tschechische Aufstände die weitere Arbeit in den Barrandov-Studios unmöglich machten. Da stand aber auch schon die Rote Armee vor den Toren Prags, und der NS-Propagandaregisseur war der Erste, der sich absetzte.
Nur bei Staudte sah sich die Nazi-Zensur zu massivem Einschreiten veranlasst. Der Film ging in der Wirren des Kriegsendes verloren und erlebte erst nach einem glücklichen Fund 50 Jahre später in rekonstruierter Fassung seine Premiere. Unterhalb dieser Schwelle von Verbot und Wiederentdeckung, Stillstand und Zeitverlust spielten sich im weiten Reich der Ufa aber viele kleinere Intrigen und Überlebensdramen ab, etwa das von Erich Kästner, der offiziell mit einem Schreibverbot belegt war, aber gut genug war, um den Prestige-Farbfilm „Münchhausen“ 1943 als Autor den nötigen Schliff zu geben. Natürlich unter Tarnnamen, aber mit Sondergenehmigung von Propagandaminister Joseph Goebbels.
Wenn jetzt ein Schriftsteller wie der Schweizer Charles Lewinsky ein Roman-Puzzle namens „Kastelau“ vorlegt und vom Dreh eines der letzten Ufa-Filme erzählt, dann weckt dieser Stoff vielerlei Assoziationen. Dieser im Buch beschriebene Film mit dem nichtssagenden Titel „Lied der Freiheit“ ist natürlich auch verschollen bis auf den heutigen Tag. Sein Drehbuch soll geschrieben sein von einem Autor namens Werner Wagenknecht, der wie der Kollege Kästner nicht unter Klarnamen arbeiten durfte. Es soll eine Babelsberger Atelierproduktion sein, deren Team – wie so viele andere in die unzerstörte Provinz – in diesem Fall die der bayerischen Berge um Reichenhall, geflüchtet ist. Ähnlich wie Wolfgang Liebeneiner in „Das Leben geht weiter“ versucht auch hier ein Regisseur namens Servatius das Drehbuch eines Durchhaltefilms umzuschreiben. Trotz einer Hauptdarstellerin, die als überzeugte Nazisse und Freundin von Emmy Sonnemann eingeführt wird und im Volksmund „Reichsklagefrau“ genannt wird. Kristina Söderbaums „Reichswasserfrau“ lässt grüßen. Das „Lied der Freiheit“, ein Schmachtfetzen aus ferner napoleonischer Zeit, tönt nach der Ummodelung durch ein paar szenische Eingriffe nach Versöhnung und ewigem Frieden. Dieser mit einer politischen Botschaft eingefärbte Historienfilm – bekanntestes Beispiel aus dieser Zeit des NS-Exodus ist Veit Harlans „Kolberg“ – desertiert buchstäblich von seinem ursprünglichen Stoff und vor seiner erwarteten Aufgabe. Diese Flucht ist alles andere als eine heroische Tat. Sie ist mehr von Feigheit und schnödem Pragmatismus diktiert als von Einsicht und Läuterung. Das fängt mit dem ausgebrannten Atelier in Babelsberg an, wo der Verdacht auf Brandstiftung durch das eigene Team deutlich nahegelegt wird. Und das nur, um aus Berlin wegzukommen, um die U.K.-Stellung zu behalten und die eigene Haut zu retten. Die Kette krimineller Akte endet mit einem als Unfall getarnten Mordanschlag, dessen Opfer ausgerechnet der Mann wird, der droht, das schäbige Komplott und die wahren Motive der vermeintlich Bekehrten auffliegen zu lassen.
Letztlich ist das im Roman vor allem das Werk eines Schauspielers, dessen Karriere vom Ufa-Mimen bis zum Hollywood-Star mit eigenem Stern auf dem Walk of Fame beispiellos ist und für den sich in der mittelmäßigen deutschen Filmgeschichte der Nachkriegszeit kein historisches Vorbild finden lässt. Es bleibt Lewinsky vorbehalten, den verborgenen Lebensweg des deutschen Film-Exports akribisch nachzuzeichnen und immer neue, meist abstoßende Eigenschaften zu ersinnen. Wir sind, um das Genre jetzt endlich zu benennen, im Genre eines gefakten Geschichtsromans, der mit bewundernswerter Liebe zum Detail vorgeht. Statt eine simpel lineare Story zu erzählen, bohrt sich Lewinsky Schicht um Schicht in die Historie ein, lässt in jedem Moment die Spuren seiner Quellenforschung offenkundig werden. Er betreibt ausgiebige oral history wie geduldige Aktenforschung, streut Tagebuchnotizen des tragisch verstorbenen Drehbuchautors ein, stößt auf einzelne alte Drehbuchseiten und würdigt ausgiebig die Forschungsergebnisse eines in Polizeigewahrsam verstorbenen amerikanischen Filmhistorikers. Eine Kompilationsarbeit. Der anonyme Erzähler ist gewissermaßen der Nachlassverwalter eines Filmstudenten, der in den 1980er Jahren glaubte, einen Scoop gelandet zu haben, als er den Mythos des nach Hollywood emigrierten Schauspielers entblätterte und obendrein Schnipsel eines verschollenen Films fand. Doch er musste die Erfahrung machen, dass keiner die hässliche Wahrheit über einen hoffnungslosen Opportunisten hören wollte. Das änderte sich erst, als mit dem Tod auch der Nachruhm dieses Schauspielers verging. Hollywood-Stern hin oder her. Doch für eine dramatische Enthüllungsgeschichte war es da viel zu spät.
Lewinsky, der als Drehbuchautor in der Schweiz und Deutschland viel Erfahrung mit Sendern und Produzenten gesammelt hat, stellt der Branche ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus. An einer Stelle in „Kastelau“ lässt er seinen dissertierenden Filmstudenten Samuel Saunders resigniert sagen: „Filmen heißt lügen“. In Erweiterung dessen kann man behaupten: Kein Gewerbe ist so anfällig für Lügen wie der Film. Lewinsky hat das Seine getan, diesen Verdacht zu nähren, als er eine haarsträubend realistische Filmgeschichte in einem oberbayerischen Gebirgskaff namens Kastelau erfand. Nur manchmal, da stellen sich beim Lesen der vielen Tonband-Protokolle leichte Überdruss-Gefühle ein. Immer dann, wenn Lewinsky die zentrale Zeit- und Tatzeugin in Heiserkeit und Hustenanfälle fallen lässt, wenn sie den armen Filmstudenten mit den immer gleichen Vorwürfen traktiert und provoziert. Selbst jeder Wunsch nach Zigaretten und Toilettenpapier wird akribisch aufgezeichnet. So viel Authentizität mag in einem Drehbuch angehen, in einem Roman nervt sie dann doch. Diese Redundanz lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, dass unendlich viele Schauspieler und Regisseure nach dem Krieg weitermachen konnten, als wäre nichts geschehen. Wenn nicht sie nicht Heinrich George oder Ferdinand Marian hießen, und als Beispiele für abschreckende Bestrafung herhalten mussten, dominierte eine fatale Kontinuität. Beim Personal wie in den Formen. Die Ufa mochte tot sein, doch ihr Stil lebte fort.
Lewinsky ist gewitzt genug, seine ihm zugelaufene cineastische Wiederentdeckung als Anhang C in die Liste der bei Kriegsende unfertigen oder noch nicht aufgeführten Filme einzufügen. Diese Übersichten sind ohnehin unvollständig, fehlerhaft und/oder widersprechen sich. Mit etwas Glück taucht „Lied der Freiheit“ demnächst in einer Wikipedia-Liste auf. Dann wäre die Durchmischung von Realität und Fiktion, von Wahrheit und Fantasie vollständig und das „Lied der Freiheit“ wäre endgültig geadelt.
Michael André
Charles Lewinsky: Kastelau, Roman
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