Oberflächen sind ein heikles Thema. Entweder verleiten sie zu Oberflächlichkeit, als ob das Sichtbare schon alles wäre, oder sie suggerieren eine geheimnisvolle Tiefe und Bedeutung, wo sich darunter tatsächlich gar nichts verbirgt. Silke Scheuermann hat es in ihrem neuen Roman mit diesem Spannungsverhältnis von Oberflächen und Geheimnisproduktion zu tun, denn sie begibt sich darin in die Welt der Mode, der Models und der inszenierten Kunst, die auf dem nie ganz zu begreifenden Verhältnis von Zeichen und Bedeutung beruht. Die titelgebende „Shanghai Performance“ ist das merkwürdige Projekt der berühmten Performancekünstlerin Margot Wincraft. Dazu versammelt sie ein paar Dutzend nackter Mädchen in einem Gewächshaus, das sie in einer Industriebrache am Ufer des Huangpu-Flusses mitten in Shanghai aufbauen lässt. Angetan mit nichts als Langhaarperücken und hochhackigen Schuhen sollen die Mädchen sich dort auf einem riesigen, eiförmig aufgeschichteten Erdhaufen räkeln und dabei so tun, als wäre das ganz normal und mit leeren Augen ins Leere starren.

Denn so ist die Kunst – und wer das ernst nimmt, hat vermutlich ein Problem. Silke Scheuermann hat sich diese Inszenierung nicht selbst ausgedacht, sondern sie von der italienischen Performance-Künstlerin Vanessa Beecroft übernommen. Ansonsten dürfte ihre Heldin als Prototyp einer egoistischen Karrieristin allerdings eine eigenständige Romanfigur sein. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive ihrer Assistentin Luisa, die ihre Chefin so sehr bewundert, dass sie auch schon eine Dissertation über sie schrieb, und bereit ist, ihr Leben ganz in den Dienst der berühmten Künstlerin zu stellen. Luisa ist jedoch in einer schwierigen Situation: Ihr Freund hat sich von ihr getrennt, sie muss ihr Leben neu ordnen und gerät nun in China in einen Strudel ungewöhnlicher Ereignisse, die schließlich dazu führen, dass sie von Margot loskommt und ihr bloßes Assistentinnendasein hinter sich lässt.

Zunächst aber quält sie sich und die Leser mit den Launen der Chefin, mit allerlei Geheimnishuberei und mit dem schier endlosen Bericht von einem Casting, bei dem Margot ihre Models auswählt, ohne dabei schon zu wissen, worauf das Ganze eigentlich hinauslaufen soll. Dass sie sich auf das wenig standesgemäße Projekt einer kaum bekannten chinesischen Galerie einließ – ja auf China überhaupt, das als Kunstraum angeblich schon gar nicht mehr angesagt ist – hatte, wie sich bald herausstellt, keine künstlerischen, sondern familiäre Gründe, was bei einer nur ihrem Ruhm und ihrer Geltungssucht lebenden Person schon seltsame genug ist. Margot offenbart ihrer Assistentin, dass sie während ihrer Studienzeit in den USA eine Tochter von einem chinesischen Liebhaber bekam, die sie aber karrierehalber weggab und nie wieder gesehen hat. Jetzt möchte sie sie finden. Nur weil sie, warum auch immer, glaubt, die Tochter würde sich als Model bewerben, hat sie sich auf die „Shanghai Performance“ eingelassen. Damit bricht gewissermaßen die Wirklichkeit in ihre Kunstwelt ein. Die Begegnung mit der Tochter, zu der es tatsächlich kommt, führt in die Katastrophe. Die schönen Oberflächen zerbrechen; plötzlich geht es um existentielle Fragen, um Schuld und Verantwortung, und wie sich zeigt, ist die Oberflächenexpertin darauf nicht vorbereitet.

Shanghai ist nicht ganz zufällig der Ort des Geschehens, das sich mehr und mehr zur Tragödie entwickelt. Shanghai ist selbst eine Hochglanz-Oberfläche und steht zeichenhaft für radikalen Wandel. Es ist eine Stadt, in der man, wenn man morgens aus dem Fenster schaut, das Gefühl hat, das Hochhaus gegenüber wäre gestern noch nicht da gewesen. „Keine Stadt der Welt“, heißt es im Roman, „ließ Besucher so tief, so detailliert in die Zukunft blicken, in eine völlig leere, ereignislose Zukunft.“ Silke Scheuermann war mehrfach dort, um für diesen Roman zu recherchieren und hat die passende Kulisse für die tiefe Einsamkeit und Verlorenheit gefunden, mit der ihre Protagonistinnen zu kämpfen haben. Luisa beginnt ein Liebesabenteuer, weiß dabei aber genau, dass dies mehr zu ihrer Unterhaltung geschieht, als dass sie sich wirklich darauf einlassen möchte. Das ist ihr Problem. Auch sie muss lernen, dass die Welt nicht nur aus Inszenierungen besteht, um schließlich doch zu ihrem Freund in Deutschland, der mit gutem Grund nichts mehr von ihr wissen wollte, zurückzufinden.

Silke Scheuermann bei einer Lesung in Stuttgart am 4. April 2007

Silke Scheuermann bei einer Lesung in Stuttgart am 4. April 2007

Künstlerroman, Liebesroman, Emanzipationsgeschichte, Familiengeschichte und Reisebericht: All das ist „Shanghai Performance“. Das ist eine Menge, doch es gelingt Silke Scheuermann in ihrer schlichten, niemals glänzen wollenden Sprache und trotz Dialogen, die manchmal so hölzern wirken wie aus einer Fernsehsoap, die Fäden der Erzählung in der Hand zu behalten. Nicht ganz überzeugend ist die gewählte Perspektive der Ich-Erzählerin Luisa, deren resümierender, erinnerungsschwerer Tonfall gelegentlich ins Literaturinstitutshafte hinübergleitet. Wenn sie die eigene Erzählposition deutlich machen möchte, kommen Sätze dabei heraus wie dieser: „Heute denke ich noch oft an die Zeit in jenem Sommer, immer noch sind alle Figuren überscharf in meinem Gedächtnis lebendig, angestrahlt vom Licht eines ewigen Theaters.“ Nun ja. Trotzdem ist „Shanghai Performance“ lesenswert. Die zähe Langeweile, die der erste Teil verbreitet, hat mit der Natur der Sache und der Hohlheit der Kunst zu tun, die da geschildert wird. Dann aber nimmt die Geschichte Tempo auf und man bleibt dabei bis zum traurigen, tragischen Ende in diesem Stück „um ewige Schuld aus Unachtsamkeit“, wie die Erzählerin pathetisch aber zutreffend formuliert.

Text: Jörg Magenau

Text erschienen in Süddeutsche Zeitung

Silke Scheuermann hat sich diese Inszenierung nicht selbst ausgedacht, sondern sie von der italienischen Performance-Künstlerin Vanessa Beecroft. Das Bild oben zeigt einen Ausschnitt aus der Publikation zur Ausstellung Kunsthalle Bielefeld, 9.5. – 22.8.2004: Vanessa Beecroft: Fotografien, Filme, Zeichnungen.


Silke Scheuermann: Shanghai Performance

Roman. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2011,

312 Seiten, 19,95 Euro


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