Das Werk Franz Kafkas hat zu einer Neuausprägung unseres Erlebens geführt. Als ´kafkaesk´ werden Situationen bezeichnet, die ein Gefühl des Orientierungsverlustes und der Absurdität des Geschehens vermitteln. Dass seine Erzählungen und Romane dieses Gefühl idealtypisch erzeugen, beruht wesentlich auf Kafkas Erzählweise; und diese soll hier anhand der für seine schriftstellerische Entwicklung wohl wichtigsten Werke „Das Urteil“, „Die Verwandlung“, „In der Strafkolonie“ und „Der Prozess“ herausgearbeitet werden.

Thomas Scheffer

 

Gliederung

Material und Methode

  1. Das Urteil“

          a. Die erzählte Geschichte

          b. Das zu vermutende Geschehen

          c. Erzählweise und Bedeutung

          d. Stoff und Motivation

    2. „Die Verwandlung“

         a. Biographischer Anlass und Motiv

         b. Gregors Krankheit

         c. Erfahrungen aus der Arbeitswelt

         d. Gregors Einsamkeit

         e. Familiäre Spannungen

    3. „In der Strafkolonie“

        a. Das Strafverfahren alter Tradition

        b. Die Sucht nach Sühne

        c. Der Teufelskreis der Rache

        d. Die Sinnlosigkeit der Sühnestrafe

        e. Zur Bedeutung der Parabel

    4. „Der Prozess“

        a. K. und sein Es

        b. K. und das Über-Ich

        c. Der Prokurist und der Taugenichts

        d. Innere und äußere Prozesse

Literaturverzeichnis

 

 

Material und Methode

Am 3. Juni 1924 ist Franz Kafka im Privatsanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg bei Wien an Kehlkopftuberkulose gestorben. Er hat kein umfassendes Testament hinterlassen, sich von seinem gleichaltrigen Prager Freund Max Brod aber ein Versprechen für den Umgang mit seinen schriftstellerischen Arbeiten geben lassen: „Liebster Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlass … an Tagebüchern, Manuskripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem usw. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen“ (zit. nach Brod, 224). Bei näherer Suche in Kafkas Wohnung fand Brod noch ein vergilbtes, offenbar älteres Blatt mit der genaueren Bestimmung: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. … Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt, … ausnahmslos zu verbrennen“. (zit. nach Brod, 224f.)

Brod hat diese Anweisung nicht befolgt, und zwar, wie er ausführlich erklärt, weil er Kafka die gleichlautende mündliche Bitte schon zu Lebzeiten ausdrücklich abgeschlagen hatte: „Von dem Ernst meiner Ablehnung überzeugt“, erklärt Brod als Herausgeber von Kafkas Werken, „hätte Franz einen anderen Testamentsexekutor bestimmen müssen, wenn ihm seine eigene Verfügung unbedingter und letzter Ernst gewesen wäre.“ (Brod, 225)

Von den aufgezählten Werken ist „Das Urteil“ das früheste und am besten geeignet, einen Einstieg in Kafkas Erzählweise zu geben. Kafka hat diese ca. 14 Druckseiten lange Erzählung in einer einzigen Nacht, nämlich vom 22. Auf den 23. September 1912 geschrieben, und sie wurde 1913 veröffentlicht. „Die Verwandlung“ ist wohl seine mit Abstand bekannteste Erzählung; und aufgrund der Erklärung Kafkas können wir sicher sein, einen Text vor uns zu haben, der vom Autor selbst, wie er es zu tun pflegte, vor dem Druck akribisch Korrektur gelesen worden ist. Die scheinbaren Widersprüche und zweideutigen Ausdrücke sind also nicht auf das Eingreifen späterer Herausgeber zurückzuführen, sondern liegen in der Verantwortung von Kafka selbst. Klar in Berichtform erzählt, aber inhaltlich schwer zu ertragen ist hingegen, was in der Parabel „In der Strafkolonie“ über den uns anscheinend ganz fremden Rechtsvollzug in einem fernen Erdteil erzählt wird. An dem Roman „Der Prozess“ hat Kafka zwar lange gearbeitet, ihn aber nicht mehr vollendet. Immerhin haben sich die Bestandteile im Nachlass Kafkas gefunden und hat er diesen Text nicht, wie offenbar vieles andere, schon zu Lebzeiten selbst verbrannt. Kafkas Freund Max Brod hat die letzten Kapitel zusammengestellt, entstehende Doppelungen herausgekürzt und den Text veröffentlicht. Der Roman zählt zur Weltliteratur und stellt in erzählerischer Hinsicht eine Herausforderung dar.

Die vier Werke werden in der historischen Reihenfolge ihrer Entstehung zunächst in ihrem erzählten Geschehen vorgestellt, dann wird auf Basis der Texte eine Interpretationshypothese entwickelt. Anschließend wird auf die Biographie Kafkas Bezug genommen, um diese Hypothese auszudifferenzieren und zu stützen. Als maßgeblich für die Haltbarkeit der Hypothese wird nach rezeptionsästhetischen Prinzipien letztlich der Text in seiner sprachlichen Bedeutung angesehen. Der mit dem Werk konfrontierte Leser muss vom historischen Autor nichts wissen – oder kann sich in ihm erheblich täuschen. Der Erzähler mit seinen Einstellungen und Wertungen ist ein Produkt des Autors. Verzichtet man auf eine Erforschung des historischen Autors, kann man den zwingend anzunehmenden Schöpfer als impliziten Autor bezeichnen. Im Falle Franz Kafkas verfügen wir aber anhand insbesondere seiner Tagebücher und Briefe über umfangreiches Material, das die biographische Stützung sinnvoll macht.

  1. Das Urteil“

In „Das Urteil“ erzählt ein nicht am Geschehen beteiligter allwissender Erzähler, der Einblick in die Gedanken der Figuren hat (ein sog. ´auktorialer´ Erzähler), von der zu seinem Tode führenden Auseinandersetzung des jungen Kaufmannes Georg Bendemann mit seinem Vater.

      a. Die erzählte Geschichte

Georg hat an einem Sonntagvormittag einen Brief an einen Jugendfreund geschrieben, der vor Jahren nach Russland ausgewandert ist, um dort Geschäfte zu machen. Diese sind aber mittlerweile fast zum Erliegen gekommen. Georgs eigene Geschäfte hingegen sind in den letzten beiden Jahren, seit er sie nach dem Tod seiner Mutter „mit größerer Entschlossenheit angepackt“ hat (9), rasant aufgeblüht. Um den Freund nicht zu beschämen, hat Georg ihm nichts davon geschrieben und sich darauf beschränkt, ihm wiederholt von der Verlobung eines ihnen beiden entfernt bekannten Paares zu berichten, obwohl er selbst sich vor zwei Monaten mit der Tochter einer wohlhabenden Familie, Frieda Brandenfeld, verlobt hat. Zunächst hat Georg sich seiner Verlobten gegenüber geweigert, seinem Freund ihre eigene Verlobung anzuzeigen, jetzt erwähnt er sie aber kurz am Schluss des eben abgeschlossenen Briefes. Der Adressat könne sich freuen, an seiner Frau auch seinerseits „eine aufrichtige Freundin“ zu gewinnen, die ihm sicher nächstens auch selbst schreiben werde (11). Georg lädt den Freund zu ihrer Hochzeit ein, erklärt aber, dass er Verständnis dafür hätte, wenn dieser nicht kommen könne.

Nachdem er noch eine ganze Weile seinen Gedanken an den Freund und Frieda nachgehangen hat, fasst Georg sich ein Herz und geht mit dem Brief zu seinem Vater, dem er sonst nur im Geschäft begegnet, in dessen eigenes Zimmer, um ihm mitzuteilen, dass er seine Verlobung „nun doch nach St. Petersburg angezeigt“ habe (12). Der Vater scheint sich zwar zu erinnern, fragt aber mit betontem Ernst nach: „Georg, … täusche mich nicht. Hast Du wirklich diesen Freund in Petersburg?“ (13) Georg führt diese Frage auf die Erschöpfung des Vaters durch die Arbeit zurück und fordert ihn auf, sich zu schonen und zu Bett zu gehen. Doch der Vater bestreitet jetzt ausdrücklich, dass es diesen Freud gibt. Daraufhin erinnert Georg ihn, dass er sich doch bei einem Besuch dieses Freundes mit ihm unterhalten habe, als „er gerade bei mir im Zimmer saß“ (14). Währenddessen entkleidet Georg seinen jetzt ganz hilflos erscheinenden Vater, macht sich Vorwürfe, ihn vernachlässigt zu haben, trägt ihn zu Bett und erklärt ihm, gut zugedeckt zu sein und sich jetzt beruhigen zu können. Doch kaum hat Georg ausgesprochen, ruft der Vater laut „Nein“, wirft die Bettdecke mit solchem Schwung von sich, dass sie sich im Fluge ganz entfaltet und baut sich im Bett stehend vor Georg auf. Er wisse längst, dass sein Sohn ihn loswerden wolle. Ja, er kenne diesen Freund, und der wäre ein Sohn nach seinem Geschmack. Aber genau deshalb habe Georg diesen Freund ja auch im fernen Russland leben lassen und sei ihn damit losgeworden. Und nun, da er sich entschlossen habe zu heiraten, wolle er auch noch ihn loswerden. „´Weil sie die Röcke gehoben hat, …, weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans´, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, dass man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, ´weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unser Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann.“ (16f.) Aber er, der Vater, sei der Vertreter des Freundes „hier am Ort“ (17). Wenn Georg stolz auf den Abschluss von Geschäften sein könne, dann nur auf solche, die er, der Vater, vorbereitet habe. Seine Braut werde der Vater ihm „von der Seite weg“ fegen, „du weiß nicht wie!“ (18). Dem Freund brauche Georg gar nicht erst von der Verlobung zu schreiben, denn er wisse alles über Georg, sogar tausendmal besser als dieser selbst.

Georgs Versuch, diese Übertreibung des Vaters durch Nachäffen lächerlich zu machen, misslingt, und das Wort bekommt in seine Mund „einen todernsten Klang“ (18). Als sein Vater Georg erklärt, diese Auseinandersetzung schon seit Jahren erwartet zu haben, wirft Georg ihm vor, ihm also aufgelauert zu haben. Daraufhin verschärft der Vater seine Vorwürfe: Georg sei kein „unschuldiges Kind“, sondern „ein teuflischer Mensch“, und darum verurteile er ihn „jetzt zum Tode des Ertrinkens“. (19) Georg ist von der Berechtigung dieses Urteils so überzeugt, dass er sich „zum Wasser“, zum Fluss, hingezogen fühlt und sich mit dem leisen Ruf „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“ (19f.) in dem Moment von einer Brücke fallen lässt, als „ein geradezu unendlicher Verkehr“ über sie geht (20).

       b. Das zu vermutende Geschehen

Georgs Suizid scheint darauf hinzuweisen, dass die Behauptung seines Vaters, er habe gar keinen Freund in Petersburg, zutrifft. Der Freund, von dem der Vater erklärt, dass er ein Sohn nach seinem Geschmack wäre, ist offenbar ein altes Wunschbild Georgs, ein rühriger Unternehmer. Georg war zwar im Begriff, sich von seinem Ideal zu lösen – die Geschäfte seines imaginierten Freundes gingen nicht mehr gut, und Georg möchte ihm seine Verlobung zunächst nicht anzeigen -, aber um dem Vater, der sich einen solchen Sohn wünscht, zu gefallen, schreibt er ihm dann doch von Frieda. Und er möchte den Vater von diesem Schreiben in Kenntnis setzen. Die Beschreibung der Auseinandersetzung mit dem Vater ist aber so phantastisch und widerspruchsvoll, dass diese nicht als Teil des erzählten äußeren Geschehens verstanden werden kann: Georg schreibt den Brief an einem sonnigen Sonntagvormittag. Im Zimmer des Vaters ist es aber nichtsdestotrotz dunkel, und der Vater ist – nach dem Frühstück – zum Schlafengehen angekleidet. Als Georg das Zimmer nach der vielleicht halbstündigen Auseinandersetzung verlässt, „überrumpelt“ er auf der Treppe „seine“ – eigene – „Bedienerin, die im Begriff war, hinaufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen“ (19). Es ist also Montagmorgen. Georg scheint die ganze Auseinandersetzung, die Vorhaltungen des Vaters, dessen Bettung, seine phantastische Auferstehung und die Verurteilung zum Ertrinken, geträumt zu haben. Und tatsächlich werden in der Geschichte Anzeichen dafür gesetzt: Als Georg den Brief vollendet hat, sitzt er noch „lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch“, und er erwidert den Gruß eines vorübergehenden Bekannten „kaum mit einem abwesenden Lächeln“ (11).

Georg möchte dem Vater zwar gefallen, weiß aber, dass er erfolgreich nur dank der Vorarbeiten des Vaters ist und daher nicht dessen Anerkennung genießt. Die offenbar schon in der Vergangenheit mehrfach abgegebenen Berichte über den Freund, d.h. die Beteuerungen seines Sohnes, sich ändern und mehr um die Geschäfte kümmern zu wollen, werden vom Vater in Zweifel gezogen. Der Gipfel der Vernachlässigung der Geschäfte ist – nach Überzeugung Georgs – für den Vater jetzt damit erreicht, dass Georg sich verloben will. Er vermutet, dass sein Vater ihm Dummheit unterstellt, nämlich auf Frieda hereingefallen zu sein, weil sie „die Röcke so und so und so gehoben hat“, und dass er das Motiv darin sieht, sich „ohne Störung an ihr befriedigen“ zu wollen (17). Schockiert gibt Georg seinen Versuch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auf. Nicht nur im Traum, sondern mit der Bediensteten als Zeugin rennt er aus dem Haus und springt von der Brücke, währen das Großstadtleben darüber hinfährt, ohne dass man ihn beachtet.

       c. Erzählweise und Bedeutung

Das Urteil“ wird als novellenartige außergewöhnliche „Geschichte“, wie es im Untertitel heißt, mit einer allmählichen Zuspitzung und einem dramatischen Ende von einem auktorialen Erzähler vorgetragen – und vielleicht sogar spontan erfunden (´auctor´ ist der Urheber) -, der zunächst, fast wie bei einem Märchen, mit „Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr“ aus der Außenperspektive zu berichten beginnt. Die Unbestimmtheit der Zeitangabe lässt uns das Präteritum automatisch als episches Präteritum, d.h. als Form der Erzählung eines fiktionalen Geschehens verstehen. Zu Beginn des zweiten Absatzes wendet der Erzähler sich den Gedanken Georgs zu: „Er dachte darüber nach“, und fährt dann im zweiten Satz mit einer Spiegelung dieser Gedanken, der Erinnerungen an den Freund, fort: „Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg …“. Dass damit die Gedanken Georgs wiedergegeben werden und nicht das – fiktional – wirkliche Befinden des Freundes beschrieben wird, wissen wir sicher erst, nachdem wir die ganze Geschichte gehört und erfahren haben, dass es den Freund gar nicht gibt. Am Anfang klingt die Wiedergabe fast noch wie eine Beschreibung. Deutlich wird die Gedankenspiegelung – die Form der ´erlebten Rede´- erst zu Beginn des dritten Absatzes an der Formulierung „Was sollte man einem solchen Manne schreiben…“. Das fragt sich Georg, und er entscheidet sich zunächst für Banalitäten. Das Tempus ist dasselbe wie im auktorialen Erzählerbericht, das Präteritum, und von Georg wird auch weiterhin in der dritten Person gesprochen, doch der Inhalt entspricht nicht direkt der fiktiven Wirklichkeit, sondern wird von Georg imaginiert. Der auktoriale Erzähler delegiert das Erzählen teilweise an die Hauptfigur, zieht aber im Hintergrund die Fäden der Marionette Georg, indem er die entscheidenden Episoden auswählt und verbindet.

Immer wieder verwischt er den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Imagination, indem er stellenweise zur Außenperspektive zurückkehrt: „Im Lauf dieser drei Jahre hatte sich aber gerade für Georg einiges verändert.“ (9), „So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben …“ (9), „Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als dass er zugestanden hätte, dass er selbst vor einem Monat … sich verlobt hatte.“ (10) Diese zuverlässigen Berichte verleiten den Leser dazu, auch das mit den Gedanken Georgs Dargestellte für bare Münze zu nehmen. Diese Täuschung findet ihren Höhepunkt mit dem Übergang von dem Erzählerbericht „Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange … an seinem Schreibtisch gesessen.“ zu der Darstellung „Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging … in das Zimmer seines Vaters.“ (11). Das tut er nicht, sondern er erträumt es sich nur, denn sein Vater trägt nach dem Frühstück wahrscheinlich keinen Schlafrock über schmutziger Unterwäsche und Trikothose, der Vater spielt nicht in den Armen seines Sohnes kindisch oder dement mit dessen Uhrenkette, und er lässt sich nicht ins Bett tragen, um im nächsten Moment wie ein Racheengel aufzufliegen und den Sohn im Bett stehend zu verurteilen. „Das Urteil“ ist eine Geschichte von einem ganz seinem autoritären Vater unterworfenen Sohn, der mit dem Versuch scheitert, einen Schritt in die Selbstständigkeit zu tun und eine Partnerschaft mit einer Frau einzugehen.

       d. Stoff und Motivation

Es ist allgemeine Meinung der Sekundärliteratur, dass Kafka in dieser Erzählung nicht nur eigene Erfahrung verarbeitet, sondern auf seine aktuelle Lebenssituation Bezug genommen hat. (vgl. Stach II, 206) Am Abend des 13. August 1912 hatte er bei einer Einladung bei seinem Freund Max Brod die – unangekündigt und mit Bedacht dazu geladene – 24-jährige Felice Bauer aus Berlin kennen gelernt. Kafka war die Gegenwart dieser Unbekannten unangenehm, denn er sollte an diesem Abend Max Brod seine Manuskripte zu der Sammlung „Betrachtung“ übergeben; und literarisch gebildet oder sonderlich hübsch war Fräulein Bauer nicht (vgl. Stach II, 308). Aber im Verlauf der Konversation entwickelte er zunehmend Sympathie für sie, denn die Aufforderung, beim Abendessen doch beherzt zuzugreifen, wies sie mit der Bemerkung zurück, dass ihr Leute, die fortwährend essen müssten, zuwider seien (Stach II, 97). Das war dem konsequenten Veganer Kafka sympathisch. Felice repräsentierte überhaupt den neuen Frauentyp der selbstständigen und selbstbewussten Angestellten. Obwohl sie – wie die meisten Frauen ihrer Zeit – noch keinen Gymnasialabschluss hatte, war Sie als Stenotypistin bei der Carl-Lindström A.G. in Berlin, die Grammophone und Diktiergeräte herstellte, rasch aufgestiegen (Stach II, 97). Ihre Sachlichkeit und sichere Balance zwischen Höflichkeit und geradlinigem Urteil beeindruckten Kafka (Stach II, 112); und er fand es interessant, dass sie erklärte, mit Vergnügen Manuskripte abzutippen (Stach II, 97). Schon als Kafka Felice an diesem Abend zu ihrem Hotel geleitete, fassten beide die Idee, einmal gemeinsam nach Palästina zu reisen (Stach II, 101); und am 20. September schrieb Kafka ihr einen Brief, in dem er sich ausführlich vorstellte und um ihre Freundschaft bewarb (Stach II, 106). Nur zwei Tage später, in der Nacht vom 22. Auf den 23. September 1912, verfasste Kafka in einem tranceartigen Schreibfluss bis morgens um 6 Uhr „Das Urteil“. Die Figur Frieda Brandenfeld hat dieselben Initialen wie Felice Bauer, ihr widmet er die Erzählung (Stach II, 203), und er hat die Verbindung mit Felice als Loslösung aus der elterlichen Familie verstanden. Nach den üblichen gegenseitigen Erkundigungen nach den Vermögensverhältnissen der Familien – und vielem Zweifeln und Zögern auf Seiten Franz Kafkas wegen seiner Lebensweise als Schriftsteller – verlobten sich die beiden schließlich offiziell am 1. Juni 1914.

Auch die Ablehnung der Verlobung durch den Vater in der Erzählung hat eine – allerdings eingeschränkte – Entsprechung zu den realen Verhältnissen. Hermann Kafka lehnte die Verlobung mit Felice zwar nicht direkt ab, erhob aber Bedenken wegen der nur mäßigen Vermögensverhältnisse der Bauers. Felices Vater Carl Bauer war angestellter Versicherungsvertreter und verdiente schätzungsweise 2000 Reichsmark im Jahr. Ein mittlerer Beamter in vergleichbarer Position hätte in Berlin aber eine Mitgift von bis zu 30.000 Mark erwarten dürfen. (vgl. Stach II, 351) Und die Familie Kafka brauchte Geld, denn die Asbestfabrik, in die man Gewinne aus dem gut eingeführten Geschäft für Galanteriewaren investiert hatte, musste dringend modernisiert werden. Franz Kafka war als Miteigentümer eingetragen, und der Vater forderte ihn auf – und wurde darin von der ganzen Familie unterstützt -, sich jetzt um die Firma zu kümmern. (vgl. Stach II, 357, 158) Es ging Franz also ähnlich wie Georg: Die Verlobung konnte als Hindernis eines größeren geschäftlichen Engagements erscheinen.

Auch das in der Erzählung dargestellte psychologische Unterordnungsverhältnis des Sohnes unter den Vater bestand bei den Kafkas ansatzweise. Vater Herrmann war ein Selfmademan. Er war aus der böhmischen Provinz nach Prag gezogen und hatte in der dortigen deutschsprachigen Gemeinde – mit der Mitgift seiner Frau – ein gut laufendes Geschäft für Wäsche und Ausstattung aufgebaut. Er war von kräftiger Statur, resolut und stolz darauf, die Welt der ostjüdischen Städtl hinter sich gelassen zu haben. Franz Kafka hingegen besaß in verstärktem Maße die Charakterzüge seiner Mutter, einer sensiblen und musisch begabten Frau.

Hinzu kommt, dass auch Franz Kafka selbst Bedenken und Vorbehalte hatte, sich partnerschaftlich zu binden. Mit 29 Jahren wollte – und sollte – er zwar daran denken, sich bürgerlich zu situieren, aber seine Leidenschaft zur Schriftstellerei und die damit verbundene Lebensweise standen dem seines Erachtens entgegen. Er pflegte nach der Arbeit einen ausgedehnten Mittagsschlaf von 15.30 bis 19.30 zu halten, um nach dem Abendessen von 22.30 an bis tief in die Nacht, manchmal in die Morgenstunden zu schreiben. Um seine Phantasie entfalten und sich konzentrieren zu können, brauchte er Ruhe, die er tagsüber nicht fand. Und ohne zu schreiben und so seine Erfahrungen zu verarbeiten, meinte er, nicht leben zu können. Er hat mehrfach formuliert, er produziere nicht nur Literatur, sondern seine Person, er selbst sei seinem ganzen Selbstverständnis nach diese Literatur. (vgl. Stach II, 157) Seine Briefe an Felice nach Berlin schwanken fast zwei Jahre lang zwischen schwärmerischen Zärtlichkeiten und Warnungen, dass er für eine Partnerschaft ungeeignet sei. Felice schätzte die Schriftstellerei zwar hoch; dass sie aber den gewohnten Lebensrhythmus Kafkas teilen würde, war nicht zu erwarten. Auch der Überzeugung Franz Kafkas nach verlangten die Konventionen, dass Lebenspartner Eheleute waren, die eine gemeinsame Wohnung hatten und von denen der Mann dem Broterwerb nachging; und damit hätte er seine Persönlichkeit verloren.

Aber inwieweit konnte Felice diese Vorbehalte verstehen? Mit den unternehmerischen Forderungen der Familie, insbesondere seines Vaters, konnte Franz ihr sein Zögern verständlich machen. Man könnte also vermuten, dass Kafka mit der Erzählung „Das Urteil“ seinem Vater die Verantwortung für seine Zögerlichkeiten Felice gegenüber in die Schuhe schiebt, um sich ihr mitleidsvolles Verständnis zu ergaunern. Eine absichtsvolle Gestaltung oder Bedeutung der Erzählung hat Kafka allerdings immer wieder bestritten. (vgl. Stach II, 208) Die vermutete biographische Erklärung für das Zustandekommen von „Das Urteil“ geht über deren immanente Aussage hinaus, schließt sie aber ein: Ein junger Mann scheitert mit dem Versuch – oder droht damit zu scheitern -, sich durch eine Verlobung vom Vater unabhängig zu machen.

 

  1. Die Verwandlung“

In der Sekundärliteratur wird allgemein festgestellt, dass Kafka mit „Das Urteil“ der Durchbruch zu seinem Stil gelungen ist. Und das hat er offenbar auch selbst so empfunden. Unmittelbar nach der Niederschrift hat er den Text am frühen Morgen des 23. September seiner Schwester Ottla vorgelesen, und schon am 24. hat er ihn mit großer Lebhaftigkeit einer kleinen Gesellschaft von Freunden und Bekannten vorgetragen. (Stach II, 115f.) „Mit einem Schlag“, schreibt der Kafka-Biograph Reiner Stach, „war der Kafka-Kosmos präsent“, mit dem gesamten „´kafkaesken´ Inventar“: die „übermächtige und zugleich ´schmutzige´ Vaterinstanz, die ausgehölte Rationalität der Perspektivfigur, die Überlagerung des Alltags durch juridische Strukturen, die Traumlogik der Handlung“ und die Schicksalshaftigkeit des Geschehens (Stach II, 117).

       a. Biographischer Anlass und Motiv

Dieses Inventar findet sich auch in „Die Verwandlung“, und auch hier sind eigene familiäre Erfahrungen verarbeitet, wenngleich die Geschichte keine Entsprechung in einem bestimmten Ereignis in Kafkas Leben hat. Es war eine spontane Idee, die ihn zu der Geschichte inspirierte. Am Morgen des 17. November 1912, einem Donnerstag, lag Kafka lust- und antriebslos im Bett. Mit seiner Arbeit am Amerika-Roman kam er nicht weiter, Felice hatte auf seinen letzten Brief, in dem er ihr das ´Du´ angeboten hatte, noch nicht geantwortet, und auch sein Freund Max Brod hatte sich nicht gemeldet. Zwei Zimmer weiter frühstückte die Familie ohne ihn. Er fühlte sich wie eine von ihm selbst vor Jahren ersonnene Figur, die sich den an sie gestellten Anforderungen (hier einer Hochzeit) dadurch zu entziehen erträumte, dass sie einfach im Bett blieb: „Ich habe, wie ich im Bett liege die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers glaube ich. … Ich stelle es dann so an, als handele es sich um einen Winterschlaf und ich presse meine Beinchen an meinen gebauchten Leib.“ (aus ´Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande´, zit. nach Stach II, 213)

        b. Gregors Krankheit

Eine schützende Käferphantasie liegt in „Die Verwandlung“ nicht vor, sondern eine erschreckende Feststellung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. … ´Was ist mit mir geschehen?´ dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Kollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender -, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.“ (21)

Er träumt nicht und dennoch sieht Gregor sich in ein Ungeziefer verwandelt: „Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte.“ (21) Gregor ist offensichtlich bei Bewusstsein, nimmt aber die Gestalt eines Insekts an sich wahr. Der allwissende Erzähler berichtet, dass Gregor „dachte“: „´Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße´“. (21) Alle Versuche, sich dafür auf die rechte Körperseite zu wenden, misslingen aber, und er empfindet sogar einen leichten Schmerz an der Seite. Gregor führt das auf die Anstrengungen in seinem Beruf zurück. Der Erzähler stellt diesen Gedanken mit der Wiedergabe eines inneren Monologs Gregors dar: „´Ach Gott´, dachte er, ´was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise …, die Sorge um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen! … Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt … Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld zusammen, um die Schuld der Eltern … abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig muss ich allerdings aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.´“ (22f.)

Der allwissende Erzähler berichtet, dass Gregor zum Wecker schaut, und dann „dachte“: „´Himmlischer Vater!´“ (23) Im Folgenden aber werden die Gedanken Gregors wiedergegeben, und zwar mit der schon aus „Das Urteil“ bekannten Spiegelung in der dritten Person und im Präteritum. Zu erkennen ist dies an der den Gedankengang darstellenden Aneinanderreihung der Sätze und den Fragen: „Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben? Man sah vom Bett aus, dass er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiss hatte er auch geläutet. … Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun?´“ (23) Die einleitende Wahrscheinlichkeitseinschätzung in dem Satz: „Gewiss würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen“, macht deutlich, dass dies Gregors Befürchtung ist. Er selbst also nimmt von seinem Chef an, er „würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen, und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt“ (23).

Auch seiner Familie ist mittlerweile aufgefallen, dass Gregor verschlafen hat. Um viertel vor sieben fragt ihn die Mutter durch die geschlossene Tür, ob er nicht habe wegfahren wollen. Der Vater klopft „schwach, aber mit der Faust“ und „mahnt … mit tiefer Stimme: Gregor! Gregor!“; und die Schwester bittet ihn flüsternd: „´Gregor, wach auf, ich beschwöre dich.´ Gregor aber“, so berichtet der Erzähler, „dachte gar nicht daran, aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren.“ (24) Er hat zwar durchaus die Absicht aufzustehen, seine Käfergestalt hindert ihn aber daran. Um sieben Uhr sagt er sich, dass er bis viertel nach unbedingt das Bett verlassen haben müsse, denn „bis dahin“ werde „jemand aus dem Geschäft kommen, um nach mir zu fragen, denn das Geschäft wird vor sieben geöffnet“. (26) Schon 10 Minuten nach sieben aber läutet es an der Wohnungstür. „´Das ist jemand aus dem Geschäft´, sagte er sich und erstarrte fast … Gregor brauchte nur das erste Grußwort des Besuchers zu hören und wusste schon, wer es war – der Prokurist selbst. Warum war nur Gregor dazu verurteilt, bei einer Firma zu dienen, wo man bei der kleinsten Versäumnis gleich den größten Verdacht fasste? Waren denn alle Angestellten samt und sonders Lumpen, gab es denn unter ihnen keinen treuen, ergebenen Menschen, der, wenn er auch ein paar Morgenstunden für das Geschäft nicht ausgenutzt hatte, vor Gewissensbissen närrisch wurde und geradezu nicht imstande war, das Bett zu verlassen?“ (27f.) In seiner Erregung schwingt sich Gregor so heftig aus dem Bett, dass er auf den Rücken fällt. „´Da drin ist etwas gefallen´, sagte der Prokurist, … machte im Nebenzimmer ein paar bestimmte Schritte und ließ seine Lackstiefel knarren. Aus dem Nebenzimmer rechts flüsterte die Schwester, um Gregor zu verständigen: ´Gregor, der Prokurist ist da.´ ´Ich weiß´, sagte Gregor vor sich hin; aber so laut, dass es die Schwester hätte hören können, wagte er die Stimme nicht zu erheben. ´Gregor´, sagte nun der Vater aus dem Nebenzimmer links, ´der Herr Prokurist ist gekommen und erkundigt sich, warum du nicht mit dem Frühzug weggefahren bist. Wir wissen nicht, was wir ihm sagen sollen. Übrigens will er auch mit dir persönlich sprechen. Also bitte mach die Tür auf. Er wird die Unordnung im Zimmer zu entschuldigen schon die Güte haben.“ (28f.)

Jetzt wird die Lage nicht nur für Gregor, sondern auch für die Leser heikel. Denn sollten seine Eltern und mit dem Prokuristen sogar ein außenstehender Zeuge Gregors angesichtig werden und ihn als ungeheures Ungeziefer wahrnehmen, so würde er seinen Beruf nicht mehr ausüben können, und wir Leser könnten uns die Verwandlung Gregors und ihre Bedeutung nicht erklären. Und so scheint es tatsächlich zu kommen, denn nach einigem Drängen der Eltern und sogar Drohungen von Seiten des Prokuristen, Gregors Stellung sei „durchaus nicht die festeste“ und man bereue es fast, ihm das Inkasso der Firma anvertraut zu haben (30f.), schließt Gregor mühevoll mit seinem Maul die Tür auf, tritt in den Türrahmen, und die Wartenden weichen mit Schreckensrufen vor ihm zurück. Der „Prokurist hatte sich schon bei den ersten Worten Gregors abgewendet, und nur über die zuckende Schulter hinweg sah er mit weit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück. Und während Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne Gregor aus den Augen zu lassen, gegen die Tür … Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine geradezu überirdische Erlösung.“ (36f.) Die Mutter flüchtet sich vor Gregor in die Arme des Vaters, und dieser treibt Gregor mit dem Stock, den der Prokurist anscheinend vergessen hat, zurück in sein Zimmer.

Berücksichtigen wir zur Klärung der Ereignisse – wie bei „Das Urteil“ – wieder die auffällig zahlreichen Zeitangaben. Gregor steht in der Regel um vier Uhr auf und nimmt den Fünfuhrzug, um gegen sieben, wenn geöffnet wird, in der Firma zu sein. Heute klingelt es um zehn Minuten nach sieben bei den Samsas und statt des von Gregor erwarteten Chefs steht – wie Gregor schon am ersten Grußwort erkennt – der Prokurist vor der Tür. Das ist unmöglich, denn selbst wenn der Gregor verhasste Geschäftsdiener auf den eingehenden Fünfuhrzug gewartet und dem Prokuristen bei Dienstbeginn unverzüglich Meldung über das Ausbleiben Gregors gemacht hätte, hätte dieser nicht zehn Minuten später bei den Samsas sein können. Zwischen Abfahrt des Frühzuges und Dienstbeginn liegen zwei Stunden. Der Zeitaufwand für den Weg von der Firma zu Gregor dürfe etwa derselbe sein, und der Gegenzug dürfte nicht sofort bei Ausbleiben Gregors am Bahnsteig abfahren. Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass Gregor sich den Prokuristen nur einbildet. Gregor rechnet fest damit, dass jemand von der Firma kommt, um ihn der Faulheit zu bezichtigen. Er meint, den Prokuristen schon am ersten Grußwort zu erkennen; und er kann ihn gar nicht richtig sehen, weil sich der ´Prokurist´ die Hand gegen den offenen Mund drückt (34) und sich schon bei den ersten Worten Gregors abwendet (36).

Die Wahrnehmungen Gregors scheinen grundsätzlich getrübt. Als er aus dem Fenster sieht, um sich durch den gewohnten Anblick der Straße zu beruhigen, wundert er sich über den anhaltend starken Morgennebel noch um sieben Uhr (26). Die Aussagen und Verhaltensweisen, die Gregor dem Prokuristen zuschreibt, entsprechen und entspringen offensichtlich seinen Ängsten, man könne ihm Vergehen nachsagen, ihn entlassen und die Familie mit den alten Schuldforderungen weiter verfolgen. Auch die angebliche Zeugenschaft der Eltern ist unglaubwürdig, denn die von ihnen vermeintlich vorgebrachten Entschuldigungen ihres Sohnes bestehen im Lob seiner Artigkeit und seines Fleißes (vgl. 31) und haben mit dem Fernbleiben nichts zu tun. Gregor selbst wünscht sich, dass seine Eltern ihn so sehen.

Gregor bildet sich das Erscheinen des Protagonisten offensichtlich nur ein; und das scheint auch für sein eigenes käferartiges Aussehen zu gelten. Am Anfang der Geschichte ist er so groß und dick, dass die Bettdecke sich auf ihm „kaum noch erhalten“ kann (21), und er ist so breit, dass er nicht durch die geöffnete Hälfte einer zweiflügligen Tür (39) oder unter ein Kanapee passt (42). Später nimmt er „zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen“ (52), er bedeckt mit seinem Leib gerade einmal das von ihm so geliebte Bild der Dame mit dem Muff (57), und am Ende kann die Putzfrau ihn mit ihrem Besen ein großes Stück seitwärts stoßen (78). Gregor imaginiert seine käferhafte Erscheinung und die Reaktionen auf diese Erscheinung also. Dem scheint zwar die Erklärung des allwissenden Erzählers vom Anfang zu widersprechen, dass Gregor sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt „fand“. Sie ist aber mit den Imaginationen Gregors in Einklang zu bringen, wenn man – wie es wohl intuitiv geschieht – „fand“ hier nicht im Sinne von ´entdeckte´ versteht, sondern als ´empfand´. Gregor meint offenbar ein unnützer Schädling und Krankheitsträger zu sein. Die Intensität dieser Überzeugung wird vom Erzähler mit inneren Monologen und vor allem in der Form der erlebten Rede dargestellt, die grammatikalisch vom Erzählerbericht nicht zu unterscheiden ist. Fiktionale Realität und das Erleben der Figur gehen in grammatisch identischer Form anscheinend ineinander über.

Damit aber ist noch nicht geklärt, warum Gregor sich so geringschätzt und für verachtet hält. Er träumt nicht. (21) Und er scheint tatsächlich nicht wie gewohnt zum Dienst gefahren, sondern einer Krankheit wegen im Bett geblieben zu sein. Seine Wahrnehmung ist getrübt, er ist antriebsschwach, hat ein verzögertes Zeiterleben („die Zeiger“ des Weckers „gingen ruhig vorwärts“ (23)), fühlt sich schläfrig (23), seine Körperbewegungen sind verlangsamt (39), seine Stimme klingt piepsend (24) und ist kaum zu verstehen (32f.). Gregor selbst ist der Verlust seiner Fähigkeiten nur ansatzweise bewusst. Er fühlt sich, „abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl“ (23) und meint, „die Veränderung der Stimme“ sei „nichts anderes … als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung“ (25). Seelisch aber sieht sich Gregor durchaus belastet. Er fürchtet nämlich „vor Gewissensbissen närrisch“ zu werden und „geradezu nicht imstande“ zu sein, „das Bett zu verlassen“, weil man ihm vorwirft, „ein paar Morgenstunden für das Geschäft nicht ausgenützt“ zu haben (28). Auch scheint er einen erschreckenden Anblick zu bieten. Dass die Mutter nach einem Arzt und der Vater nach einem Schlosser schicken, scheint motiviert. Und irgendein Besucher scheint auch vor Gregor zu fliehen, wenngleich es nicht der Prokurist sein kann. Er vergisst den Stock, mit dem der Vater Gregor zurück in sein Zimmer treibt.

Die psychologisch geschulte Leserin oder der Leser wird einen Verdacht haben, was mit Gregor los ist. Die aufgelistete Symptomatik ist typisch für eine Depression. Und die Gründe für diese Depression haben wir ganz nebenbei auch erfahren. Gregor steht ungesund früh, nämlich um vier Uhr auf. Er hat einen sehr langen und mit den Fahrten zur Firma und zu den Kunden anstrengenden Arbeitstag. Er muss den Kunden gegenüber immer bis zur Unterwürfigkeit höflich sein, und auch in der Firma wird er von oben, nämlich von einen Pult herab behandelt (22). Er hat an den Abenden zu Hause kein Privatleben mit einer Intimsphäre – und keine Partnerin. Er geht niemals aus, sondern beschäftigt sich mit Zeitunglesen oder Laubsägearbeiten. Sein ganzer Stolz ist ein Rahmen, den er für das Bild der Dame mit dem Muff angefertigt hat. (29) Darüber hinaus wird Gregor ausgebeutet, nicht nur von der Firma, die ihm als kleinem Angestellten die Abrechnung mit den Kunden aufbürdet, sondern auch von der Familie. Er ist ihr alleiniger Ernährer. Während er längst in der Firma ist, frühstücken die anderen ausgiebig. Für den Vater ist „das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages“, es zieht sich mit Zeitungslektüre stundenlang hin, und das Geschirr steht dabei „in überreicher Zahl auf dem Tisch“. (35) Als der Vater angesichts der Arbeitsunfähigkeit Gregors der Familie die Vermögensverhältnisse darlegt, stellt sich aber heraus, dass er „aus dem vor fünf Jahren erfolgten Zusammenbruch seines Geschäftes“ (47) ein „kleines Vermögen“ zurückbehalten hat (48) und dieses von dem Geld, das Gregor allmonatlich nach Hause gebracht hat, noch aufgestockt worden ist (ebd.) Hätte man das Geld, wie es Gregors Absicht entsprach, dazu benutzt, die Schulden des Vaters bei seinem Chef abzutragen, hätte Gregor den anstrengenden Außendienst bald aufgeben können. (ebd.)

       c. Erfahrungen aus der Arbeitswelt

Franz Kafka war mit den Problemen der Erwerbsunfähigkeit und Berufskrankheit durch seine Arbeit bei der gesetzlichen Arbeiter-Unfall-Versicherung vertraut. Er hatte keineswegs wie Gregor zu befürchten, dass seine Anstellung irgendwie gefährdet sei, denn er war – entgegen der sonstigen Ablehnung jüdischer Bewerber – eingestellt worden, da er sowohl das Deutsche als auch das Tschechische beherrschte und so der Verpflichtung der Anstalt nachkommen konnte, mit den Klienten in ihren jeweiligen Sprachen zu verhandeln (Stach I, 348). Die 1889 eingeführte Versicherung war eine der Modernisierungsmaßnahmen Österreich-Ungarns im Zuge der Industrialisierung. Obwohl nur 35.000 Deutsche, aber 415.000 Tschechen in Prag lebten, bildeten die Deutschen eine privilegierte Mittelschicht, in die sich die Kafkas hineingearbeitet hatten. Sie schickten ihre Kinder auf deutsche Schulen, und nach dem Abitur nahm Franz auf Wunsch der Eltern das in der Geschäftswelt brauchbare Jurastudium auf. Nebenbei besuchte er aber immer wieder Veranstaltungen in Germanistik und Philosophie. Selbständiger Anwalt wollte er nicht werden, da sein Beruf nicht den ganzen Tag ausfüllen, sondern Raum für die Schriftstellerei lassen sollte. Da kam ihm die Anstellung mit „einfacher Frequenz“, d.h. im Umfang von nur sechs Stunden täglich, an der AUVA gerade recht.

Er trat die Stelle am 30. Juli 1908 an und seine Arbeit bestand in der Einstufung von beruflichen Tätigkeiten in Gefahrenklassen, der Festlegung von entsprechenden Versicherungsbeiträgen und – vor allem – der juristischen Auseinandersetzung mit zahlungsunwilligen Unternehmern. (Stach I 392.) Darüber hinaus wurde Kafka als „Referent für Unfallschutz und Erste Hilfe“ geführt, nahm in dieser Funktion an einem Kongress in Wien teil (Stach I, 395) und arbeitete vorübergehend in der Unfallabteilung, wo über Entschädigungen oder Renten entschieden wurde (Stach I, 393). Die Begutachtung von Betrieben und die Verhandlungen mit den Unternehmen erforderten zahlreiche Dienstreisen. In einem Brief vom Herbst 1909 klagt er: „Heute ½ 7 bin ich nach Gablonz gefahren, von Gablonz nach Johannesberg, dann nach Grenzendorf, jetzt fahre ich nach Maffersdorf, dann nach Reichenberg, dann nach Röchlitz und gegen Abend nach Rappersdorf und zurück.“ Am 16. September bekam er eine feste Anstellung und sieben Monate später wurde er Konzipist, d.h. er erhielt die Vollmacht, selbstständig verbindliche Korrespondenzen zu führen. Grundlage hierfür war die Beurteilung durch die Vorgesetzten, und die fiel sehr gut aus: „Dr. Kafka ist ein eminent fleißiger Arbeiter von hervorragender Begabung und hervorragender Pflichttreue.“ (Stach I, 398) Das erinnert an die Idealvorstellungen Gregors.

       d. Gregors Einsamkeit

Ob Gregor depressiv ist, muss seine weitere Entwicklung zeigen. Am Ende des ersten Tages seiner Verwandlung erwacht er in der Abenddämmerung auf dem Fußboden seines Zimmers und stellt erfreut fest, dass man ihm einen Napf mit süßer Milch ins Zimmer gestellt hat, in dem Weißbrotstücke schwimmen. Aber die Milch, die „sonst sein Lieblingsgetränk war“ (41), erweckt Widerwillen in ihm, und er lässt sie stehen. Er nimmt wahr, dass es überraschend still in der Wohnung ist, und befürchtet, dass Wohlstand und Zufriedenheit „ein Ende mit Schrecken nehmen“ könnten (41). Niemand betritt mehr sein Zimmer, und er muss feststellen, dass der Schlüssel von außen steckt.

Als seine Schwester am nächsten Morgen die Tür öffnet und ihn unter dem Kanapee, wo er die Nacht verbracht hat, entdeckt, schlägt sie die Tür zunächst wieder zu, betritt dann aber, „als sei sie bei einem Schwerkranken oder gar bei einem Fremden, auf den Fußspitzen“ das Zimmer (43). Sie entdeckt zu ihrer Verwunderung den unangerührten Milchnapf und bringt Gregor, „um seinen Geschmack zu prüfen, eine ganze Auswahl“ an Speisen, „alles auf einer alten Zeitung ausgebreitet. Da war altes halbverfaultes Gemüse; Knochen vom Nachtmahl …, ein paar Rosinen und Mandeln; ein Käse, den Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte; ein trockenes Brot, ein mit Butter beschmiertes und gesalzenes Brot“ und „der wahrscheinlich ein für allemal für Gregor bestimmte Napf, in den sie Wasser gegossen hatte. Und aus Zartgefühl, da sie wusste, dass Gregor vor ihr nicht essen würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um, damit nur Gregor merken könne, dass er es so behaglich machen dürfe, wie er wolle.“ (44) Da es Gregor schmeckt, vor allem der zuvor abgelehnte Käse, bekommt er von nun an täglich auf diese Weise sein Essen, allerdings immer erst, wenn die Eltern und das Dienstmädchen schlafen. (45) Das Dienstmädchen scheint aber doch einen Blick auf Gregor geworfen zu haben, denn schließlich bittet es um Kündigung und weint vor Erleichterung, als es gehen darf. (ebd.)

Gregors Appetit geht zurück; er lässt die Speisen immer öfter unangerührt (45), und er sieht auch die „nur ein wenig entfernten Dinge immer undeutlicher“ (49). In den ersten 14 Tagen bringen es die Eltern nicht fertig, sein Zimmer zu betreten (51), und wenn die Schwester herein kommt, um ihm das Essen hinzustellen, stürzt sie „geradewegs zum Fenster“ und reißt es, „als ersticke sie fast, mit hastigen Händen auf“ (50). Das Essen macht Gregor aber schon „bald nicht mehr das geringste Vergnügen“ (52) Da er beim Herumkriechen „hie und da Spuren seines Klebstoffs“ in seinem Zimmer hinterlässt, beschließt die Schwester einen Monat nach seiner Verwandlung, es mit Hilfe der Familie auszuräumen. Um das oder wenigstens die Entfernung des Bildes der Dame mit dem Muff zu verhindern, kriecht er „eilends hinauf“ und presst sich an das Glas: „Er saß auf seinem Bild und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.“ Als in diesem Augenblick die Mutter ihrer Tochter zu Hilfe kommt, fällt sie beim Anblick Gregors in Ohnmacht. (57) Um ein Riechfläschchen zu holen, läuft Gregor mit der Schwester in das benachbarte Wohnzimmer. Hier aber wird er von der Schwester eingesperrt; und als der Vater es betritt, meldet sie ihm, dass Gregor ausgebrochen sei. (58) Der Vater ist zu Gregors Verwunderung „in eine straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet, wie sie Diener der Bankinstitute tragen“, und er trägt eine „Mütze, auf der ein Goldmonogramm“ angebracht ist (59f.). Mit, wie es Gregor erscheint, der Androhung von Tritten und indem er ihn mit Äpfeln aus der Obstschale bewirft, treibt er Gregor in Richtung seines Zimmers, aus dem jetzt Mutter und Tochter herbeieilen und ihn um Schonung Gregors bitten. (60f.) Ein Apfel dringt „förmlich in Gregors Rücken ein“ und „in vollständiger Verwirrung aller Sinne“ und mit versagender Sehkraft lässt sich Gregor zu Boden fallen. (61)

In dieser Darstellung finden sich weitere Indizien für eine schwere Depression: Appetitlosigkeit, Wahrnehmungsstörungen und völlige Selbstvernachlässigung bis hin zur Verwahrlosung. Vielleicht verrichtet Gregor sogar seine Notdurft in seinem Zimmer. Es ist auch realistisch, dass der Vater eine Stelle als Dienstbote oder Liftboy angenommen hat und die Ohnmacht seiner Frau bei seiner Rückkehr auf Gewalttätigkeit Gregors zurückführt; aber dass er Gregor mit Tritten droht, mit Äpfeln bewirft und ein Apfel in Gregors Rücken stecken bleibt, ist unwahrscheinlich bzw. unmöglich. Vielleich stößt der Vater bei dem Versuch, Gregor zu stellen, gegen die Kredenz mit der Schale darauf, einige Äpfel fallen herunter und springen auf Gregor zu, dieser erschrickt und stößt sich am Rücken. Der Apfel dringt ja auch nur „förmlich“, also gleichsam in Gregors Rücken ein. Erzählt werden die vermeintlichen Ereignisse aber nicht mehr nur durch Spiegelung eines inneren Monologs Gregors, sondern teilweise aus der Außenperspektive des allwissenden Erzählers: „Gregor blieb vor Schreck stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte sich entschlossen, ihn zu bombardieren. Aus der Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die Taschen gefüllt und warf nun, ohne vorläufig scharf zu zielen.“ (60) Der Anfang dieses Zitats stammt aus der Sicht des Erzählers: „Gregor blieb vor Schreck stehen“. Der Rest aber kann nur eine Spiegelung des inneren Monologs sein: ´weiterlaufen ist zwecklos. Er will mich bombardieren´. Dass der Vater sich Obst in die Taschen gesteckt ´hatte´, klingt ganz wie ein erklärender Rückgriff des auktorialen Erzählers, ist inhaltlich aber der Perspektive Gregors zuzuordnen, aus der auch der Rest des Satzes stammt, der den inneren Monolog spiegelt: ´er wirft mit den Äpfeln nach mir, sicher bald auch gezielter´. Der Erzähler spiegelt das Erleben Gregors nicht nur, sondern er stellt es auch in seinen eigenen Worten dar. Er spielt vor dem inneren Auge des Lesers den Gregor und vermischt dabei die Perspektiven. Gregor würde von sich selbst nicht als Gregor sprechen, sondern mit „ich“ auf sich Bezug nehmen. Und der allwissende Erzähler würde die Szene nicht so beschreiben, dass der Vater Gregor bombardiert, sondern dass Gregor glaubt, er tue dies. Es machte Kafka großen Spaß, beim Vorlesen eigener oder fremder Werke Figuren vorzuspielen, und genau das tut der Erzähler hier mit Gregor.

Der Erzählung nach leidet Gregor über einen Monat an der Verwundung, darf jetzt aber abends bei geöffneter Zimmertür den Gesprächen der Familie lauschen. Auch Mutter und Schwester arbeiten mittlerweile. Die Mutter näht feine Wäsche für ein Modegeschäft, und die Schwester hat eine Stelle als Verkäuferin angenommen. Der Vater trägt seine Uniform mit Stolz auch zu Hause und ist zum Zentrum der ganzen Fürsorge von Gattin und Tochter geworden. (63) Gregor schenkt man nur noch wenig Aufmerksamkeit. Die Schwester schiebt ihm „eiligst, ehe sie morgens und mittags ins Geschäft“ geht, „mit dem Fuß irgendeine beliebige Speise“ ins Zimmer, und sie reinigt sein Zimmer so nachlässig, dass Schmutzstreifen sich die Wände entlangziehen und sich Knäuel von Staub und Unrat bilden. (65) Gregor isst nun fast nichts mehr, und sein Zimmer wird als Abstellkammer für die Möbel aus einem Raum verwendet, den man als Schlafstätte an drei Zimmerherren vermietet. Wenn diese Herren ihr Abendessen im Wohnzimmer einnehmen, muss die Tür zu Gregor natürlich geschlossen bleiben.

Eines Abends spielt seine Schwester den Herren etwas auf der Geige vor, und vor Freude an der Musik und an den Fähigkeiten seiner Schwester steckt Gregor den Kopf ins Wohnzimmer. Die Zimmerherren verhalten sich recht gleichgültig dem Spiel gegenüber, aber Gregor fragt sich: „War er ein Tier, da Musik ihn so ergriff?“ (71) Die Frage ist rhetorisch, denn die dem Leser überlassene Antwort ist selbstverständlich: „Nein, Gregor ist kein Tier.“ Die Frage zeigt, dass Gregor sich im Grunde als Mensch versteht, aber von sich selbst und – wie er offenbar bemerkt – in zunehmendem Maße auch von den anderen nicht mehr als gleichwertig angesehen wird. Als die Mieter ihn entdecken, sind sie zwar nicht sonderlich aufgeregt (72) – Gregor ist eben nichts als eine ungepflegte Person -, kündigen aber „mit Rücksicht auf die in dieser Wohnung und Familie herrschenden widerlichen Verhältnisse“ ihr Zimmer „augenblicklich“ und wollen „natürlich auch für die Tage“, die sie bereits bei den Samsas gewohnt haben, „nicht das geringste bezahlen“. (73) Darauf hört Gregor die Schwester sagen: „´Liebe Eltern! … Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden.´“ (74) „´Weg muss es´, rief die Schwester, ´das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst nur den Gedanken loszuwerden versuchen, dass es Gregor ist. Dass wir es solange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.´“ (75)

Gregor kehrt mühsam in sein Zimmer zurück und wird dort eingesperrt. Der ganze Leib schmerzt ihn und er kann sich nicht mehr rühren. Der Erzähler berichtet: „Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor.“ (77) Die Putzfrau, die man vor kurzem für stundenweise Aushilfe engagiert hatte, entdeckt ihn am Morgen, stellt fest, dass er tot ist, und ruft „mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: ´Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!´“ (77) Die Familie sieht nach. Herr Samsa sagt: „´Nun …, jetzt können wir Gott danken´“; er bekreuzigt sich und die anderen folgen seinem Beispiel. Grete stellt fest, dass Gregor ganz mager ist und ja auch schon seit einiger Zeit nichts mehr gegessen hat, und der Erzähler bestätigt: „Tatsächlich war Gregors Körper vollständig flach und trocken, man erkannte das eigentlich erst jetzt, da er nicht mehr von den Beinchen gehoben war und auch sonst nichts den Blick ablenkte.“ (78)

Mit dieser Beschreibung Gregors durch die Putzfrau: ´Es ist krepiert´, kann der Erzähler nicht mehr das Erleben Gregors wiedergeben, denn der lebt nicht mehr. Er zitiert gleichsam die Sicht und das Erleben Gregors, wenn er dessen „Beinchen“ erwähnt und sein Aussehen beschreibt. Aber er und auch die Figuren glauben nicht, dass sie die Überreste eines Käfers oder einen Tierkadaver vor sich haben, denn der Erzähler bezeichnet als „Leiche“, was sie betrachten (78). Es ist Ende März. Ein halbes Jahr hat das Leiden Gregors gedauert. Die Putzfrau verspricht, den Abtransport der Leiche zu organisieren: „´also darüber, wie das Zeug von nebenan weggeschafft werden soll, müssen sie sich keine Sorgen machen. Es ist schon in Ordnung.´“ (80). Und die Samsas beschließen, den Tag zum Ausruhen und Spazierengehen zu verwenden. Sie verfassen Entschuldigungsbriefe an ihre Arbeitgeber, und Herr Samsa bittet seine beiden Frauen: „´Also kommt doch her. Lasst schon endlich die alten Sachen. Und nehmt ein wenig Rücksicht auf mich.´“ Der Erzähler berichtet, dass die Frauen zum Vater eilen, ihn liebkosen und „alle drei gemeinschaftlich die Wohnung“ verlassen, „was sie schon seit Monaten nicht mehr getan hatten.“ (81) Und „während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewusst durch Blicke sich verständigend dachten sie daran, dass es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen.“ (81) Wie schon in „Das Urteil“ geht das Leben über den Toten hin, und hier soll er sogar als Bewunderer und Lebenspartner seiner Schwester durch einen anderen ersetzt werden.

       e. Familiäre Spannungen

Offensichtlich hat die Familie Samsa Ähnlichkeiten mit der Kafkas. In erster Linie entsprach die Einstellung seiner jüngsten Schwester Ottla ihm gegenüber in vielem der von Grete zu Gregor. Sie hatte Verständnis für seine literarische Leidenschaft. Er las ihr seine Neuproduktionen vor. Sie begleitete ihn zu Lesungen und verteidigte ihn gegen Vorwürfe der Eltern bezüglich seines Tagesrhythmus, seiner Essgewohnheiten und seiner Freunde. Sie besaß sogar die Großzügigkeit, ihm ein kleines Haus in der Prager Altstadt zu überlassen, das sie als geheimen Treff für sich und ihren Freund auf Fronturlaub angemietet hatte. Wie seine Schwester für Gregor ist Ottla die Vertraute Kafkas in der Familie. Wie in der „Verwandlung“ gab es aber auch im Verhältnis dieser beiden Geschwister eine Wende bzw. Krise. Als die drei Mieter nach dem heimlichen Erscheinen Gregors im Wohnzimmer kündigen, sieht Grete die wirtschaftliche Existenz der Familie bedroht und entscheidet, dass Gregor, dass „es“ weg muss. Ganz ähnlich stellt sich Ottla gegen Franz, als der Bankrott der Asbestfabrik droht, an der er als Gesellschafter seines Schwagers Karl Herrmann beteiligt ist. Kafka hatte zugesagt, sich um die Firma zu kümmern, tat es aber nicht. Und das hat Anfang Oktober 1912, also etwa sechs Wochen vor Aufnahme der Arbeit an „Die Verwandlung“ zu heftigen Vorwürfen von Ottla geführt. (Stach II, 218) Kafka erklärte sich außerstande, sich regelmäßig in die Asbestfabrik zu begeben, da er dann nicht mehr leben, nämlich nicht mehr schreiben könne. Sein Schwager und dessen Sohn mussten die Leitung der Fabrik übernehmen. Franz überlebte.

Als weitere Entsprechung ist der Charakter von Herrmann Kafka zu nennen, der eine ähnlich patriarchalische Figur wie der Vater Gregors gewesen sein dürfte. Herrmann griff zu rabiaten Erziehungsmethoden, als sein kleiner Sohn gar nicht aufhören wollte, über Durst zu klagen und zu weinen, und sperrte ihn aus der Wohnung aus. Er war groß, kräftig, laut und stolz darauf, aus dem ärmlichen Ostjudentum den Aufstieg in den deutschsprachigen Mittelstand Prags geschafft zu haben. Und natürlich wünschte er sich – zunächst – dass Franz das aufgebaute Geschäft für Galanteriewaren übernimmt und ausbaut. Bald wurde aber klar, dass Franz dazu weder bereit noch geeignet war. Der hervorragende Schulabschluss des Jungen ließ vielmehr ein Studium sinnvoll erscheinen, und hier natürlich der Rechtswissenschaften, die geschäftlich von Nutzen sein konnten. Franz leistete nur kurz Widerstand und schrieb sich zunächst in Chemie ein. Schon die ersten Wochen im Labor ließen ihn hiervon aber Abstand nehmen und er stieg auf das Brotfach um. Auch im Studium war er sehr erfolgreich und promovierte sogar, aber Wissenschaftler oder Anwalt wollte er nicht werden, weil ihm dann keine Zeit zum Schreiben geblieben wäre. Veranstaltungen in Philosophie und Germanistik hat Kafka aber immer besucht, und Herrmann hat die Leidenschaft seines Sohnes für die Literatur auch immer respektiert und sein Studium finanziert. Kafka wollte seine erste Sammlung von Erzählungen „Ein Landarzt“ sogar seinem Vater widmen. (Stach III, 330f.) Verschlechtert hat sich das Verhältnis der beiden erst, als Herrmann die Freundschaft von Franz zu dem ostjüdischen Wanderbühnenschauspieler Jizchack Löwy mit einem Ungeziefervergleich kritisierte: Wer sich mit Hunden zu Bett legt, wacht mit Wanzen auf. (Stach II, 59) Die spätere literarische Abrechnung mit dem Vater „Brief an den Vater“ entsteht erst, als Herrmann im Herbst 1918 die Verbindung seines Sohnes mit der 28-jährigen Schuhmachertochter Julie Wohryzek mit dem Vorschlag ablehnte, Franz solle doch besser zu Prostituierten gehen, und wenn er sich das nicht traue, werde er selbst ihn dabei begleiten. (Stach III, 304) Herrmann fürchtete, sein Sohn, der sich zunehmend auch für seine jüdischen Wurzeln und den Zionismus interessierte, könne den gutbürgerlichen Status der Familie verspielen. Wie Herrmann ist auch Gregors Vater ein Patriarch, aber eher an Bequemlichkeit und körperlichem Wohlergehen interessiert.

Eine ungefähre Entsprechung gibt es noch zwischen den Müttern der beiden Familien. Beide wissen, dass sie einen selbstherrlichen Mann haben, stehen aber unverbrüchlich an seiner Seite. Dafür, dass Frau Samsa ihren Mann mit den Mitteln der Erotik zu bändigen versucht, bietet die Überlieferung des Familienlebens der Kafkas keine Entsprechungen. Und zur Herkunft von Julie Kafka, geborene Löwy, aus einer alten Rabbinerfamilie liefert die Erzählung keine Analogie.

  1. In der Strafkolonie“

Georg Bendemann, Gregor Samsa und Josef K. sind nicht nur die Hauptfiguren ihrer Geschichte, sondern auch Perspektivfiguren, aus deren Sicht der Leser einen Großteil des Geschehens erlebt. Im Hintergrund führt zwar ein allwissender Erzähler Regie, meist wird aber aus Figurensicht, d.h. personal erzählt, und die surrealen Szenen eines racheengelhaften Vaters, eines käferhaften Leibes oder labyrinthischer Gerichtsgebäude entspringen der Phantasie des Protagonisten. Das ist in der überwiegenden Zahl der kürzeren Erzählungen Kafkas anders. Eine Brücke (in „Die Brücke“), ein Schimpanse (in „Bericht für eine Akademie“), Erdmännchen (in „Der Bau“) oder Mäuse (in „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“) agieren hier wie Personen, und es treten Figuren auf, die es so nicht gegeben hat oder geben kann, wie ein Arzt, der sich zum Kranken ins Bett legt (in „Ein Landarzt“), ein Hungerkünstler (in „Der Hungerkünstler“) oder Türhüter eines schreinartigen Gesetzes mit Eingängen (in „Vor dem Gesetz“). Das erzählte Geschehen ist von vornherein unrealistisch, und der Erzähler selbst bedient sich seiner als eines komplexen Bildes, dessen Elemente für verschiedene Dinge, Teile oder Aspekte der Wirklichkeit stehen. Geschichten dieser Art werden als Parabeln bezeichnet, da ihr textliches Bild und ihre sachliche Bedeutung sich strukturell spiegelsymmetrisch zueinander verhalten wie die Äste einer Parabel. Auf der Sachebene lassen sich den Texten häufig mehrere verschiedene Arten von Personen, Situationen oder Verhaltensweisen zuordnen, so dass sie mehrdeutig sind. Wenn das textliche Bild gut gewählt ist, ist diejenige Deutung die beste, die die meisten Eigenschaften und Beziehungen der erwähnten Dinge aufnimmt. „In der Strafkolonie“ ist die umfangreichste Parabel Kafkas, und die Hinsicht ihrer Deutung wird durch ihre Bildelemente und ihren Titel recht eindeutig angegeben.

       a. Das Strafverfahren alter Tradition

Die Parabel ist im Oktober 1914, schon während der – unvollendeten – Arbeit an „Der Prozess“ entstanden. Am 20. November 1914 hat Kafka sie erstmals im privaten Kreis vorgelesen. (Stach II, 556) Wie im „Prozess“ steht hier ein Strafverfahren im Zentrum, aber nicht als Angstphantasie der Hauptfigur, sondern als scheinbar exotisches mörderisches Exekutionsverfahren. Mit einer programmierbaren Maschine von der Größe eines Sarkophags werden die Verurteilten durch grausamstes allmähliches Zersticheln ihres Körpers zu Tode gebracht. Die drei übereinander angebrachten Teile der Maschine haben nach Aussagen des sie bedienenden Offiziers „gewissermaßen volkstümliche Bezeichnungen“ erhalten, nämlich die beschönigenden Benennungen als „Bett“, „Egge“ und „Zeichner“. Auf das mit einer besonderen Watte ausgekleidete „Bett“ werde „der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann … mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, dass er dem Manne gerade in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern. Natürlich muss der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird.“ (87) Die darüber befindliche „Egge“ werde ganz zutreffend so genannt, weil die „Nadeln“ auf ihr „eggenartig angeordnet“ seien und „das Ganze wie eine Egge geführt“ werde, „wenn auch bloß auf einem Platz und viel kunstgemäßer“. (87) In ihrer Gestalt entspreche die Egge „der Form des Menschen; hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen für die Beine. Für den Kopf ist nur dieser kleine Stichel bestimmt.“ (91) Sie sei „aus Glas gemacht“ und habe „zweierlei Nadeln“, lange und kurze, paarweise angeordnet, von denen die lange „schreibt“ und die kurze Wasser ausspritzt, „um das Blut abzuwaschen und die Schrift immer klar zu erhalten“. (92f.) Im obersten Teil der Maschine, im „Zeichner“ befinde sich „das Räderwerk, welches die Bewegung der Egge bestimmt“. (94) Die Maschine setze so das gefällte Urteil um, denn die Strafe bestehe darin, dass „dem Verurteilten das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben“ wird. (89) Programmiert wird sie durch die Einführung einer Zeichnung des Urteils in den Zeichner. (94) Wie auch immer das Urteil lautet, kommt der Verurteilte bei dieser als „Arbeit“ (95) oder „Spiel“ bezeichneten (92) Prozedur jedenfalls um. Am Ende „spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht“ und verscharrt wird. (96)

Zweck des Martyriums ist, den Verurteilten zu „Verstand“ zu bringen und die entsprechenden Veränderungen an ihm zu beobachten. Die Maschine solle „ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden“; und „für die sechste Stunde“ sei „der Wendepunkt berechnet“. (94) „Die ersten sechs Stunden lebt der Verurteilte fast wie früher, er leidet nur Schmerzen. Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt, denn der Mann hat keine Kraft zum Schreien mehr. … Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja weiter nichts, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er“, er „entziffert sie aber mit seinen Wunden.“ (96) Zur Hochzeit dieser Exekutionen sei schon „einen Tag vor der Hinrichtung … das ganze Tal von Menschen überfüllt“ gewesen, „alle kamen nur, um zu sehen; früh am Morgen erschien der Kommandant mit seinen Damen; … die Gesellschaft – kein hoher Beamter durfte fehlen – ordnete sich um die Maschine … Und nun begann die Exekution! Kein Misston störte die Arbeit der Maschine. Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen Augen im Sand; alle wussten: jetzt geschieht Gerechtigkeit. … Nun, und dann kam die sechste Stunde! Es war unmöglich, allen die Bitte, aus der Nähe zuschauen zu dürfen, zu gewähren. Der Kommandant in seiner Einsicht ordnete an, dass vor allem die Kinder berücksichtigt werden sollten … Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit!“ (100)

Solche Reaktionen auf derartig sadistische Exekutionen sind ebenso unrealistisch wie – zu Kafkas Zeiten – die Mordmaschinerie selbst. In der Fiktion ist das Geschehen in einer außereuropäischen Kolonie (vgl. 102) angesiedelt, die von französischsprachigem Militär verwaltet wird (86), das unter der Leitung eines Kommandanten steht. Zeitlich liegt die Strafpraxis in der nicht weit zurück liegenden, aber offenbar vormodernen Vergangenheit. Die Leitung der Kolonie ist mittlerweile ausgetauscht worden, und der neue Kommandant wohnt den Exekutionen nicht mehr bei, gibt keine Gelder zum Erhalt der Mordmaschine mehr frei (97) und scheint die „alte Einrichtung zu bekämpfen“ (97) und zu beabsichtigen, „allerdings langsam, ein neues Verfahren einzuführen“ (92). Dieses Interesse des neuen Kommandanten ist der Grund dafür, dass die Kunde über die mörderische Strafpraxis aus der fernen Kolonie zu uns, dem Erzähler und der Leserschaft, gelangt ist. Denn er hat einen „Forschungsreisenden“ zur Begutachtung des alten Verfahrens eingeladen (84), der „weder Bürger der Strafkolonie, noch Bürger des Staates“ ist, „dem sie angehört“ (97). Ihm wird das Verfahren vom leitenden Offizier an einem seines Erachtens ganz gewöhnlichen Fall (90/91) vorgeführt. Und der – sehr zurückhaltende – auktoriale Erzähler berichtet jetzt von den Erfahrungen des Forschers.

Der leitende Offizier hängt an seiner Richterrolle, kennt die Mordmaschine bis ins Detail, bewahrt die Konstruktionszeichnungen und Programmierungen wie Heiligtümer auf (94) und verehrt den ehemaligen Kommandanten, der nicht nur Soldat und Richter, sondern auch „Konstrukteur, Chemiker“ und „Zeichner“ war (89). Unter ihm war der die Vorführung leitende Offizier Gerichtspräsident (100); jetzt ist er noch „zum Richter bestellt“; und der „Grundsatz“, nach dem er entscheidet, ist, wie er erklärt, „Die Schuld ist immer zweifellos“ (90). „Andere Gerichte“ könnten „diesen Grundsatz nicht befolgen, denn sie sind vielköpfig und haben auch noch andere Gerichte über sich“; das sei „hier nicht der Fall, oder war es wenigstens nicht beim früheren Kommandanten. Der neue“ habe „allerdings schon Lust gezeigt, … sich einzumischen“, das habe sich aber bisher verhindern lassen. (90) Der mit der Vorführung gegebene Fall sei „so einfach wie alle“: Ein Hauptmann habe am Morgen die Anzeige erstattet, dass der Verurteilte, „der ihm als Diener zugeteilt ist und vor seiner Türe schläft, den Dienst verschlafen hat. Er hat nämlich die Pflicht, bei jedem Stundenschlag aufzustehen und vor der Tür des Hauptmanns zu salutieren …, denn er soll sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung frisch bleiben“. Als der Hauptmann den Soldaten kontrollierte, „fand er ihn zusammengekrümmt schlafen. Er holte die Reitpeitsche und schlug ihm über das Gesicht. Statt nun aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, fasste der Mann seinen Herren bei den Beinen, schüttelte ihn und rief: ´Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich.´“ Der Hauptmann sei dann „vor einer Stunde“ zu ihm gekommen, und er, der Offizier, habe dessen „Angaben … und anschließend gleich das Urteil“ aufgeschrieben und „dem Mann die Ketten anlegen“ lassen. (91) Es wäre nach Auffassung des Offiziers „nur Verwirrung entstanden“, wenn er den Mann zunächst befragt hätte, denn dieser hätte sicher gelogen und, wenn es gelungen wäre diese „Lügen zu widerlegen, sie durch neue Lügen ersetzt und so fort. Jetzt aber halte“ er ihn „und lasse ihn nicht mehr.“ (91)

Der Wachdienst, mit dem der Verurteilte beauftragt war, ist offensichtlich unzumutbar und teils sinnlos. Kein Mensch kann im Zweistundenrhythmus schlafen; und nachts vor der Tür des Bewachten zu salutieren, hat keinen realistischen Zweck. Dem Mann mit der Reitpeitsche ins Gesicht zu schlagen, ist ebenso grausam wie die verhängte Todesstrafe. Wenig glaubwürdig ist die Aussage des Hauptmannes, sein Diener habe ihm gedroht, ihn zu fressen. Alle Figuren der Geschichte werden körperlich als Menschen beschrieben und der Verurteilte sogar als „magerer Mann“ (96), der bei Beginn der Exekution so „hündisch ergeben“ aussieht, dass es schien, als müsse man „nur pfeifen, damit er käme“ (84). Er bemüht sich vergeblich, den Erläuterungen, die der Offizier dem Forschungsreisenden gibt, zu folgen (86f.), und er scheint diesen mit seinem „Blick … zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne“ (90). Der Verurteilte weiß weder, dass er verurteilt ist, (90) noch kennt er das Strafmaß, nämlich qualvoll daran zugrunde zu gehen, dass ihm „auf den Leib geschrieben“ wird: „Ehre deinen Vorgesetzten!“ (89). Dementsprechend erscheinen auch dem Forscher die „Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution … zweifellos“, wenngleich er es für „bedenklich“ hält, „in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen“ (97).

       b. Die Sucht nach Sühne

Das „Gericht“ (96), von dem hier berichtet wird, ist nicht nur nicht rechtsstaatlich, sondern eine Karikatur sogar monarchischer oder absolutistischer Rechtsprechung. Es existiert gar kein inhaltliches Gesetz, sondern nur eine Sammlung von Regeln in der Mappe des ehemaligen Kommandanten und das Prinzip der Ermächtigung zur Verurteilung „Die Schuld ist immer zweifellos“. Worin genau Vergehen bestehen können, ist weder mündlich überliefert noch schriftlich festgehalten; und die Strafe ist immer dieselbe. Das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland hat bei der Beurteilung von Entscheidungen der NS-Justiz oder von DDR-Gerichten mehrfach die Formel angewandt, dass Gesetze von vornherein kein geltendes Recht sind, wenn durch sie „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird“, d.h. wenn „Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde“ (Radbruch 44; vgl. BVerfGE 3 (1954) S. 58f. (118f.), 23 (1968) S. 98f. (106), BGHSt 39 (1994) S. 1 (3f.)). Das trifft auf das vermeintliche Gesetz der Strafkolonie uneingeschränkt zu. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, relevant Gleiches gleich zu behandeln, ist grob verletzt, denn alle vermeintlichen Vergehen werden mit der Todesstrafe geahndet. Auch den anderen allgemeinen Zwecken staatlicher Gesetzgebung, der Förderung von Rechtssicherheit und Gemeinnutz (vgl. Radbruch 42f.) dient das sogenannte „Gesetz“ der Kolonie offensichtlich nicht, da es öffentlich anscheinend nicht näher bekannt ist und vom Richter-Offizier ganz willkürlich angewandt wird. Darüber hinaus gibt es kein wirkliches Gerichtsverfahren, denn dem Angeklagten wird die Verurteilung nicht verkündet, und er erhält „keine Gelegenheit …, sich zu verteidigen“ (90).

Der einzig erkennbare Zweck des sogenannten Gerichtsverfahrens, also der Exekutionen durch die Mordmaschine, ist die Erbauung der Zuschauer durch „den Ausdruck der Verklärung“ in dem „gemarterten Gesicht“ und den Genuss der „endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit“ (100). Die Zuschauer scheinen davon überzeugt, dass dem Verurteilten, was auch immer er begangen haben mag, recht geschieht. Sie gehen davon aus, dass sein völliges Ermatten in der sechsten Stunde der Hinrichtung, dass er nämlich „still“ wird, ein Anzeichen dafür ist, dass ihm „Verstand“ aufgeht (vgl. 95), dass er also Einsicht in seine Schuld gewinnt und sich in die Bestrafung fügt. Und dieses unterstellte Schuldeingeständnis und die vermeintliche Kapitulation des Verurteilten verschaffen den Zuschauern Genugtuung. Sie genießen wie Sonnenbadende, dass damit „endlich … Gerechtigkeit“ erreicht sei (100).

In diesem Ziel des Strafverfahrens lässt sich der – von den obersten Gerichten nicht besonders genannte – Zweck der Sühne erkennen. Mustergültig beschrieben hat diesen Strafzweck Papst Pius XII. in seiner Abhandlung „Schuld und Strafe“ von 1954. „In Rechnung zu setzen“ sei unter dem Gesichtspunkt der Schuld insbesondere „die habituelle und aktuelle Willensintensität, die sogenannte ´verbrecherische Energie´, die bei der Schuld-Tat zum Einsatz gebracht worden ist“ (Pius XII., 186). Daher beziehe sich die Strafe in diesem Sinne „nicht auf die Schuld-Tat, sondern auf den Täter, auf dessen Person, dessen Ich, das in bewusster Selbstentscheidung die Schuld-Handlung vollzogen hat“; und ebenso gehe hier „die Bestrafung nicht aus von einer gleichsam abstrakten Rechtsordnung, sondern von der konkreten Person des Trägers der rechtmäßigen Autorität“; die Bestrafung sei ebenso wie die vorausgegangene „Schuld-Handlung … Frontstellung von Person gegen Person“ (Pius XII., 187). Sie sei eine „Vergeltungsstrafe“ (Pius XII., 188) und zu ihr gehöre als „Hauptsache“ die „Funktion der Buße“ (Pius XII., 190) Die schuldhafte Tat habe „in der Person des Schuldigen etwas aufgezeigt, was mit dem Gemeinwohl und dem geordneten Zusammenleben nicht in Einklang steht“; und dieses etwas solle nun wie durch einen ärztlichen Eingriff „aus dem Schuldigen entfernt“ werden; und dies könne „sehr schmerzlich sein …, zumal, wenn nicht nur die Symptome, sondern die Ursache der Krankheit selbst getroffen werden soll“ (Pius XII., 189). Diese Aufgabe erfülle die Strafe, „indem sie den Schuldigen … zu einem Leiden zwingt“; und mit diesem Leiden sei „ein Hinwenden des Geistes vom Äußerlichen zum Inneren“ verbunden. In der „willigen Hinnahme des Strafleidens“ und vor allem „in der Abkehr von der Schuld“ liege das „Wesen der Umkehr zum Guten“ (Pius XII., 187). „Eine so getragene Strafe wird für den Schuldigen auf dieser Erde eine Quelle innerer Läuterung, vollständiger Umkehr, der Kraft für die Zukunft, des Schutzes gegen jeden Rückfall.“ (Pius XII., 188) Papst Pius XII. war bewusst, dass die „Mehrheit der modernen Theorien des Strafrechts“ es ablehnt, „die Buße für das begangene Verbrechen … als Hauptfunktion der Strafe anzusehen“ (Pius XII., 189). Aber auch heute ist die Reue des Täters ein Zweck der Strafe und ein Kriterium für seine Bewährung in der Haft.

      c. Der Teufelskreis der Rache

Der Forschungsreisende glaubt wahrscheinlich nicht an die innere Läuterung des Verurteilten durch die Tortur der Zerstichelung, jedenfalls lehnt er sie als Mittel zum Zweck ab. Die Aufforderung des leitenden Offiziers: „helfen Sie mir gegenüber dem Kommandanten!“ (104), weist er mit einem klaren „Nein“ zurück und erklärt: „Ich bin ein Gegner dieses Verfahrens“ (107). Hierin dürfte die Leserschaft mit ihm ganz einig sein, und es hat wohl kaum der drastischen Ausmalung des Exekutionsverfahrens mittels der phantastischen Maschine bedurft, sie zur Ablehnung solch qualvoller Strafen und mörderischer Verfahren zu bringen. Kafkas Geschichte nimmt aber eine überraschende Wende und zeigt, dass durch die Instrumentalisierung des Verurteilten zur Erbauung der Gesellschaft auch der die Exekution leitende Offizier und Richter und sogar die Gesellschaft zu Opfern werden.

Als der Offizier an den reservierten Reaktionen des Forschungsreisenden dessen Ablehnung des demonstrierten Verfahrens ablesen muss, verlegt er sich darauf, mit dessen kultureller Prägung zu argumentieren. Er, der Reisende, sei „in europäischen Anschauungen befangen“ und „vielleicht … ein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe“ (102). Hier in der Strafkolonie aber sei er nur ein Werkzeug des neuen Kommandanten, um „alte Einrichtungen zu bekämpfen“ (97): „man ist feig und schickt Sie, einen Fremden, vor“ (99) Da der Forschungsreisende sicher schon „viele Eigentümlichkeiten vieler Völker gesehen und achten gelernt“ habe, werde er sich womöglich gar nicht einmal „mit ganzer Kraft,“ wie er es in seiner Heimat tun würde, „gegen das Verfahren aussprechen“ (102), aber aufgrund seiner bereits gefassten Absicht bedürfe der Kommandant dessen auch gar nicht: „Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort genügt. Es muss gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn es nur scheinbar seinem Wunsche entgegenkommt.“ Das könnten etwa Aussagen sein wie „Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhört“ oder „Bei uns erfährt der Verurteilte das Urteil“ oder etwa „Bei uns gibt es auch andere Strafen als Todesstrafen“ oder „Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter“. (102) Der Kommandant werde solche Aussagen aber ausschlachten und zu der Erklärung ummünzen: „Ein großer Forscher des Abendlandes, dazu bestimmt, das Gerichtsverfahren in allen Ländern zu überprüfen, hat eben gesagt, dass unser Verfahren nach altem Brauch ein unmenschliches ist.“ (102/103) Noch wage es der neue Kommandant nicht, gegen ihn, den leitenden Offizier, einzuschreiten (101), aber der Forschungsreisende kenne den Kommandanten nicht und stehe „ihm und uns allen … gewissermaßen harmlos gegenüber“ (103/104).

Der Horizont des leitenden Offiziers ist also nicht so beschränkt, wie man bisher meinen konnte, sondern er kennt andere Formen und die Geschichte der Strafgerichtsbarkeit. Sein Interesse ist allerdings, im innenpolitischen Machtkampf nicht zum Opfer des neuen Kommandanten zu werden. Als der Forschungsreisende ihm nun seine Unterstützung – sei es durch bloßes Stillschweigen (vgl. 106) – versagt, gibt der Offizier diesen Kampf verloren. „Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt“, stellt er fest und lächelt, „wie ein Alter über den Unsinn eines Kindes lächelt“ (108). Er sagt, „Dann ist es also Zeit“, gibt Befehl, den Verurteilten aus der Maschine zu befreien, spannt den neuen Befehl „Sei gerecht!“ in den Zeichner und entkleidet sich, um sich selbst auf das ´Bett´ unter die ´Egge´ zu legen. (109) Die Entkleidung vollzieht er als Degradierung. Er behandelt „jedes Kleidungsstück sehr sorgfältig“ und wirft es schließlich „mit einem unwilligen Ruck in die Grube“. Seinen Degen zerbricht er und wirft ihn mit Scheide und Tragriemen hinterher. (110) Offenbar unterwirft er sich dem neuen Regime, erkennt dessen Vorwurf, ungerecht gerichtet zu haben, als Urteil an und meint seinem Prinzip „Die Schuld ist immer zweifellos“ gemäß hingerichtet werden zu müssen. Er beherzigt die zur Programmierung des Schreibers vorhandene Anweisung „Sei gerecht!“ also nicht grundsätzlich, sondern erst auf den Vorwurf des neuen Kommandanten hin, und die alte Praxis der Rechtsdurchsetzung behält er bei.

Der Verurteilte, der sich mit seinem Wächter bis jetzt um zwei ihm geschenkte Damentaschentücher gestritten hat, wird jetzt, als der Offizier vollständig nackt dasteht, „von der Ahnung irgendeines großen Umschwungs getroffen … Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier. Vielleicht würde es so bis zum Äußersten gehen. Wahrscheinlich hatte der fremde Reisende den Befehl dazu gegeben. Das war also Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er doch bis zum Ende gerächt. Ein breites lautloses Lachen erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr.“ (111) Mit großem Interesse beobachtet der Verurteilte, wie die Egge auf dem Körper des Offiziers zu schreiben beginnt. Dem Reisenden ist das peinlich und er schickt ihn nach Hause. Doch dieser „empfand den Befehl geradezu als Strafe“ und „bat flehentlich mit gefalteten Händen, ihn hier zu lassen, und als der Reisende kopfschüttelnd nicht nachgeben wollte, kniete er sogar nieder.“ (112) Beide, der Offizier und der Verurteilte, halten also an ihrem Sühneverständnis der Strafe fest: Der Offizier will zur Aufrechterhaltung seiner Ehre den Tod erleiden, und der Verurteilte will die Genugtuung der Rache genießen.

Der Reisende wird dadurch von der gewaltsamen Umsetzung seines Befehls abgehalten, dass die Exekutionsmaschine plötzlich geräuschvoll ihre Arbeitsweise ändert: „Die Egge schrieb nicht, sie stach nur, und das Bett wälzte den Körper nicht, sondern hob ihn nur zitternd in die Nadeln hinein. Der Reisende wollte eingreifen, möglicherweise das Ganze zum Stehen bringen, das war ja keine Folter, wie sie der Offizier erreichen wollte, das war unmittelbarer Mord. … Da hob sich aber schon die Egge mit dem aufgespießten Körper zur Seite, wie sie es sonst erst in der zwölften Stunde tat. … Und nun versagte noch das Letzte, der Körper löste sich von den Nadeln nicht, strömte sein Blut aus, hing aber über der Grube, ohne zu fallen.“ (113f.) Fast gegen seinen Willen sieht der Reisende das Gesicht der Leiche. An ihm ist aber „kein Zeichen der versprochenen Erlösung … zu entdecken; was alle anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht; die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren offen, hatten des Ausdruck des Lebens, der Blick war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels“. (114) Zu der vom Publikum der Exekutionen unterstellten Schulderkenntnis kommt der Offizier also nicht. Die Ungerechtigkeit seines bisherigen richterlichen Handelns wird ihm nicht klar. Die Exekutionsmaschine wird durch den Befehl „Sei gerecht!“ so programmiert, dass sie den Delinquenten sofort umbringt.

       d. Die Sinnlosigkeit der Sühnestrafe

Eine Mordmaschinerie erzieht also nicht zur Gerechtigkeit, und Exekutionen stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zum Vergehen, sondern befriedigen nur den Rachedurst der Kläger und den dunklen Wunsch der Öffentlichkeit nach Vergeltung. Sühne als angemessene Schädigung und aufrecht empfundene Reue des Täters sind keine vernünftigen Strafziele. Das Sühnestrafrecht schädigt vielmehr eine Gesellschaft so nachhaltig, dass seine Praxis nicht bruchlos in ein System ohne Todesstrafe überführt werden kann. Die Öffentlichkeit wird erwarten, dass die mörderischen Richter des alten Systems nicht einsichtiger behandelt, sondern ihrerseits ermordet werden.

Als der Forschungsreisende die Hinrichtungsstätte verlässt und sich zum Hafen begibt, um abzureisen, folgen der Verurteilte und sein Wächter ihm. Er „befand sich erst in der Mitte der langen Treppe, die zu den Booten führte, als sie ihm schon nachliefen. Sie wollten wahrscheinlich den Reisenden im letzten Augenblick zwingen, sie mitzunehmen.“(116) Obwohl der neue Kommandant die Gerichtsbarkeit seines Vorgängers abschaffen will und dessen Verehrung als lächerlich empfunden wird (116), weil dieses Verfahren in der „Kolonie keinen offenen Anhänger mehr“ hat (99), sehen der Verurteilte und sein Bewacher keine sichere Zukunft für sich in der Kolonie. Der Forschungsreisende will sie aber nicht mitnehmen. Vermutlich glaubt er nicht, dass aus ihnen Mitglieder einer zivilisierten Gesellschaft werden können. Als sie an der Kaimauer ankamen, „war der Reisende schon im Boot, und der Schiffer löste es gerade vom Ufer. Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres, geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab“ (116).

       e, Zur Bedeutung der Parabel

Die Bildlichkeit dieses Textes ist semantisch nicht weit von der natürlichen Beschreibung des gemeinten Sachverhalts entfernt. Die Figuren haben realistische Rollen. Ungewöhnlich ist, dass der die Exekution leitende Offizier zugleich Richter ist. Das mag der Übergangssituation von der Herrschaft des alten zu der des neuen Kommandanten geschuldet sein. Zu Lebzeiten vereinigte der alte Kommandant diese Ämter in seiner Person (vgl. 100), und das entspricht der Machtvollkommenheit eines Militärgouverneurs. Ganz ungewöhnlich ist natürlich auch die Rechtslage, dass das Gesetz in einer Sammlung von Befehlen, die der alte Kommandant in einer Ledermappe gesammelt hat, und dem Prinzip „Die Schuld ist immer zweifellos“ besteht. Die Rechtsprechung hat keine feste Form, wenn der Richter-Offizier bei Anklage den seines Erachtens passenden Befehl heraussucht und dieser dem Delinquenten ohne jede Begründung oder Verteidigung auf den Leib geschrieben wird. Dieses ganz unrealistische Gerichtsverfahren dient dazu, den Zweck der Bestrafung in nichts als der Sühne zutage treten zu lassen, und macht es unmöglich, die Geschichte etwa als Novelle, d.h. eine Erzählung einer ungewöhnlichen, aber interessanten Begebenheit zu verstehen. Dieses zentrale Bildelement repräsentiert vielmehr den noch heute mit der Strafe verbundenen Aspekt der Sühne und bezieht sich auf die Vielzahl aller möglichen Fälle.

Die Exotik des Schauplatzes, dass das Verfahren sich in einer fernen Kolonie abspielt, ist ironisch zu verstehen. Das Gegenteil ist der Fall. Läuterung und Genugtuung werden in Österreich-Ungarn und noch 1954 von Papst Pius XII. als Strafzwecke betrachtet. Friedrich Nietzsche hat dieses Strafverständnis dafür kritisiert, dass es aus dem niederen Motiv der Rache entspringe: „Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. … Die ganze Lehre vom Willen … wurde wesentlich erfunden zu Zweck der Strafe. … Weder Strafe noch Lohn sind etwas, das einem als das Seine zukommt, sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte.“ (Nietzsche, 193f.) Nietzsche hatte um die Jahrhundertwende großen Einfluss auf die junge Dichtergeneration und auch Kafka kannte seine Schriften. (vgl. Stach I, 217f.) In der nächtlichen Diskussion, durch die er als Student seinen Freund Max Brod kennen lernte, verteidigte er Nietzsches Kritik an Schopenhauer gegen Brods Einwände. (vgl. Stach I, 240), und setzte er die Nietzsche-Lektüre während seines Studiums fort (Stach I, 281). Bis zu dessen Wechsel nach Graz 1905 belegte Kafka bei dem progressiven Strafrechtler Prof. Hans Gross Vorlesungen über „Materielles Strafrecht“, über den „Österreichischen Strafprozess“ und zur „Geschichte der Rechtsphilosophie“. (Stach I, 330)

Als Rechtsvertreter der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt war Kafka später für beitragssäumige Firmen ein schwieriger Gegner, „nicht nur seiner Eloquenz und seines Fachwissens wegen, sondern vor allem auch deshalb, weil er mit seiner sanften Beharrlichkeit kaum Angriffspunkte bot“ (Stach II, 322); er entschärfte Einwände, indem er sie vorwegnahm, und er vermied die Eskalation von Konflikten, indem er die Verstöße der Firmen gegen die Versicherungsbestimmungen nicht als schuldhafte Sünden formulierte, sondern auf die Umstände zurückführte, unter denen sie produzierten (vgl. Stach II, 324). Mit den Produktionstechniken war Kafka durch seine Gutachtertätigkeit bei ihrer Einstufung in Risikoklassen vertraut. Regelmäßig sind Texte durch Kafkas Hände gegangen, in denen umfassend über Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit dem Einsatz von Maschinen berichtet wurde. (Hermsdorf, 89f.) Besonders eingehend hat er sich mit der Gefährlichkeit von Holzhobelmaschinen befasst, deren Bauweise er analysierte, um Unfallverhütungsmaßregeln für ihren Einsatz aufzustellen. Er fordert, statt der Vierkanthobelwelle die runde Sicherheitswelle einzusetzen, da bei dieser nicht mehr der Verlust ganzer Finger, sondern allenfalls die Verletzung der Fingerkuppen zu befürchten sei. (Hermsdorf, 135) Der Text war Bestandteil des „Berichts der Arbeiter-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag über ihre Tätigkeit während der Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1909“, und Kafka hat sich sowohl Max Brod als auch Felice Bauer gegenüber als Verfasser bezeichnet. (Hermsdorf, 427) Vorübergehend arbeitete er auch in der Unfallabteilung, wo Betroffene von Arbeitsunfällen oder deren Angehörige den Sachbearbeitern gegenübersaßen und über die Finanzierung medizinischer Maßnahmen, Entschädigungen oder Renten entschieden wurde. Durchschnittlich sechzig Fälle täglich wurden gemeldet. (Stach I, 393) Kafka wurde als „Referent für Unfallschutz und Erste Hilfe“ geführt und nahm in dieser Funktion an einem Kongress in Wien teil. (Stach I, 395)

Da „In der Strafkolonie“ bei Beginn des Ersten Weltkrieges entstanden ist, liegt die Vermutung nahe, von Kafka seien Berichte über den Einsatz der ersten modernen Massenvernichtungswaffen wie Maschinengewehre, Haubitzen oder Flugzeuge verarbeitet worden und er wolle diese Kriegsführung brandmarken. Kafka war durchaus bewusst, dass seine Erzählung in Bezug auf diese Ereignisse „als entschieden ´zeitgemäße Betrachtung´ gelesen werden konnte“, aber „das Denken in politischen Begriffen“ war ihm „fremd“ (Stach III, 152). Die Parabel hat nicht die kriegerische Gewaltanwendung zum Thema, sondern die Mordmaschine ist ein Bildelement zur Darstellung der Erwartungen von Reue und Sühne, wie sie auch an ihn gerichtet worden sind. Ein Vierteljahr vor Entstehung des Textes hat am 12. Juli 1914 der von Kafka so genannte „Gerichtshof im Hotel“ gegen ihn stattgefunden: Die Freundin von Felice Bauer Grete Bloch hatte versucht, die Distanz, die zwischen Felice und Franz nach ihrer ersten Begegnung in Prag am 13. August 1912 immer wieder auftrat, abzubauen. Und tatsächlich verlobten sich Felice Bauer und Dr. Franz Kafka nach einem 21 Monate dauernden Briefwechsel am 1. Juni 1914 offiziell. In dem von Grete Bloch ohne Kenntnis Felices geführten eigenen Briefwechsel mit Kafka hatte sie erfahren, in welch hohem Maße Kafka sein literarisches Arbeiten durch eine mögliche Ehe bedroht sah, dass er sich eine Rolle als Familienvater nicht vorstellen könne, und dass er die Familie Bauer „am liebsten vergessen würde“ (Stach II, 502). Erst sechs Wochen nach der Verlobung kommt Kafka wieder nach Berlin. Felice hatte ihn um ein Treffen im „Askanischen Hof“ gebeten. Als er eintrifft, wird er in einen Nebenraum geführt, in dem ihm Felice, ihre Schwester Erna und Grete Bloch gegenübersitzen. Felice zieht einen Brief Kafkas an Grete aus der Handtasche und diese erklärt, dass sie nach allem, was Kafka ihr mitgeteilt habe, verpflichtet gewesen sei, ihre Freundin vor der Hochzeit zu warnen. Felice will Klarheit über Kafkas ständige Vorbehalte haben. Sie fühlt sich gekränkt und ist wütend, „wird aggressiv, sagt Worte von schonungsloser Offenheit, spricht Intimes an, ohne Rücksicht auf die Zeuginnen“ (Stach II, 503). Kafka aber kann die geforderte Erklärung nicht geben. „Was in 350 Briefen nicht gelungen ist, lässt sich in ein paar Sätzen nicht nachholen, und vor Zeugen schon gar nicht. … Kafka beginnt, sie zu beobachten. … Er hört nicht mehr recht hin. Felice wartet. Hat er nicht doch noch etwas vorzubringen? Offenbar nicht. Dann bleibt wohl nichts übrig, als das Urteil zu verkünden: Auflösung der Verlobung. Es wird keine Hochzeit geben.“ (Stach II, 504)

Kafka war schockiert, aber erleichtert. Einige Tage später fährt er an die Ostsee in den Urlaub und schreibt seinem Freund Max Brod: „Ich bin entlobt …; im Übrigen weiß ich genau, dass es so am besten ist, und bin also dieser Sache gegenüber, da es eine so klare Notwendigkeit ist, nicht so unruhig wie man glauben könnte“. (zit. nach Safranski, 106) Im Rückblich scheinen ihm die Schuldzuweisungen an ihn verständlich, aber wenig hilfreich. Als Felice nach einem Vierteljahr zur Herstellung einvernehmlicher Verhältnisse telefonisch Kontakt zu ihm aufnimmt, kommentiert Kafka auf 20 Briefseiten die Ereignisse im „Askanischen Hof“: „Weil Du das was Du hörtest und sahst, nicht glauben konntest, dachtest Du es wäre Unausgesprochenes vorhanden. Du konntest nicht die Macht einsehen, die meine Arbeit über mich hat …, aber da mein Kopf (auch in seinen Schmerzen und gerade heute) der alte geblieben ist, hat es ihm an Gedanken und Träumen, die von Dir gehandelt haben, nicht gefehlt … Es waren und sind in mir zwei, die mit einander kämpfen. … Und … doch könnten beide Dir gehören, nur ändern kann man nichts an ihnen, ausser man zerschlägt beide.“ (zit. nach Stach II, 576f.) Kafka weist jetzt alle Schuld von sich und führt die Ereignisse auf ihrer beider unabänderliche Bedürfnisse und Fähigkeiten zurück. Zu Reue und einer Bitte um Entschuldigung ist er nicht bereit. Und das ist ganz im Sinne der Parabel: Der Wunsch nach Reue und Genugtuung entspringt nur einem dunklen Rachebedürfnis. Vermeintlich böse Taten ergeben sich aus den Veranlagungen der Akteure und ihren Umständen und sind nicht wiedergutzumachen.

Ganz gelingt es aber auch Kafka nicht, auf Vorwürfe zu verzichten. Als Grete Bloch ihm Mitte Oktober schreibt und sich wohl neuerlich als Mittlerin zu Felice anbietet, um den Schaden ihres Vertrauensbruchs im „Askanischen Hof“ zu beheben, antwortet er: „Es überrascht mich nicht, dass Sie mir schreiben. … Sie sagen zwar, dass ich Sie hasse es ist aber nicht wahr … und nicht nur deshalb, weil ich kein Recht dazu habe. Sie saßen zwar im Askanischen Hof als Richterin über mir – es war abscheulich für Sie, für mich, für alle – aber es sah nur so aus, in Wirklichkeit sass ich auf ihrem Platz und habe ihn bis heute nicht verlassen.“ (zit. nach Stach II, 578) Trotz oder gerade wegen seiner lebenslangen Zurückhaltung anderen gegenüber verwahrt sich Kafka gegen jede Beurteilung seiner Person. Es kommt zu einer neuerlichen Annäherung zwischen ihm und Felice. Den Versuch der Zweisamkeit aber geben sie auf, und Kafka beendet die Beziehung ganz, als ihm die Schwere seiner Tuberkuloseerkrankung klar wird.

  1. Der Prozess“

Nicht so klar wie bei „In der Strafkolonie“ ist der Ablauf der Ereignisse in Kafkas unvollendetem Roman „Der Prozess“. Das liegt auch daran, dass Kafka seine bisherige lineare Arbeitsweise fallen ließ und stattdessen in mehreren Heften an verschiedenen Kapiteln des Romans abwechselnd arbeitete. Die so entstehenden verschiedenen Episoden in einen Zusammenhang zu bringen, gelang Kafka nicht zu seiner Zufriedenheit; und es war erst sein alter Freund Max Brod, der die handschriftlichen Teile – 161 meist beidseitig beschriebene Blätter – in eine zu vermutende Reihenfolge brachte, an den Übergängen glättete und posthum 1925 als Roman veröffentlichte. Der Kafka-Biograph Reiner Stach meint aber, dass heute, „da es jedem freisteht, die kostbaren Originalblätter als Faksimiles zu betrachten, … unschwer zu erkennen“ sei, „dass Brod gute Arbeit leistete“. (Stach II, 539)

Erstaunlich an dem Roman ist zunächst, dass er zehn Jahre vor Kafkas Tod im Ersten Weltkrieg entstand, ohne irgendwelche Bezüge zu ihm aufzuweisen. Kafka war nicht kriegsbegeistert, aber von der Welle des Nationalismus erfasst und bereit einzurücken. Bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung, der auch die Versorgung der heimkehrenden Kriegsversehrten zugewiesen wurde, brauchte man ihn aber, und seine Vorgesetzten ließen ihn für unabkömmlich erklären. Kafka beschloss, sich in schriftstellerische Arbeit zu retten. Am 15. August 1914 notierte er in sein Tagebuch: „Ich schreibe seit ein paar Tagen, möchte es sich halten …, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechtfertigung“ (nach Stach II, 542). Seine Sorge um die Fähigkeit zu schreiben überlagerte auch das Wissen um den Krieg.

       a. K. und sein Es

Die oberflächlich zu erfassende Handlung des Romans wird oft folgendermaßen skizziert: Dem Prokuristen einer Bank wird eines Morgens – vor dem Aufstehen – mitgeteilt, er sei verhaftet. Er erfährt aber nicht, aufgrund welchen Vergehens. Alle Versuche, über Mittelspersonen Auskunft über den Stand seines Falles vor Gericht zu erhalten, scheitern. Auch ein engagierter hochkarätiger Anwalt erzielt keine Fortschritte. Beziehungen zu Frauen, von denen er sich Beistand erhofft, bleiben flüchtige Episoden. Am Abend seines 31. Geburtstags wird er von zwei Henkern abgeholt und in einem Steinbruch hingerichtet.

Diese Inhaltsangabe umfasst gleichermaßen äußeres Geschehen wie Gedanken des Protagonisten. Der erste Satz des Romans lautet: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (7) Hier wird durch Gedankenspiegelung in der dritten Person eine Vermutung wiedergegeben, nämlich die der Perspektivfigur, zu Unrecht beschuldigt worden zu sein. Ob sie und die nachfolgenden Beobachtungen zutreffen oder nicht, bleibt offen. Die Bezeichnung dieser Figur aber als „Josef K.“ erfolgt nicht aus ihrer Sicht, sondern durch einen allwissenden Erzähler. Als Bestandteil eines gespiegelten inneren Monologs müsste es lauten: ´Jemand musste ihn verleumdet haben´. In unseren Gedanken nennen wir uns selbst nicht beim Namen. Darüber hinaus ist die Verwendung von Kürzeln ein beliebtes Instrument allwissenden Erzählens: Zu Beginn von Novellen wird damit der Eindruck erweckt, die betreffende Person müsse durch Anonymisierung geschützt werden, existiere folglich wirklich.

In der fiktionalen Realität haben wir also einen Josef K. vor uns, der zumindest den Eindruck hat, verhaftet zu sein. Dass dies ein bloßer Eindruck, also eingebildet ist, erkennt man an dem Ansatz einer Erklärung für sein Erschrecken: „Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen.“ (7) Eine Unregelmäßigkeit in seinem sonst sehr pünktlichen Tagesablauf scheint Josef also verstört zu haben. Er liegt noch im Bett und bleibt vorläufig auch dort, statt nachzufragen, wo sein Frühstück bleibt, oder es sich selbst in der Küche abzuholen. Er „wartet noch ein Weilchen“, schaut aus dem Fenster, wobei er den Eindruck hat, dass die im Haus gegenüber wohnende alte Frau, die er durchaus kennt, ihn beobachtet. (7) Warum sollte sie das tun? Ist heute etwas außergewöhnlich bei Herrn K.? „(D)ann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läute(t) er“ schließlich doch, und „(s)ofort“ klopft es, und, ohne das ´Herein´ Ks abzuwarten, tritt ein ihm ganz unbekannter Mann in einem Anzug ein, der „ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien.“ (7) Über Ks Frage, wer er sei, geht der Mann hinweg, beruft sich auf Ks Klingeln und erklärt ihm nach Rücksprache mit einem weiteren Mann im Nebenzimmer, dass er sein Frühstück nicht bekommen könne. (7) „´Das wäre neu´“, entgegnet K., steht auf und zieht seine Hosen an, um nachzusehen, wer nebenan ist. Es ist das Wohnzimmer der Vermieterin, das auch als Speisezimmer der Mieter dient. „Im Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat, als er wollte, sah es auf den ersten Blick fast genauso aus wie am Abend vorher“; allerdings war dort „vielleicht … heute ein wenig mehr Raum als sonst, man erkannte das nicht gleich“. (8) Nicht nur die Handlung, sondern sogar die Szenerie ist ganz unrealistisch. Zimmer vergrößern sich nicht. Josef bildet sich das nur ein.

Im Wohnzimmer sitzt ein Mann mit einem Buch, offenbar der Vorgesetzte des ersten, und er erklärt Josef nun, dass er verhaftet sei und nicht weggehen dürfe. Die beiden machen sich über Ks Frühstück her, schlagen ihm vor, sich auf eigene Kosten eines aus einem benachbarten Cafe´ kommen zu lassen, und bieten ihm an, seine Kleidung an sich zu nehmen, da er ja nächstens – vermutlich meinen sie im Gefängnis – schlechtere Kleidung werde tragen müssen. Auskünfte darüber, ob und wessen K. angeklagt ist, können sie nicht geben, und dennoch sprechen sie von einem „großen, verfluchten Prozess“, vor dem K. stehe, und davon, dass die „Behörde“, für die sie arbeiten, „von der Schuld angezogen“ werde. (12) K. ist überzeugt, dass von einem rechtsstaatlichen Verfahren vor einem ordentlichen Gericht in seinem völlig unklaren Fall nicht die Rede sein kann. (10) Er zieht sich in sein Zimmer zurück, frühstückt einen am Abend zurückbehaltenen Apfel und wundert sich, dass man ihn alleinlässt. Er könnte sich doch umbringen. Schließlich trinkt er zwei Gläschen Schnaps. (14)

Plötzlich „erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig, dass er mit den Zähnen ans Glas schlug. ´Der Aufseher ruft Sie!´“ Durch das Wohnzimmer muss er in das nächste gehen, das – wie er weiß – seit kurzem von der Schreibkraft Fräulein Bürstner bewohnt wird. „Jetzt war das Nachttischchen vor ihrem Bett als Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt, und der Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles gelegt.“ (16) Er lässt sich bestätigen, dass Josef Josef K. ist, fragt ihn, ob er überrascht von den Vorgängen dieses Morgens sei, erklärt ihn förmlich für verhaftet und ermahnt ihn: „denken Sie weniger an uns, …, denken Sie lieber mehr an sich“. (17) An der Klinke des offen stehenden Fensters hängt eine weiße Bluse von Fräulein Bürstner, und drei von K. zunächst nicht erkannte jüngere Männer schauen sich Fotos der Bürstner an einer Pinnwand an. Der Aufseher erklärt, dass es „für heute genug“ sei und K. jetzt zur Arbeit in die Bank gehen könne. Damit seine verspätete Ankunft dort nicht auffällt, habe er die drei Herren kommen lassen. K. wundert sich, jetzt doch gehen zu dürfen, und der Aufseher erklärt, die Verhaftung solle ihn nicht an der Ausübung seines Berufes und an seiner gewöhnlichen Lebensweise hindern. (20) Den von K. angebotenen versöhnlichen Händedruck lehnt der Aufseher ab. K. erkennt in den drei Herren „untergeordnete Beamte aus der Bank“ und fährt mit ihnen in einem herbeigerufenen Taxi zur Arbeit.

Wie wir später erfahren, imaginiert K. mit dem Zimmer der Bürstner als Raum des Verhörs den Ort seines Sündenfalls. Als er am Ende des Romans von zwei wie Bestattungsgehilfen aussehenden Männern zum Hinrichtungsort abgeführt wird, steigt „vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf einer kleinen Treppe Fräulein Bürstner zum Platz empor“; K. ist sich „nicht ganz sicher, ob sie es war“, aber die „Ähnlichkeit war … groß. K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zu Bewusstsein.“ (219) K. hat offenbar erotische Wünsche in Bezug auf Fräulein Bürstner. Die am Fenster hängende weiße Bluse weist darauf hin. Und diese verursachen ihm Gewissensbisse.

Seine Wirtin Frau Grubach scheint zu wissen, dass er mehrfach ins Zimmer von Fräulein Bürstner eingedrungen ist und schlafwandlerisch ihre Sachen betrachtet hat. Als er sie am Abend des Tages seiner Verhaftung aufsucht, um in Erfahrung zu bringen, was sie davon mitbekommen hat, versteht sie nicht ganz, wovon er spricht. Über seine Erwähnung von Männern, die bei ihm waren, scheint sie sich zu wundern, denn sie kommentiert sie nur mit „´Ach so´“ (24) Seine Beteuerung, dass dergleichen nicht wieder vorkommen werde, wiederholt sie aber „bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an“, also so, als sei von einem leidigen Laster Ks die Rede. (24) K. bezieht diese Reaktion auf seine Verhaftung und phantasiert den Aussagen der Grubach Verständnis bekundende Worte hinzu: Er sei nicht verhaftet wie ein Dieb, sondern seine Verhaftung habe „etwas Gelehrtes“. (24f.) Tatsächlich spricht seine Zimmerwirtin aber weiter von seiner Schnüffelei bei der Bürstner und will ihn beruhigen. Er solle „es doch nicht so schwer“ nehmen; es sei nicht nötig, dass er sich bei ihr für die Inanspruchnahme ihres Zimmers entschuldige, denn das Fräulein wisse „ja von gar nichts“ und es sei – wie sie ihm zeigt – „auch schon alles in Ordnung gebracht“. (26) „Soweit man sehen konnte, war wirklich alles an seinem Platz, auch die Bluse hing nicht mehr an der Fensterklinke.“ (ebd.) Um sein Vergehen zu relativieren, nimmt K. die Erklärung von Frau Grubach, Fräulein Bürstner komme oft spät nach Hause, als Grund für eine Gegenbeschuldigung auf: „´Gewiss, gewiss´, sagte K., ´es kann aber auch zu weit gehen´.“ (26) Da Frau Grubach „die Pension rein zu halten sucht“, geht sie bekräftigend auf Ks Verdacht ein und kündigt an, mit dem Fräulein darüber zu sprechen. (27) Das aber möchte K. nicht, da es seine Kontaktaufnahme erschweren würde. Er warnt seine Wirtin, „´dem Fräulein irgendetwas zu sagen, … wenn Sie die Pension rein erhalten wollen, müssen sie zuerst mir kündigen.´“ (27)

Obwohl seine Wirtin alle Spuren beseitigt hat, wartet K. anschließend nervös auf Fräulein Bürstner, um sich dafür zu entschuldigen, dass ihr Zimmer durch seine „Schuld … ein wenig in Unordnung gebracht worden“ sei. (28f.) Als er sich endlich erklären kann, stellt das Fräulein fest, dass ihre Fotos „wirklich … durcheinandergeworfen“ sind, und bedauert, K. „etwas verbieten zu müssen, was (er) sich selbst verbieten“ müsste, „nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu betreten“. (30) Das weiß K. natürlich. Er berichtet ihr, was sich – seines Erachtens – zugetragen hat, und als sie sich wegen der Störung anderer Mieter durch ihr Gespräch Sorgen macht, will er sie mit einem Kuss auf die Stirn beruhigen. (33) Zum Abschied – sie ist in den gemeinsamen Flur vorausgegangen – küsst er sie „auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich“ küsst er sie „auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort“ lässt er „die Lippen lange liegen“. (34) K. hat also unbewusste sehnliche Wünsche nach weiblicher Zärtlichkeit, Sex und Geborgenheit, unterdrückt diese aber mit der Folge ausufernder Schuldphantasien, um seinen Posten als Prokurist ausfüllen und sein kleinbürgerliches Leben bei Frau Grubach aufrechterhalten zu können.

An drei weiteren Stellen im Roman entwickelt K. ausgedehnte erotische Phantasien, bevor er sich endgültig in die Ausmalungen seiner Schuldgefühle und seiner Auseinandersetzung damit verstrickt. Seine Überzeugung, dass ein Prozess gegen ihn in Vorbereitung ist, wirkt sich auf sein Verhalten aus. Wie er meint, will das Gericht ja seine berufliche Arbeit nicht beeinträchtigen, und daher sieht er sich aufgefordert, sich am kommenden Sonntag zu einer kleinen Untersuchung in einem angegebenen Haus in einer ihm bisher unbekannten Vorstadtstraße einzufinden. Im fünften Stockwerk stößt er an der ersten Tür auf eine Frau, die eben mit der Wäsche beschäftigt ist, ihm aber ansieht, dass er nach etwas sucht, und ihn hereinbittet. „K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leute – niemand kümmerte sich um den Eintretenden – füllte ein mittelgroßes zweifenstriges Zimmer, das knapp unter der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stießen.“ (41f.) Ein kleiner Junge holt ihn an der Tür ab und führt ihn an dem den Eintritt kassierenden Mann vorbei zur Tribüne, wo er anscheinend schon erwartet wird. In einer kurzen Ansprache verteidigt sich K. in seiner Sache, wird aber von den beiden gegnerischen Parteien im Saal nicht verstanden. Plötzlich schreit jemand am Eingang auf und K. sieht, wie die dunkelhaarige Wäscherin sich gegen einen gewalttätigen Mann verteidigt. Eine Gruppe alter Männer hindert ihn daran einzuschreiten und bedrängt ihn so, dass er sich mit Drohungen zum Ausgang durchschlägt, wo der Untersuchungsrichter ihn abfängt und ihm vorwirft, sich eine Chance zur Aufklärung verbaut zu haben. (50ff.)

Als K. dem Ereignis am nächsten Wochenende auf den Grund gehen will, findet er die dunkelhaarige Wäscherin schnell wieder. Sie erklärt ihm, dass heute keine Sitzung sei, und zeigt ihm zum Beweis den leeren Saal. Aber sie bietet ihm zu seiner Überraschung an, dem Untersuchungsrichter etwas auszurichten. Dazu sei sie in der Lage, da sie ja die Frau des Gerichtsdieners sei. K. erklärt ihr, dies kaum glauben zu können, da sie ja am letzten Sonntag von einem anderen Mann umarmt worden sei. Ja, gesteht sie, das sei ein Student gewesen, der ihr schon lange nachstelle und gegen den sie und ihr Mann letztlich nichts unternehmen könnten, weil er dereinst sicher sehr mächtig sein werde und sie die Anstellung ihres Mannes nicht gefährden wollten. (53f.) Die Wäscherin macht K. Komplimente, und auch er gesteht ihr, dass sie ihm gefällt, aber sie gehöre nun einmal zu der Gesellschaft, die er bekämpfen müsse, denn sie liebe ja sogar diesen Studenten oder ziehe ihn ihrem Manne vor. (56) Dafür könne sie nichts, erklärt die Frau, vielmehr habe der Untersuchungsrichter ein Auge auf sie geworfen, ihr sogar seidene Strümpfe als Geschenk zukommen lassen, und eben jetzt lasse er sie wieder von dem Studenten zu sich holen, und das müsse sie sich eben gefallen lassen. „Aber ich komme gleich zurück, und dann gehe ich mit ihnen, wenn sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin sie wollen, Sie können mit mir tun, was sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer.“ (59) „Die Frau verlockte ihn wirklich. … Und es gab vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als dass er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm.“ Dann würde der Untersuchungsrichter das Bett leer finden, weil „dieser üppige, gelenkige, warme Körper im dunklen Kleid aus grobem schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte.“ (60)

Aber die dunkeläugige Wäscherin lässt sich von dem vermeintlichen Studenten sehr bereitwillig wegtragen, und K. sieht sich getäuscht und gekränkt: „´Es hilft nichts, der Untersuchungsrichter lässt mich holen, ich darf nicht mit Ihnen gehen, dieses kleine Scheusal´, sie fuhr hierbei dem Studenten mit der Hand übers Gesicht, ´dieses kleine Scheusal lässt mich nicht.´“ (61) Immerhin meint K. aber zum Untersuchungsrichter zu finden, wenn er dem Studenten folgt. Dabei stößt er auf den Ehemann der Wäscherin, den vermeintlichen Gerichtsdiener, auf alte Männer, die er für Mitangeklagte hält; er verirrt sich auf den Dachböden der Häuser und gelangt schließlich erst mithilfe einer jungen Frau erschöpft ins Freie.

Zu Hause, in der Wohnung der Frau Grubach versucht K. schon seit seiner Verhaftung auf die verschiedenste Weise an Fräulein Bürstner heranzukommen, um ihr seine wohlmeinende Einstellung zu erklären. Er steht eine Stunde früher auf, um sie auf dem Weg ins Büro abzufangen, und am Abend lässt er seine Tür zum Flur offen, um zu sehen, wann sie nach Hause kommt. Schließlich schreibt er ihr Briefe, die sie aber nicht beantwortet. Eines Tages zieht dann überraschend eine Freundin zu Fräulein Bürstner, eine Französischlehrerin namens Montag, ein „schwaches, blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes Zimmer bewohnt hatte“ (77). Sie bittet K. um ein Gespräch und erklärt ihm sehr förmlich, dass ihre Freundin wohl wisse, worüber K. mit ihr sprechen wolle, und gerade daher überzeugt sei, „(d)ass es niemandem Nutzen bringen würde, wenn die Unterredung wirklich zustande käme.“ (82) Dennoch kann K. es nicht lassen, sich am Abend noch einmal in das Zimmer der Bürstner zu schleichen. Aber sie ist wieder nicht da, und zu seiner Pein wird er beim Verlassen von der Montag entdeckt.

Inzwischen musste wohl sein Onkel, der ehemals auch sein Vormund war, von der Verhaftung Ks gehört haben, denn ganz wie K. schon vor Wochen „zu sehen geglaubt“ hatte, drängt sich der Onkel eines Nachmittags zwischen zwei Dienern, die Akten bringen, in sein Büro. (92) Er ermahnt ihn, der Familie keine Schande zu machen (95), und erklärt ihm, er habe für ihn einen Termin bei einem ihm persönlich bekannten Rechtsanwalt gemacht, dem hoch angesehenen Advokaten Huld. Sie fahren in die Gegend der Gerichtskanzleien in der Vorstadt, klingeln an einem dunklen Haus, aber erst als sie energisch anklopfen, öffnet ihnen ein Stubenmädchen. „Es hatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die Stirnränder.“ (100) Während der Onkel Ks Fall schildert und der Advokat über die Schwierigkeiten klagt, bei Gericht Gehör zu finden, kann K. sich kaum noch konzentrieren und denkt an das Stubenmädchen. Plötzlich hört man vom Flur her ein Klirren. K. geht nachschauen, und als er noch die Türklinke in der Hand hält, legt sich eine viel kleinere Hand auf die seine und schließt die Tür behutsam. „Es war die Pflegerin, die hier gewartet hatte. ´Es ist nichts geschehen´, flüsterte sie, ´ich habe nur einen Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie herauszuholen.´ In seiner Befangenheit sagte K.: ´Ich habe auch an Sie gedacht´. ´Desto besser´, sagte die Pflegerin, ´kommen Sie.´“ Sie führt ihn zu einer Sitztruhe im Arbeitszimmer des Advokaten und stellt sich als Leni vor. K. „hatte nur noch Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an die Seitenlehne drückte“. (107) „´Sie sind zu unnachgiebig´“, wirft sie ihm vor. „´Wer hat das gesagt?´, fragte K., er fühlte ihren Körper an seiner Brust und sah auf ihr reiches, dunkles, fest gedrehtes Haar hinab. ´Ich würde zu viel verraten, wenn ich das sagte´, antwortete Leni …, gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht wehren, man muss das Geständnis machen.“ (109) Da sie sich so stark an ihn drängt, hebt K. sie schließlich auf seinen Schoß. „´So ist es gut´, sagte sie und richtete sich auf seinem Schoß ein. … ´Haben Sie eine Geliebte´, fragte sie nach einem Weilchen. ´Nein´, sagte K. ´O doch´, sagte sie. ´Ja, wirklich´, sagte K., ´denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Fotografie bei mir .´ Auf ihre Bitte zeigte er ihr eine Fotografie Elsas“, einer Kellnerin in einem Weinlokal, mit der er regelmäßig verkehrt. (109) Darauf fragt Leni, ob K. Elsa vermissen würde, wenn er sie verlöre, oder gegen sie eintauschen würde. K. antwortet, Elsa habe ihr gegenüber den Vorteil, nichts von seinem Prozess zu wissen und ihn nicht zum Nachgeben zu überreden, wenn sie davon wüsste. „´Das ist kein Vorteil´, sagte Leni. ´Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?´ ´Einen körperlichen Fehler?´, fragte K. ´Ja´, sagte Leni, ´ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.´ Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. … ´Was für eine hübsche Kralle!´“, staunt K. und bewegt die Finger in seiner Hand, bis er sie flüchtig küsst und loslässt. „Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schoß …, jetzt, da sie ihm so nahe war, ging ein bitterer aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biss und küsste seinen Hals, biss selbst in seine Haare. ´Sie haben mich eingetauscht´, rief sie von Zeit zu Zeit …, ´Jetzt gehörst Du mir.´ ´Hier hast Du den Hausschlüssel, komm wann Du willst´, waren ihre letzten Worte und ein zielloser Kuss traf ihn noch im Weggehen auf den Rücken.“ (110f.) Vor dem Haus wartet der Onkel in einem Auto auf K. und bringt ihn unter heftigen Vorwürfen, den Advokaten verärgert zu haben, nach Hause.

K. beschließt, seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, und fährt in die Vorstadt zu einem Maler, von dem er gehört zu haben meint, dass er für das Gericht arbeitet und gute Beziehungen zu bedeutenden Richtern pflegt. Der Maler soll in einer Dachkammer wohnen, zu der nur eine lange schmale Treppe hinaufführt. Beim mühsamen Aufstieg überholen K. einige Mädchen und er fragt das letzte von ihnen, ob der Maler Titorelli tatsächlich hier wohne, er wolle sich malen lassen. ´Malen lassen?´, fragte das Mädchen, „öffnete übermäßig den Mund schlug leicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas außerordentliches Überraschendes oder Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchen und lief, so schnell sie konnte, hinter den anderen Mädchen her“. (140f.) Als K. sich dem Ende der Treppe nähert, bilden die Mädchen ein Spalier, durch das sich K. zwängen muss. Sie machen auf K. den Eindruck einer „Mischung von Kindlichkeit und Verworfenheit“. (141) Titorelli hat die Kinder schon gehört und öffnet ein wenig die Tür, schließt sie schnell wieder, und als er sie erneut öffnet, lädt er K. mit tiefer Verbeugung ein, einzutreten. Die Mädchen hingegen wehrt er trotz aller ihrer Bitten auch mit Händen und Armen ab, es hat für K. aber „den Anschein, als ob alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe“. (142) Titorelli erklärt K., die Mädchen einmal gemalt zu haben und seitdem von ihnen verfolgt zu werden. Sie würden sich sogar unter seinem Bett verstecken, um ihn zu ärgern. Die Mädchen rufen laut, ob sie nicht hereinkommen dürfen. Die Älteste mit dem kurzen Rock bittet, wenigstens sie einzulassen, aber der Maler verweigert es und schließt ab. K. betrachtet die Bilder hoher Richter, an denen Titorelli arbeitet, und lässt sich von ihm erklären, wie man den Prozess zumindest heile überstehen kann, nämlich nicht nur mit einem wirklichen Freispruch, sondern vor allem durch einen scheinbaren Freispruch oder durch Verschleppung. Freisprüche kenne er nicht. Die Mädchen fragen nach, ob der Fremde nicht bald gehen wolle. K. kauft dem Maler aus Höflichkeit ein paar Bilder ab und lässt sich von ihm den Weg zu den Gerichtskanzleien zeigen. Als er geht, drängen die Mädchen in die Wohnung des Malers. K. hält erschöpft die erstbeste Droschke an, verscheucht den Fahrer vom Kutschbock, setzt sich selbst darauf und fährt zurück zur Bank. (163)

Seine vermeintlichen Einblicke in die Konstitution des Gerichts bringen K. auf den Gedanken, dem Advokaten Huld das Mandat zu entziehen und seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen. Da er aber befürchtet, das könnte Nachteile für ihn haben, will er Huld die Entziehung persönlich mitteilen und seine endgültige Entscheidung von dessen Reaktion abhängig machen, denn „so würde K., selbst wenn der Advokat sich nicht viel entlocken ließ, aus seinem Gesicht und seinem Benehmen alles, was er wollte, leicht entnehmen können. Es war sogar nicht ausgeschlossen, dass er überzeugt wurde, dass es doch gut wäre, dem Advokaten die Verteidigung zu überlassen und dass er dann seine Kündigung zurückzog.“ (164) K. begibt sich also zu dem vermeintlichen Haus des Advokaten. Aber auf sein wiederholtes Klingeln an der Tür öffnet ihm ein Unbekannter, der sich ihm als Kaufmann Block vorstellt und von dem er im weiteren Gespräch zu erfahren meint, dass er ebenfalls und zwar schon seit 20 Jahren in einem Prozess steckt. Block hat sein ganzes Leben auf den Prozess ausgerichtet und beschäftigt neben Huld – ohne dessen Wissen – noch eine ganze Reihe anderer Anwälte. Nach Ks Erklärung Huld gegenüber, ihm das Mandat zu entziehen, demonstriert Huld an Block, wie er mit anderen Verhafteten umzugehen pflegt; und Block verhält sich ihm gegenüber bis zum Küssen seiner Stiefel untertänig. K. hält es anscheinend für möglich, ebenso schikaniert zu werden und sich ebenso zu erniedrigen. Ob es bei dem Entzug des Mandats bleibt, wissen wir nicht. Das Kapitel ist unvollendet.

Josef K. phantasiert also wiederholt von sexuellen Übergriffen, von aufgezwungenen Küssen über erpresste Prostitution bis hin zum Missbrauch Minderjähriger. Seine Phantasien schließen Tabubrüche ein und lassen ihn selbst als Beschützer oder ersehnten Retter der Frauen dastehen. Sie sind als unmittelbare Äußerungen von Ks Begierden und Wünschen zu verstehen. Franz Kafka hat die Schriften Sigmund Freuds zwar nicht gründlich studiert (Stach I, 71), aber die Darstellung der Kernthesen der Psychoanalyse nahm selbst in der Tagespresse einen so breiten Raum ein, dass Kafka die Instanzenlehre und die These, Verdrängung führe zur Neurosenbildung, sicher bekannt waren. (vgl. Stach I, 73). Die Psychoanalyse scheint bei der Konzeption des Romans Pate gestanden zu haben. Josef K. gelingt e nicht, die Triebstrebungen seines Es befriedigend und gemeinverträglich umzusetzen, und seine Tagträume sind die Symptome ihrer Verdrängung. Der Kafka-Biograph Reiner Stach hält es für eine der „großen innovativen Leistungen des Prozess-Romans, den Ansturm … unbewusster Impulse und die Verwandlung des Ichs in eine löchrige Kulisse sehr anschaulich und plausibel zu machen“. (Stach I, 72)

Ein hinreichender Grund für seine Vorstellung, er werde am Ende verurteilt und hingerichtet, scheinen die Sexualphantasien Josefs allein aber nicht zu sein. Abgesehen von der Belästigung des Fräulein Bürstner ist niemand zu Schaden gekommen, und niemand – außer Frau Grubach – weiß etwas von diesen Phantasien. Im letzten Drittel des Romans bekommt man einen Einblick in die grundsätzliche Problemlage Ks.

       b. K. und das Über-Ich

Das nächste Kapitel macht klar, dass K. sich vorwirft, nicht die Entschlusskraft und den Mut zu haben, sein Leben in die Hand zu nehmen und sich seine Wünsche zu erfüllen. Von der Suche nach einem Zugang zum Gericht auf den Dachböden der Vorstädte ist K. erschöpft. Seine berufliche Leistungsfähigkeit leidet darunter. Er „brachte manche Stunden nur unter dem notdürftigsten Anschein wirklicher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen, wenn er nicht im Büro war. Er glaubte dann zu sehen, wie der Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Büro kam, sich an seinen Schreibtisch setzte, seine Schreibstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fast befreundet gewesen war, empfing und ihm abspenstig machte, ja vielleicht sogar Fehler entdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden konnte. Wurde er daher einmal, sei es in noch so auszeichnender Weise, zu einem Geschäftsweg oder gar zu einer kleinen Reise beauftragt – solche Aufträge hatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig gehäuft -, dann lag immerhin die Vermutung nahe, dass man ihn für ein Weilchen aus dem Büro entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle oder wenigstens, dass man im Büro ihn für leicht entbehrlich halte. Die meisten dieser Aufträge hätte er ohne Schwierigkeit ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn, wenn seine Befürchtung auch nur im Geringsten begründet war, bedeutete die Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst.“ (194)

Dieser Bericht wird uns durch Spiegelung einer Reflexion Ks, also aus seiner subjektiven Sicht gegeben. Er hadert mit sich, da die Ablenkung und Verunsicherung durch seine Tagträume den von ihm ehrgeizig gesuchten beruflichen Erfolg gefährden. Neben der rigiden Sexualmoral der Frau Grubach gehören auch Wertmaßstäbe beruflicher Leistung zu den von ihm internalisierten gesellschaftlichen Normen, die ihm das Leben schwermachen. Die Strenge der Anforderungen seines Über-Ichs macht es K. unmöglich, soviel Kraft in die Modifikation und Steuerung seiner Triebstrebungen zu investieren, dass diese mit seinen Wertüberzeugungen vereinbar werden. Auch seine Vorgesetzten scheinen der Ansicht zu sein, dass K. sich angesichts seiner Verfassung überfordert. Die Aufträge zu Geschäftswegen oder Dienstreisen dürften sich in jüngster Zeit nicht zufällig gehäuft haben, sondern der Entlastung Ks dienen. Dass man K. und seine Fähigkeiten dennoch schätzt, zeigt der jüngste dieser Aufträge, nämlich „einem italienischen Geschäftsfreund der Bank, der für sie sehr wichtig war und sich zum ersten Mal in dieser Stadt aufhielt, einige Kunstdenkmäler zu zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit gewiss für ehrend gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit großer Anstrengung sein Ansehen in der Bank noch wahren konnte, widerwillig übernahm.“ (194) K. verabredet sich mit dem Gast für 10.00 Uhr am Dom.

Gerade als K. um halb zehn sein Büro verlassen will, bekommt er einen Anruf, nämlich, wie er zu hören meint, von Leni, die ihm einen guten Morgen wünscht und sich nach seinem Befinden erkundigt. K. entschuldigt sich, dass er jetzt nicht telefonieren könne, da er in den Dom müsse. „´Warum denn in den Dom?´“, fragt Leni; und als er versucht, es ihr zu erklären, unterbricht sie ihn plötzlich und sagt: „´Sie hetzen dich.´ Bedauern, das er nicht herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht. Er verabschiedete sich mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den Hörer an seinen Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen, das es nicht mehr hörte: ´Ja, sie hetzen mich.´“ (199)

Pünktlich um zehn ist K. am Dom, sieht sich vergeblich nach dem Italiener um und geht dann hinein. Eine halbe Stunde will er auf den Gast warten, doch der kommt nicht. Trotz der Vormittagszeit ist es des heftigen Regens wegen so dunkel im Dom, dass K. sich nur mit seiner für die Führung gedachten Taschenlampe orientieren kann, nur zufällig auf die gesuchten Kunstwerke stößt und schließlich eine ihm bisher unbekannt Nebenkanzel entdeckt, die mit einer Leuchte für eine Predigt vorbereitet zu sein scheint und die eben ein Geistlicher besteigen will. Er nickt K. zu und dreht, auf der Kanzel angelangt, den Docht der Leuchte noch ein wenig höher. Dennoch beschließt K. jetzt, eine Stunde nach der Ankunft, zu gehen, um nicht noch mehr Zeit in der Bank zu versäumen. (204) Er ist auch schon so schwach auf den Beinen, dass ihm die Entfernungen in der Kirche riesig erscheinen. Als er die Reihen der Bänke schon fast hinter sich hat, ruft ihn plötzlich die „mächtige“ Stimme des Geistlichen zurück: „´Josef K.!´“ K. macht sich klar, dass er zugibt, der Gerufene zu sein und auch folgen zu wollen, wenn er sich umdreht, tut es aber trotzdem und wird vom Geistlichen mit „dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel“ dirigiert. (205) Der Geistliche stellt sich als Gefängniskaplan vor und erklärt K., er habe ihn in den Dom rufen lassen, um mit ihm über seinen Fall zu sprechen. Um den stehe es nämlich schlecht, da man „wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen“ halte (206). Als K. daraufhin klagt, alle hätten Vorurteile gegen ihn, erklärt der Kaplan, er habe keines; und überhaupt verstehe K. den Ablauf des Verfahrens falsch: Das „Urteil kommt nicht mit einem Mal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.“ (207) Das trifft K. hart. Er gibt aber die Hoffnung noch nicht auf. „´Du weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht du dienst´“, wirft er dem Geistlichen vor. Da schreit der Kaplan zu K. hinunter: „´Siehst Du denn nicht zwei Schritte weit?´“ Um ihn wieder versöhnlich zu stimmen, bittet K. den Kaplan, doch von der Kanzel herunter zu kommen und persönlich mit ihm zu sprechen. Er habe Vertrauen zu ihm gefasst.

Der Geistliche aber warnt K., nicht zu vertrauensselig zu sein. Das Gesetz, an dem sich das Gericht orientiere, habe eine Einleitung; und in dieser werde mit einem Gleichnis das Vertrauen auf das Gesetz kritisiert. Dem Bild des Gleichnisses nach befindet sich das Gesetz in einem Raum und wird von einer ganzen Reihe aufeinanderfolgender und immer mächtiger werdender Türhüter bewacht. Jemand, der dem Gesetz vertraut, bittet eines Tages um Einlass, um sein Recht zu bekommen. Der Türhüter antwortet ihm aber, dass er ihn jetzt nicht einlassen könne, später vielleicht. Das versteht der Rechtssuchende nicht, denn das Gesetz sollte doch jedermann stets zugänglich sein, und die Tür zum Gesetz steht ja auch offen. Über Tage und ganze Jahre unternimmt der Rechtssuchende Versuche, aber der Türhüter sagt ihm immer wieder, „dass er ihn noch nicht einlassen könne“. (209) Auch kleine Geschenke und freundliche Worte helfen nicht weiter. Als der Rechtssuchende nun schon sein Lebensende nahen sieht, kommt er auf die Frage, warum denn bisher niemand außer ihm Einlass begehrt habe. Angesichts seines bevorstehenden Todes brüllt der Türhüter den Rechtssuchenden an: „dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ (210)

K. diskutiert mit dem Gefängniskaplan darüber, ob der Türhüter den Rechtssuchenden nicht betrogen habe. Er habe ihm „die erlösende Mitteilung erst dann gemacht, als sie dem Manne nicht mehr helfen konnte“ (210). Aber der Kaplan meint, es sei nicht die Aufgabe des Hüters gewesen, ihn auf eine Möglichkeit zum Eintritt aufmerksam zu machen. Diese letzte Antwort des Hüters gibt einen Hinweis auf die Moral des Gleichnisses. Man muss sich sein Recht holen und darf nicht auf die Fürsorge der Gerichte oder irgendwelcher anderen Instanzen zählen, die etwas von einem verlangen. Der Moment, in dem der Rechtssuchende den Raum des Gesetzes einfach betreten hätte, wäre wohl der richtige gewesen, denn alle erfragten waren es nicht. Man muss sein Leben durch Initiativen gestalten, sonst geht es an einem vorüber oder man meint sogar, man habe es nicht verdient. K. scheitert nicht nur darin, sich seine sexuellen Wünsche zu erfüllen, sondern auch mit seinem beruflichen Ehrgeiz und seinem Wunsch, sich sozial zu etablieren, geht er hilflos um. Wie ein Kind bei seinen Eltern lebt er als Zimmermieter bei Frau Grubach und wird von dieser bemuttert. Gerade seine Verklemmtheit schätzt sie an ihm, seine Genügsamkeit, seinen Fleiß und dass er ihr keine Frauen ins Haus bringt. Beruflich lässt sich K. widerstandslos ausbeuten. Er ist als Prokurist der eigentliche Manager der Bank, bekommt aber obendrein regelmäßig Sonderaufträge und lässt sich von Direktor-Stellvertreter herausfordern. Institutionelle Autoritäten wie Polizisten, Richter, Anwälte oder Direktoren erkennt er an und leistet auch bei absurden Anforderungen nur ansatzweise Widerstand. Er wünscht sich Hilfe insbesondere von den seines Erachtens mächtigen Frauen; und er träumt davon, sich als rettender Held bei ihnen zu revanchieren. Alles das wird ihm in seinen Tagträumen auf der Suche nach seinem Recht vor Augen geführt: Er findet ein Leben in freier Kooperation mit den anderen aber nicht und kommt daher zu der Überzeugung, es nicht verdient zu haben oder zu recht zu scheitern.

       c. Der Prokurist und der Taugenichts

In dem Roman werden unter der Regie eines allwissenden Erzählers, der nur an wenigen Stellen das äußere Geschehen realistisch beschreibt, meist aber die Gedanken der Hauptfigur in erlebter Rede spiegelt oder sogar im inneren Monolog sprachlich ausformuliert wiedergibt, die Selbstvorwürfe, die Verfolgungsängste und schließlich die Selbstaufgabe eines Menschen dargestellt, der nicht in der Lage ist, seine Begierden und Sehnsüchte mit den von ihm anerkannten gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen zu vereinbaren. Der Erzähler lässt seine Hauptperson also ganz überwiegend selbst erleben oder sprechen, d.h. er erzählt meist personal.

An einigen Stellen des Romans ist der Übergang von der auktorialen in die personale Perspektive andeutungsweise mit einer Situationsbeschreibung eingeleitet. Am Morgen des Tages, an dem K. den italienischen Geschäftsmann durch den Dom führen soll, betritt er sehr müde sein Büro, „denn er hatte“, wie der Erzähler erklärt, „die halbe Nacht mit dem Studium einer italienischen Grammatik verbracht, um sich ein wenig vorzubereiten“; er „setzte sich zur Arbeit“, aber „das Fenster, an dem er in der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen pflegte, lockte ihn mehr als der Schreibtisch“. (195f.) Dass er „zu oft“ am Fenster gesessen hat, ist Ks eigener – hier gespiegelter – Gedanke. Die Wertung erfolgt unbegründet und überraschend. Hat K. oft an einem Fenster seines Büros gesessen? Man erinnert sich: An dem Tag, „an dem er zum Advokaten gehen wollte“, um ihm das Mandat zu entziehen, musste K. „sehr lange im Büro bleiben“, denn der Entschluss dazu hatte ihm „viel Arbeitskraft entzogen“ (164). K. beschäftigt sich also in seiner Arbeitszeit mit seinem Prozess und erträumt sich die Szenen seiner Erkundigungen im Büro. Das erklärt, warum K. meint, „zu oft“ am Fenster gesessen zu haben.

Auch schon als K. „fast glücklich darüber, sich eine Zeit lang fast vollständig seiner Sache widmen zu können“, die Bank verlässt, um den Gerichtsmaler Titorelli aufzusuchen (139), hatte er zuvor „(o)hne besonderen Grund, nur um vorläufig noch nicht zum Schreibtisch zurückkehren zu müssen, … das Fenster“ geöffnet, und es „zog durch das Fenster in dessen ganzer Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel in das Zimmer und füllte es mit einem leichten Brandgeruch“ (133). Der Fabrikant, mit dem er gerade über einen Kredit verhandeln soll, fragte K.: „´Sie leiden wohl unter dem Wetter? Sie sehen heute so bedrückt aus.´“ Und K. sagte „´Ja … und griff mit der Hand an die Schläfe´“. (133) „Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen die Tür gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten, dieser aber sagte: ´Ich hätte, Herr Prokurist, noch eine kleine Mitteilung für Sie. …´. Ehe K. Zeit hatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran, klopfte mit dem Fingerknöchel leicht an seine Brust und sagte leise: ´Sie haben einen Prozess, nicht wahr?´“ (134) Kaum hat K. am Fenster gestanden, trüben sich seine Wahrnehmung und Stimmung ein und er beginnt, sein Prozessgeschehen fortzuspinnen. Der Fabrikant hat das Büro vermutlich tatsächlich verlassen, aber im Tagtraum Ks erscheint er als Kundiger des Gerichtswesens und gibt K. den Tipp, sich an Titorelli zu wenden.

Zur Verzweiflung steigern sich Ks Selbstvorwürfe, als er nach dem – vermeintlichen – ersten Besuch beim Advokaten „(a)n einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – …, trotz der frühen Stunde schon äußerst müde, in seinem Büro“ saß und über das Gericht reflektierte; „statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen. – Der Gedanke an den Prozess verließ ihn nicht mehr.“ (113) Die dringende Empfehlung, den Advokaten einzuschalten, hatte er von seine Onkel bekommen, mit dem K. in einem Augenblick zu sprechen meint, als er im Büro aus dem Fenster schaut. Ks Furcht vor dem Eintreffen des Onkels ist hier offenbar die Quelle der Phantasie seines Erscheinens. „Der Onkel musste kommen, das stand bei K. schon etwa einen Monat lang fest. … Gleich nach der Begrüßung – sich in den Fauteuil zu setzen, wozu K. ihn einlud, hatte er keine Zeit – bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer, mit der Weisung, niemanden einzulassen. ´Was habe ich gehört, Josef?´, rief der Onkel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte unter sich, ohne hinzusehen, verschiedene Papiere, um besser zu sitzen. K. schwieg, er wusste, was kommen würde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite … ´Du schaust aus dem Fenster!´, rief der Onkel mit erhobenen Armen, um Himmels willen, Josef, antworte mir doch! Ist es wahr, kann es denn wahr sein?“ (92f.) So unwahrscheinlich wie es ist, dass „Onkel Karl, ein kleiner Grundbesitzer vom Lande“ Unterlagen einer Bank dafür benutzt, es sich auf dem Schreibtisch ihres Prokuristen bequem zu machen (vgl. 92), so unwahrscheinlich sind seine Anwesenheit und seine Frage nach dem Schande bringenden Prozess.

Schon zu Beginn des Romans, unmittelbar vor der Angstphantasie seiner Verhaftung, schaut K. aus dem Fenster und „sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete“. (vgl. 7) Zum Gericht versucht K. erstmals Kontakt aufzunehmen, als er meint, „telefonisch verständigt worden“ zu sein, „dass am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde“ (36). Und zum zweiten Mal versucht er es, weil er nach wochenlangem vergeblichen Warten auf eine Vorladung von sich aus annimmt, „er sei stillschweigend in das gleiche Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen“ (53). Die Tagträumereien Ks setzen also in Augenblicken ein, in denen er sich von alltäglichen Verrichtungen wie dem Frühstücken oder beruflichen Aufgaben löst und seinen Selbstvorwürfen nachhängen kann, wenn er also z.B. in Augenblicken der Erschöpfung aus dem Bürofenster schaut.

Das Fenster als Symbol für den traumhaften Blick in die Einbildung dürfte Kafka aus der 1826 erschienenen Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff bekannt gewesen sein. An dem von ihm besuchten „Staats-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag-Altstadt“ gehörte die deutsche Romantik zur „Kernzone“ des als unumstritten betrachteten Kanons der deutschen Nationalliteratur. (Stach I, 160) Und auch die Vorlesung zur „Geschichte der deutschen Literatur“ von Prof. August Sauer, die Kafka im Sommersemester 1902 an der Prager Universität besuchte (Stach I, 229), hatte höchstwahrscheinlich Eichendorffs „Taugenichts“ zum Gegenstand, denn „Literaturgeschichte betrieb Sauer, als handele es sich um einen Sonderbereich der Volkskunde und als spiegele sich in literarischen Texten die Mentalität deutscher ´Stämme´ und der Charakter der von ihnen bewohnten Landschaften“ (Stach I, 229). Unter diesem Gesichtspunkt aber ist „Aus dem Leben eines Taugenichts“ ein zentraler Text.

Für Kafkas Kenntnis dieses Werkes – und für seine Aversion dagegen – spricht besonders ein Brief an Oskar Pollak aus dem August 1902, der eine Polemik gegen Prof. Sauer im ironisierend übertriebenen Erzählstil Eichendorffs enthält. Reiner Stach hat folgenden Wortlaut rekonstruiert: „Und so will ich Dir zu Nutzen und Frommen die absonderliche Geschichte erzählen, wie weyland [Professor Sauer], den Gott selig habe, von Franz Kafka überwunden wurde. – Lief mir der immer nach, wo ich lag und stand. Wenn ich auf der Weinbergsmauer lag und übers Land sah und vielleicht etwas Liebes schaute oder hörte dort weit hinter den Bergen, so kannst Du sicher sein, dass sich plötzlich jemand mit ziemlichem Geräusch hinter der Mauer erhob, feierlich mäh mäh sagte und gravitätisch seine treffende Ansicht zum Ausdruck brachte, dass die schöne Landschaft entschieden seiner Behandlung bedürftig sei.“ (Stach I, 531)

In der Novelle Eichendorffs ist der sprichwörtliche deutsche Wald die heile Welt, in der der Protagonist sich sein Abenteuer einer Romreise zusammenphantasiert: Ihren Schmähnamen bekommt die Titelfigur zu Beginn der Erzählung von ihrem Vater, der meint, sein Sohn könne sich mittlerweile selbst seinen Unterhalt erarbeiten. Da just Frühlingsanfang ist, beschließt der Held aber sein Glück in der weiten Welt zu suchen. Kaum ist er aufgebrochen, nehmen ihn zwei vornehme Damen auf dem Wagentritt ihrer Kutsche mit auf ein Schloss bei Wien, wo er es sehr bequem hat und sich bald langweilt: Da „geschah es denn, dass einmal, als ich eben zu Hause im Fenster liege und verdrießlich in die leere Luft hinaussehe, die Kammerjungfer … dahergetrippelt kommt“. (Eichendorff, 65) Sie gibt ihm den Auftrag, ihrer – aufgrund einer Verwechslung – von ihm angeschwärmten Herrin Blumen für ein Fest zu bringen. Der Taugenichts versteht dies als Zeichen: „Nun aber hatte ich was zu sinnen und mich zu freuen. Sie dachte ja noch immer an mich und meine Blumen.“ (Eichendorff, 66) Um einen Blick auf das Festgeschehen im Haupthaus werfen zu können, klettert er auf einen Baum und hat bald den Eindruck, „dass die Schöne gar nicht an mich dachte und lange verheiratet ist und dass ich selber ein großer Narr war. … Und so saß ich auf dem Baume droben, wie die Nachteule, in den Ruinen meines Glücks, die ganze Nacht hindurch. – Die kühle Morgenluft weckte mich endlich aus meinen Träumereien. … Da richtete ich mich in meinem Baume auf … Nein, rief ich aus, fort muss ich von hier und immer fort, so weit als der Himmel blau ist. … Dann stieg ich schnell herunter und ging durch den stillen Garten auf meine Wohnung zu. … (M)eine Geige, die ich schon fast ganz vergessen hatte, hing verstaubt an der Wand. Ein Morgenstrahl aber aus dem gegenüberstehenden Fenster fuhr gerade blitzend über die Saiten. Das gab einen rechten Klang in meinem Herzen. Ja, sagt ich, komm nur her, du getreues Instrument! Unser Reich ist nicht von dieser Welt! – Und so … zog ich zwischen den grünen Bergen und an lustigen Städten und Dörfern vorbei gen Italien hinunter.“ (Eichendorff, 70f.)

Auch unterwegs klettert der Taugenichts immer wieder auf Bäume und lässt sich von der Ferne locken: „In dieser Zeit saß ich einmal an einem schwülen Nachmittag im Wipfel eines hohen Baumes, der am Abhang stand, und wiegte mich auf den Ästen langsam über dem stillen tiefen Tale. … Aber ganz von weitem kam der Klang eines Posthorns über die waldigen Gipfel herüber, bald kaum vernehmbar, bald wieder heller und deutlicher.“ (Eichendorff, 97) Sein Ziel nimmt er so wahr, wie er es sich erträumt hat: „Denn von dem prächtigen Rom hatte ich schon zu Hause als Kind viele wunderbare Geschichten gehört, und wenn ich dann an Sonntagnachmittagen vor der Mühle im Grase lag und alles ringsum so stille war, da dachte ich mir Rom wie die ziehenden Wolken über mir, mit wundersamen Bergen und Abgründen am blauen Meer und goldenen Toren und hohen glänzenden Türmen“. Er meint, Rom „in der Ferne“ vor sich zu sehen, als er „endlich auf einem Hügel aus dem Walde heraustrat“, obgleich die „Nacht … schon wieder lange hereingebrochen war“: „Das Meer leuchtete von weitem, der Himmel blitzte und funkelte unübersehbar mit unzähligen Sternen, darunter lag die heilige Stadt, von der man nur einen langen Nebelstreif erkennen konnte, wie ein eingeschlafener Löwe auf der stillen Erde, und Berge standen daneben wie dunkle Riesen, die ihn bewachten.“ Er „ging immer gerade fort und ließ“ sich „nichts anfechten. Denn die Stadt stieg immer deutlicher und prächtiger vor (ihm) herauf, und die hohen Burgen und goldenen Tore und Kuppeln glänzten so herrlich im hellen Mondschein“. (Eichendorff, 103f.)

Als er nun in dem vermeinten Rom hört, dass eine Gräfin aus Deutschland nach ihm gesucht hat, motiviert ihn das zur Rückkehr auf das Schloss bei Wien. Hier erfährt er zu seiner Freude, dass die von ihm Angebetete nicht die verheiratete Gräfin, sondern deren Zofe ist und er sie durchaus heiraten kann. „Mir war so wohl, wie sie so fröhlich und vertraulich neben mir plauderte … ´Siehst du´, sagte sie nach einem Weilchen wieder, ´das weiße Schlösschen, das da drüben im Mondschein glänzt, das hat uns der Graf geschenkt, samt dem Garten und den Weinbergen, da werden wir wohnen. Er wusste es schon lange, dass wir einander gut sind, und ist dir sehr gewogen“. (Eichendorff, 141) Das alles erklärt sie ihm „in einem Sommerhause …, das am Abhange des Gartens stand, mit dem offenen Fenster nach dem weiten, tiefen Tale zu“ (Eichendorff, 139). Und beim Blick in die Ferne macht er den Vorschlag, „gleich nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom“; vorläufig aber ist für ihn „alles, alles gut“. (Eichendorff, 141)

In „Der Prozess“ ist am Ende nicht alles gut, sondern im Gegenteil, Josef K. muss seine Hinrichtung erleben. Der Roman lässt sich durchgehend als Gegenentwurf zu Eichendorffs Novelle verstehen. K. ist kein Taugenichts, sondern macht sich sehr nützlich für seine Bank und die Gesellschaft, kann sich aber gerade deshalb nicht sich selbst zuwenden und seine Begierden und Ängste steuern und sozialverträglich artikulieren. Während der Taugenichts sich beim Blick vom Baum, Berg oder aus dem Fenster exotische Ziele erträumt und an allen Gefahren vorbei als Hans im Glück auf diese zuwandert, steigert sich K. beim Blick aus dem Bürofenster oder in den Treppenhäusern fremder Wohnblöcke in Angstphantasien hinein, orientierungslos und vergeblich auf der Suche nach Amtspersonen zu sein, denen gegenüber er seine Schuld widerlegen könnte. Der rückwärtsgewandten romantisch-ironischen Utopie eines harmonischen Lebens in einer wohlgeordneten vorindustriellen Gesellschaft stellt Kafka die Dystopie des Zusammenbruchs eines Lebens aufgrund von Ausbeutung und der Verinnerlichung eines zwanghaften bürgerlichen Wertesystems im bürokratischen Staat gegenüber. Während der Taugenichts mit seiner Naivität der Schmied seines eigenen Glücks ist, macht Josef K. sich selbst den Prozess. Das wird fast wörtlich vom Gefängniskaplan am Ende seines Gesprächs mit K. formuliert: „´Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.´“ (217) Es quälen ihn zusehends seine Selbstbezichtigungen: „´das Urteil kommt nicht mit einem Mal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über´“. (207) In seiner Identität als Josef K. stirbt er am Ende des Romans – wie er selbst feststellt – „(w)ie ein Hund“, d.h. vollständig von einer überwältigenden „Scham“ unterworfen und gedemütigt (vgl. 223).

       d. Innere und äußere Prozesse

Kafkas Leben hat ihm den Stoff zu diesem Roman geliefert. Auch ihm ist es nicht gelungen, in dem seines Erachtens erforderlichen Maße in der bürgerlichen Gesellschaft Fuß zu fassen. Obwohl der Anblick von Hochzeitspaaren ihn geradezu ekelte, hielt er es für eine Pflicht, eine Familie zu gründen und Kinder großzuziehen. Ja er war sogar überzeugt, dass dies „in dieser unsicheren Welt … das Äußerste“ ist, „das einem Menschen überhaupt gelingen kann“ (zit. nach Safranski, 94). Zur Bestätigung dieser Ansicht zitierte er gerne Flaubert, der beim Anblick einer Familie oft erklärte: ´Sie sind in der Wahrheit´. (ebd.) Obwohl er sich für Ehe und Vaterschaft gänzlich ungeeignet hielt (vgl. Safranski, 90), wünschte er sich ein eigenes Familienleben; und von der beruflich selbstständigen und erfolgreichen Felice Bauer erhoffte er sich eine Hilfestellung beim Einstieg. Er hatte die Hoffnung, sie könne ihn in einen Menschen verwandeln, „der des Selbstverständlichen fähig ist“. (Safranski, 95) Die Ehe sei „die einzige Form“, in der die Beziehung zwischen ihm und Felice erhalten werden könne, und daher wünsche er sich im Grunde „nichts anderes als zu Dir hingerissen“ zu werden. (Safranski, 102) Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Auch eine zweite inoffizielle Verlobung mit Felice löste er bei Beginn seiner Krankheit im September 1917 auf. Dennoch verlobt er sich im Herbst 1919 heimlich mit der acht Jahre jüngeren Julie Wohryzek und schreibt ihr, er halte „Ehe und Kinder für das höchste Erstrebenswerte auf Erden in gewissem Sinne“ (zit. nach Stach III, 302), wenngleich beide darin übereinstimmten, keine Kinder haben zu wollen.

Mit dem Wunsch nach Familie oder auch nur einem Eheleben sind aber seine Leidenschaft der Schriftstellerei und die Lebensweise, die ihm diese ermöglicht, ganz unvereinbar. Das „nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der größte Teil unseres Lebens besteht“, ist ihm unerträglich. (Safranski, 97) Der „Menschenwelt“ stellt Kafka die Welt seines literarischen Arbeitens gegenüber, in der er „die Freiheit“, die ihm in der ersteren fehle, „in glücklichen Zeiten habe“. (zit. nach Safranski, 91) „Nur die Nächte mit Schreiben durchrasen, das will ich“, schreibt er Felice und: „Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes“. (zit. nach Safranski, 99) In dem Brief, in dem er Felice fragt, ob sie seine Frau werden will, warnt er sie, durch eine Verbindung mit ihm würde sie sich die Aussicht verbauen, „einen gesunden lustigen guten Mann zu heiraten“ und „schöne gesunde Kinder zu bekommen“; stattdessen würde sie „einen kranken schwachen, ungeselligen schweigsamen traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, dass er Dich liebt“. (zit. nach Safranski, 98) Über seine erste Verlobung notierte Kafka in seinem Tagebuch, er habe sich „gebunden“ gefühlt „wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich gestellt, und mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen. Und das war meine Verlobung.“ (zit. nach Safranski, 104).

Eine Woche nach der ersten Verlobung mit Felice schreibt er ihrer Freundin Grete Bloch: „Manchmal … weiß ich wirklich nicht, wie ich es verantworten kann, so wie ich bin zu heiraten“; er mache sich Vorwürfe, da er ein Unglück drohen sehe. (zit. nach Safranski, 104f.) Grete Bloch informierte ihre Freundin Felice über die massiven Bedenken Kafkas, und diese bittet ihn um eine Aussprache, die mit ihrer Schwester Erna und Grete als Beistand am 11. Juli 1914 im Hotel Askanischer Hof in Berlin stattfindet und nach nur sechs Wochen zur Auflösung der Verlobung führt. In seinem Tagebuch notiert Kafka: „Der Gerichtshof im Hotel. … Das Gesicht F(elices). Sie fährt mit den Händen in die Haare, wischt die Nase mit der Hand, gähnt. Rafft sich plötzlich auf und sagt gut Durchdachtes, lange Bewahrtes, Feindseliges.“ (zit. nach Safranski, 105) Unter dem Datum des 29. Juli, also 18 Tage später, taucht im Tagebuch zum ersten Mal der Name „Josef K.“ auf, des Mannes, der sich selbst den Prozess macht. (Safranski, 107)

Anzunehmen, der „´Gerichtshof im Hotel´“ erfahre „im Roman eine absurde Zuspitzung“ (so Safranski, 107), würde das Erleben Josef Ks zu direkt in Beziehung zum Stoff des Romans setzen. Kafka ist von Seiten Felices und überraschend mit den Vorwürfen der Unaufrichtigkeit und der Täuschung konfrontiert worden. Josef K. aber steigert sich allmählich in Selbstvorwürfe hinein, deren Inhalt ihm gar nicht näher bewusst wird. Vermutlich ahnt er, dass Fräulein Bürstner das Fräulein Englisch in ihr Zimmer aufnimmt, um sich gegen ihn abzusichern, aber K. behauptet, er wolle die Bürstner gar nicht bedrängen, und sieht einen berechtigten Vorwurf nur darin, dass er „sich selbst“ hätte „verbieten“ müssen, ihr „Zimmer zu betreten“ (vgl. 30). K. macht sich selbst den Prozess und imaginiert die äußeren Bedrohungen seinen Ängsten entsprechend. „Der Prozess“ könnte also vielmehr die seelische Verfassung Kafkas nach dem Gericht im Askanischen Hof dramatisieren, nämlich dass sein schlechtes Gewissen ihn verfolgt; und mit dem Schluss des Romans, mit der Hinrichtung Ks läge eine reumütige und beschwichtigende Selbstverurteilung Kafkas vor, wie er sie auch in Briefen an Felice formuliert hat: „Ich hab kein Gedächtnis …, weder für Erlebtes noch für Gehörtes, weder für Menschen noch für Vorgänge … Ich kann nicht denken, in meinem Denken stoße ich immerfort an Grenzen … Ich kann auch nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht einmal reden“. (zit. nach Safranski, 97)

Das von Kafka zur Darstellung der Angstphantasie Ks gewählte Bild einer willkürlichen Verhaftung wirkt so martialisch, dass man meinen könnte, damit sei eine Kritik an obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen in Österreich-Ungarn verbunden. Tatsächlich hat Franz Kafka die Verhaftung eines Josef K. erlebt. Ein Josef Kafka betrat am 29. September 1899 die Arbeiterunfallversicherung, um einen Antrag auf finanzielle Unterstützung zu stellen. Als er nach kurzer Prüfung seines Falles abgewiesen wird, beschimpft Josef K. die Beamten, wirft Stühle durch das Büro und zieht ein Messer, als man ihn gewaltsam hinausbefördern will. Die herbeigerufene Polizei verhaftet K. schließlich, und die Prager Zeitungen berichteten darüber. (vgl. Stach II, 536) Kafka dürfte mit dem Kürzel „K.“ aber kaum auf diesen – bei der beabsichtigten Publikation des Romans mindestens 15 Jahre zurückliegenden – Fall angespielt haben, sondern davon ausgegangen sein, dass das Namenskürzel als Anspielung auf ihn selbst verstanden wird.

Überraschender Weise gibt es sogar ein historisches Vorbild für die willkürliche Verhaftung eines unschuldigen jungen Mannes. Der berühmte Kriminalist und ehemalige Professor für Strafrecht an der deutschen Universität in Prag Dr. Hans Groß hat seinen Sohn, den Psychoanalytiker Dr. Otto Groß in Berlin festnehmen lassen, um ihn in eine österreichische Irrenanstalt einweisen zu lassen. Unter dem Einfluss von Morphium und Kokain war Otto Groß zusehends verwahrlost, und seine Verbindungen in die Berliner Halbwelt zehrten die hohe väterliche Unterstützung auf. (Jung, 100) Am 9. November 1913 mittags wurde Otto Groß in seiner Wilmersdorfer Wohnung von drei Männern, die sich als Kriminalbeamte ausgewiesen haben sollen, besucht, festgehalten und schließlich als ´lästiger Ausländer´ unter Begleitung durch einen Polizisten nach Österreich abgeschoben. Hier soll Groß allerdings nicht in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden sein, sondern sich auf Anraten eines befreundeten Arztes freiwillig in ein Sanatorium begeben haben. (Jung, 101)

Kafka muss von dieser Affäre gewusst haben, denn ihm war Hans Groß aus dem Jurastudium an der Prager Universität bekannt und über den Vorfall wurde auch in der Prager Presse berichtet. Kafka war Leser der expressionistischen Zeitschrift ´Aktion´, in der einige Beiträge von Otto Groß veröffentlicht wurden und die eine Sondernummer dem Skandal um dessen Verhaftung und Ausweisung widmete. (Jung , 27) Später, im Juli 1917 lernt Kafka auf einer Bahnfahrt von Budapest nach Prag Otto Groß auch persönlich kennen, trifft ihn auf einer Gesellschaft bei Max Brod wieder und lässt sich von ihm den Plan zu einer literarischen Zeitschrift erklären. (Jung, 30) Neben den drei Männern, die die Verhaftung vollziehen, ist eine weitere Entsprechung zu dem Roman, dass in „Der Prozess“ K. seine „Legitimationspapiere“ nicht finden kann (11) und Otto Groß seine Ausweispapiere nicht besitzt, weil sein Vater sie mit der Begründung unter Verschluss hält, dass es für den Sohn günstiger sei, wenn sich die Polizei im Falle irgendwelcher Nachfragen an ihn wende. (Jung, 28) Der Vater also hatte Otto G. verleumdet, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde dieser eines Tages verhaftet.

Eine Entsprechung des phantastischen Geschehens im Roman zur historischen Realität besteht auch für die Figur des Malers Titorelli, dessen Wohnung von Mädchen belagert wird, die es gewohnt sind, Zugang zu erhalten und ihn zu necken, indem sie sich z.B. unter seinem Bett verstecken. (vgl. 140f.) Im böhmischen Krummau und heutigen Cesky Krumlov bewohnte der bekannte österreichische Maler Egon Schiele ein kleines barockes Gartenhaus als Sommeratelier. Mit den Krummauern verstand sich Schiele nach eigenem Bekunden gut; und besonders die Kinder wurden von dem exotischen Künstler aus Wien angezogen und besuchten ihn im Atelier. Er portraitierte einige von ihnen; und weil er auch im Garten stets ein langes Malerhemd trug, wurde er von ihnen ´Herrgottsmaler´ genannt. Im Frühjahr 1911 wurde er beschuldigt, von der Nachbarstochter Liesl Woitsch Aktbilder angefertigt zu haben. Schiele zog in das österreichische Provinzdorf Neulengbach um, wo er ebenfalls ein Haus mit Garten bezog. (Neugebauer, 44f.) Noch immer gingen Kinder bei ihm frei ein und aus, und auch hier zog er mit seinem Lebenswandel argwöhnische Blicke auf sich. Am 11. April 1912 wurde ihm von der Polizei eine Vorladung übergeben, und es wurden 125 seiner erotischen Zeichnungen beschlagnahmt. Die Anklage lautete auf Entführung und Schändung der 13-jährigen Tatjana von Mossig, die sich von Schiele, wie er erklärte, nicht nach Hause schicken ließ, sondern nach Benachrichtigung vom Vater abgeholt werden musste (Neugebauer, 45ff.). In der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht wurden die das Mädchen betreffenden Anklagepunkte zwar fallen gelassen, aber Schiele wurde eines zu freizügigen Umgangs mit den Kindern wegen nach 21-tägiger Untersuchungshaft zu drei Tagen Arrest verurteilt. (Neugebauer, 47) Weil die Kinder zu Schieles Räumen mit den Nacktzeichnungen Zugang hatten, sah das Gericht den Tatbestand der ´gröblichen und öffentlichen Verletzung der Sittlichkeit oder Schamhaftigkeit´ erfüllt. (Neugebauer, 48) Nach Verbüßung der Haft zeichnete Schiele keine nackten Kinder mehr.

All dieses Material mit den verschiedenen Zusammenhängen seiner Herkunft ändert nichts daran, dass die Thematik des Romans die Möglichkeit der autonomen Lebensgestaltung ist. Die direkten Bezüge zur Biographie Kafkas bei der Interpretation seiner Werke gehen oft am Text vorbei. Bis zur Auseinandersetzung um seine Verlobung mit der Schustertochter Julie Wohryzek hatte Franz Kafka ein auskömmliches Verhältnis zu seinem Vater. Und die österreich-ungarische Justiz war für ihn als erfolgreichen Juristen kein Irrgarten mit unsichtbaren Autoritäten. Franz Kafka hatte wohl depressive Phasen, aber im Allgemeinen war er ein bei seinen Kollegen und Freunden sehr geschätzter Träumer, der gerne ins Kino und zum schwerelosen Schweben im Wasser ins Schwimmbad und manchmal sogar zu Prostituierten ging. Er ist mit keinem seiner Protagonisten identisch, sondern hat mit ihnen Aspekte seines Lebens dramatisiert.

Literaturverzeichnis

Brod, Max: Nachwort des Herausgebers, Nachwort zur ersten Ausgabe. In: Franz Kafka – Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod, Bd. 2, FfM 1976 (1. Aufl. 1935), S. 223-229

BVerfGE: Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes in Strafsachen werden wie üblich zitiert durch Angabe der Nummer des Bandes der Entscheidungssammlung, des Jahres, in dem sie getroffen wurde, der Seite, auf der ihr Text beginnt, und der Seite der Stelle, auf die Bezug genommen wird.

Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Joseph von Eichendorff – Gesammelte Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Hans Jürgen Meinerts, Gütersloh 1958, Bd. 2, S. 49-141

Hermsdorf, Klaus: Franz Kafka „Hochlöblicher Verwaltungsausschuss“ – Amtliche Schriften. FfM 1991

Jung, Christina u. Thomas Anz: Der Fall Otto Gross – Eine Pressekampagne deutscher Intellektueller im Winter 1913/14. Marburg 2002

Kafka, Franz: (Die Werke werden in den entsprechenden Kapiteln ohne Titelangabe nach folgenden Ausgaben zitiert:)

       Das Urteil. In: Franz Kafka – Die großen Erzählungen, hrsg. v. Peter Höfle, FfM 2004, S. 7-20        (Erstveröffentlichung 1913)

     Die Verwandlung. In: Franz Kafka – Die großen Erzählungen, hrsg. v. Peter Höfle, FfM 2004, S. 21-81 (Erstveröffentlichung 1915)

     Der Prozess. Hrsg. v. Johannes Diekhans, Paderborn 2001 (Erstveröffentlichung 1925)

     In der Strafkolonie. In: Franz Kafka – Die großen Erzählungen, hrsg. v. Peter Höfle, FfM 2004, S. 84-116  (Erstveröffentlichung 1919)

Neugebauer, Roman: Egon Schiele – Sein Leben in Wort und Bild. Vitalis-Verlag, Prag 2017

Niehaus, Michael: Erzähltheorie und Erzähltechniken zur Einführung. Hamburg 2021

Nietzsche, Friedrich: Argumente gegen Vergeltung und Abschreckung. In: Norbert Hoerster (Hg.): Recht und Moral – Texte zur Rechtsphilosophie, München 1977, S. 193-195

Pius XII.: Die Schuldvergeltung als metaphysisches Strafziel. In: Norbert Hoerster (Hg.): Recht und Moral – Texte zur Rechtsphilosophie, München 1977, S. 185-191

Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Norbert Hoerster (Hg.): Recht und Moral – Texte zur Rechtsphilosophie, München 1977, S. 42-45

Safranski, Rüdiger: Kafka – Um sein Leben schreiben. München 2024

Stach, Reiner: Kafka (Die Biographie wird ohne Nennung der Einzeltitel mit Bandangabe zitiert.)

I.   Die frühen Jahre. FfM 2014

II. Die Jahre der Entscheidung. FfM 2002

III. Die Jahre der Erkenntnis. FfM 2008

 

 

Bild: gemeinfrei

Last known photograph of Franz Kafka, alternative version of File:Kafka.jpg. Most likely taken in 1923.

between 1923 and 1924 |

Franz Kafka: Pictures of a Life by Klaus Wagenbach (1984), p. 209sourced to Klaus Wagenbach Archiv, Berlin

https://kafkamuseum.cz/en/photogallery/Anonymous (see File:Kafka.jpg)

Author: Anonymous (see File:Kafka.jpg)