Prophet der Transparenz im Zeichen von Misstrauen, Verdacht und Überwachung
Erste deutsche Ausgabe der „Panoptikum“-Briefe des englischen Utilitaristen Jeremy Bentham. Ein Band zwischen Argwohn gegenüber einem Kontrollfreak und neuer Bewunderung für einen Sozialreformer
„Bentham gilt als Prophet der totalen Überwachung, als Urahn von ‚Big Brother’. Nichts könnte falscher sein,“ schreibt Christian Welzbacher in seinem Nachwort zur ersten deutschen Ausgabe von „Das Panoptikum oder Das Kontrollhaus“. Es ist der Ton, der aufhorchen lässt. Hier wird ganz offenbar der Versuch unternommen, einen Verfemten der europäischen Aufklärung zu einer späten Rehabilitierung zu verhelfen. Die Klappentexter von Matthes & Seitz werden gar noch deutlicher: Demnach ist Jeremy Bentham, dieser philosophierende Jurist aus Spitalsfield bei London ein Sozialreformer, Vordenker des modernen Sozialstaats, ein Befürworter des Frauenstimmrechts, ein Tierschützer sei Jeremy Bentham (1748 – 1832) gewesen. Selbst für die Legalisierung der Homosexualität sei Bentham eingetreten, weiß auch die Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Damit ist so gut wie alles an Reiz-Themen und Kontrovers-Begriffen versammelt, was die offene wie egalitäre Gesellschaft des 20. und frühen 21. Jahrhundert umtreibt. Noch Fragen? Ja. Bekanntlich war auch ein großer deutscher Diktator ein überzeugter Vegetarier, liegt damit also voll im Trend. Doch bislang ist keiner auf die Idee gekommen, Hitler deshalb für einen Gutmenschen zu halten.
Bentham als früher Ideologe von Sichtbarkeit und Lesbarkeit wiederentdeckt
Ohne Polemik gesprochen: In Zeiten, da Transparenz das Zauberwort einer digitalen Kommunikationskultur und einer politischen Protest-Bewegung geworden ist, muss es nicht erstaunen, dass Bentham als früher Ideologe von Sichtbarkeit und Lesbarkeit wiederentdeckt wird. Humanitäre Absichten hatte ihm schon die Französische Revolution attestiert und seine geheime Verwandtschaften zu Rousseau erkannt. Mit dem Unterschied, dass der nüchterne Engländer nichts von sanfter pädagogischer Anleitung hielt, wie Rousseau sie in seinem „Emile“ geschildert hat, sondern auf eine technisch ausgeklügelte Überwachung der Delinquenten, Kranken, Armen, Unmündigen, Irren setzte. Die Liebe des Jeremy Bentham zur Pariser Revolution erkaltete rasch, schlug in Abscheu um, als das Blut in Strömen floss und die Jakobiner den Terror als ultimatives Einschüchterungs- und Erziehungsmittel entdeckten. Jenseits der britischen Insel geriet der Utilitarist Bentham trotz seiner verlockenden Leitidee des „größten Glücks für die größte Zahl“ Menschen danach außer Kurs. Für seinen ökonomischen Ideen nannte in Marx später ein „Genie bürgerlicher Dummheit“ und vollends in Verruf geriet Bentham ein Jahrhundert später, als Michel Foucault ihn als seinen historischen Kronzeugen für sein legendär gewordenes Buch „Surveiller et punir“ entdeckte. Bentham sei der „Fourier einer Polizeigesellschaft“, lästerte Foucault über den französischen Frühsozialisten und seine Beziehung zu Bentham. Was dem einen sein vom Vorbild von Schloss Versailles geschulten Phalanstère war, hatte der andere in vielen Architekturzeichnungen und erläuternden Schriften als Panoptikum zu Papier gebracht. Zwei Utopien, die unter verschiedenen Vorzeichen die Einheit von wohnen, leben und arbeiten in einem großen Raum propagieren. Spätestens nach den Erfahrungen mit Auschwitz üben solche Raum-Vorstellungen mehr Schauder denn Charme aus.
Folgt nun auf die Entzauberung durch den strukturalistischen Blick Foucaults nun das nächste Rollback? Diesmal im Namen einer Bewegung, für die der Verlust der bürgerlichen Privatsphäre kein Schreckgespenst ist, sondern eher eine überfällige wie folgenrichtige Konsequenz einer umwälzenden technologischen Revolution, die die Begriffspaare wie Intimität und Öffentlichkeit, Privatheit und Allgemeinheit als obsolet und gestrig in Frage stellt ?
Nimmt man das vorliegende Buch als Maßstab, dann ist noch nichts entschieden. Denn die deutsche Editierung der 21 Denkschrift-Briefe Jeremy Benthams an anonyme Mächte und Mächtige ist von einem anhaltenden Widerspruch durchzogen. Da gibt es einen Bentham-skeptischen Übersetzer (Andreas Leopold Hofbauer) und einen Bentham-aufgeschlossenen Herausgeber (Christian Welzbacher). Ersterer wie Letzterer haben sich im Anmerkungsapparat mit ihren Notizen verewigt. Beide sind sie mit eigenen Essays vertreten, die in ihrer Stoßrichtung unterschiedlicher kaum hätten ausfallen können. Welzbacher betreibt kaum verhohlenes Foucault-Bashing, wenn er dem Strukturalisten vorwirft, die sozialreformatorischen guten Absichten Benthams außer Acht gelassen zu haben. Hofbauer setzt sich ironisch bis kritisch mit der jüngsten Bentham-Rezeption auseinander. Dabei zielt er implizit auch auf seinen eigenen Herausgeber, obwohl er explizit von Autoren in den USA spricht. Es geht um das utilitaristische Menschenbild Benthams, sein rigides Kosten-Nutzen-Denken mitsamt einer Borniertheit, die unwillig ist, den Menschen anders als eine Ware zu begreifen.Hofbauer schreibt: „Eine Mischung aus bürgerlicher Angst und Willen zur logistischen Verbesserung ist hier am Werk. Kontrolle und Ordnung sollen nutzbringende Freiheit schaffen. Freiheit ist in diesem Zusammenhang ein rein negativer Begriff, da sie nichts anderes ist als die Abwesenheit von allem, was eine handelnde Person davon abhalten könnte, gemäß es von ihr gewähltem Zwecks zu handeln.“
Hermetisches Denken und architektonische Visionen
Vom Fetischcharakter der Ware hat dieses Denken ebenso wenig eine Ahnung wie von der komplizierten Triebstruktur des Menschen. Foucault, der im vorliegenden Band auch selbst in einem Kollegen-Interview aus dem Jahr 1977 zu Wort kommt, dieser Bentham-Wiederentdecker Foucault erinnert daran, dass den „Panopticon“-Briefen ein zutiefst unwirklicher Zug eigen ist. So pedantisch-bürokratisch der Schreibstil des Juristen Bentham ist, dem jede Kleinigkeit und mögliche Abweichung eine Erwähnung wert zu sein scheint, so wenig komme ihm in den Sinn, dass sein Kontrollhaus am subversiven, anhaltenden Widerstand seiner potentiellen Insassen scheitern oder zugrunde gehen könnte. Bentham, in diesem Fall ganz Kind des mechanischen Zeitalters und eines linear verlaufenden Fortschritts, glaubt naiv, durch Isolierung der Gefangenen, durch Bestrafung und Belohnung jeden Häftling erziehen und auf diesem Weg zumindest mittelfristig eines Besseren belehren zu können. Die Wirklichkeit sah anders, weit mühevoller aus. Foucault drückt es so aus: „Man muss sich sagen, dass jede Offensive von der einen Seite für eine Gegenoffensive von der anderen Seite dient.“
Der Gedanke, dass Geschichte ein beständiger Kampf verschiedener gesellschaftlicher Kräfte ist, verträgt sich nicht mit dem hermetischen Denken und den architektonischen Visionen Benthams, der nur das bürgerliche Individuum und dessen Horizont erkennt. Bentham ist ein Beispiel für die Dialektik der Aufklärung, die nach ihrer Meinung nur das Beste will, aber darüber selbst totalitäre Züge annimmt. In seinem XVI. Brief liefert Bentham dafür ein anschauliches Denk-Beispiel: „Im Gefängnis, wenn es nach den Vorstellungen eines Kontrollhauses errichtet wird, müssen die Insassen in ihren Zellen – und nirgends anders – schlafen, essen, arbeiten, beten und auch alles sonst tun.“ Jeder Tag unter diesen Bedingungen ist ein Foltertag, der selbst einen Gulag als vergleichsweise humanen Aufenthaltsort erscheinen lässt. Bei Bentham stirbt kein Insasse an Schlägen, Hunger oder Erschöpfung, aber er verendet an seelischer Verkümmerung. Er geht zugrunde an unsichtbarer Kontrolle und dauerhafter Vereinzelung.
Die habeas corpus-Akte, also das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wie es im englischen Rechtssystem frühzeitig tief verankert war, wirkt bei Bentham nach. Es führt zu einer Körperphobie, zu einem noli me tangere, wie es auch die Erbauer der französischen Militärakademie in Paris vor Augen gehabt haben mögen, als sie Mitte des 18. Jahrhunderts die Schlafräume für die künftigen Offiziere konzipierten. Jeder Schafraum, so erzählt Foucault im beigefügten Interview, sollte aus einer verglasten Zelle bestehen: „Es gab außerdem einen sehr komplizierten Mechanismus, allein zu dem Zweck dass der Friseur jeden Internatsschüler kämmen konnte, ohne ihn physisch zu berühren.“
Benthams Denken bewegt sich zwischen den Empfindungspolen von Schmerz und Lust. „Sie beherrschen uns in allem, was wir tun, was wir sagen, was wir denken. Jegliche Anstrengung, die wir auf uns nehmen können, um unser Joch von uns schütteln, wird lediglich dazu dienen, es zu beweisen und zu bestätigen.“ Wenn schon eine Loslösung unmöglich ist, dann sind Menschen doch gut beraten, das Maß der Schmerzen auf ein Minimum zu beschränken. Was sogar für die Insassen des Kontrollhauses gelten soll. Die werden zur Strafe mitnichten in ein mittelalterliches Verlies verbracht, dafür aber soll ihre Zelle künstlich verdunkelt werden. Ein kleiner Aufwand, der eine umso höhere Wirkung erzielen soll. Von seinem Zeitgenossen, dem Marquis de Sade, dessen Phantasien ebenfalls um Schlösser und Anstalten, um Täter und ihre Opfer, um Qual und Lust kreisen, trennt Bentham mehr als nur der Kanal zwischen England und Frankreich. Und völlig verständnislos hätte der wohlsituierte Esquire Bentham später dem kakanischen Baron von Sacher-Masoch gegenübergestanden, der in bezeichnender Verschiebung hin zur Opferperspektive eine wieder andere Maxime für Sexualität aufgestellt hatte, dass nämlich erst das Erleben von Schmerz Voraussetzung für Lusterfahrung sei.
Das Kontrollhaus ist in seiner reinen, unverfälschten Form niemals gebaut worden, sehr zum Leidwesen seines Erfinders, der sich mutmaßlich selbst gern um eine Lizenz als Gefängnisbetreiber und damit oberster Kontrolleur beworben hätte. Was die Frage aufwirft, wer den Vertreter der Macht und seine subalternen Mitarbeiter im Alltag überwacht hätte. Bentham bleibt an diesem Punkt einigermaßen vage: Er setzt auf ständige Selbstkontrolle, aber auch auf die Kontrolle durch die Besucher des Kontrollhaus, i.e. die interessierte Öffentlichkeit. Foucault interpretiert das so: „Man hat es mit einem Apparat totalen und zirkulierenden Misstrauens zu tun, weil es keinen absoluten Punkt gibt. Die Perfektion der Überwachung ist eine Summe von Böswilligkeiten.“ Ich würde in Zeiten der Transparenz noch einen Schritt weiter gehen, und Verdacht und Misstrauen als Wesensmerkmale dieser Gesellschaft bezeichnen. Und Bentham ist ihr Prophet, wenn auch ihr unfreiwilliger. Was er den Gruppen ausgeschlossener und rechtloser Menschen als Los zugedacht hat, droht sich nun in alltäglicher Form an allen Mitgliedern der Gesellschaft zu vollziehen. Jeder läuft Gefahr, zum Opfer von öffentlicher Denunziation und Bloßstellung zu werden.
Anders als der deutsche Herausgeber der Panoptikum-Briefe es vielleicht gehofft hat, ist ihm mit der Veröffentlichung der bislang im Detail unbekannten Texte kein Freispruch für den Autor geglückt. Dazu ist die Lektüre zu ernüchternd. Die thematische Besessenheit und die stilistische Pedanterie des Autors tun ein Übriges. Aber der Blick auf Bentham veranschaulicht eindrucksvoll die Idiosynkrasien des frühen bürgerlichen Denkens. Durch die pluralistische Auswahl der Autoren und der Sekundärliteratur beleuchtet der Band den Denker Bentham aus verschiedenen Blickwinkeln. Von der Zaubermacht eines übermächtigen zentralen Blicks kann hier zum Glück keine Rede sein.
Michael André
Bild oben: Plan of the Panopticon; he works of Jeremy Bentham vol. IV, 172-3
Bild: Porträt (Ausschnitt) Jeremy Bentham by Henry William Pickersgill oil on canvas, exhibited 1829 NPG 413; © National Portrait Gallery, London
Jeremy Bentham: Das Panoptikum oder Das Kontrollhaus
Aus dem Englischen von Andreas Leopold Hofbauer
Hrsg. Christian Welzbacher. Berlin 2013
Matthes & Seitz, Reihe Batterien
221 Seiten, 26,90 €
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VERLAGSINFORMATION zum Buch
- Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert - 4. November 2019
- Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte - 19. September 2019
- Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert - 1. August 2019
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